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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Über die Demokratie in der Türkei

Orhan Pamuk hat 2010 einen Essay über »Hüzün – Das Istan­bul-Gefühl« geschrie­ben (https://www.sueddeutsche.de/kultur/essay-von-pamuk-huezuen-das-istanbul-gefuehl-1.894778-0#seite-2). Er beschreibt es als das von Mil­lio­nen Men­schen zugleich emp­fun­de­ne »schwar­ze Gefühl«, eine spe­zi­el­le Form der Trau­rig­keit. Hüzün ist genau­so wie Tri­stesse ein tref­fen­der Begriff, um nicht vom als Krank­heit emp­fun­de­nen Lei­den eines Ein­zel­nen zu spre­chen, son­dern von mil­lio­nen­fach erleb­ter Kul­tur. Mein Ein­druck einer vier­wö­chi­gen Rei­se durch die win­ter­kal­te Tür­kei zum Jah­res­wech­sel 22/​23 ist, dass die­se Trau­rig­keit ange­sichts der als alter­na­tiv­los emp­fun­de­nen isla­mi­sti­schen Poli­tik der Erdo­gan-AKP inzwi­schen die gan­ze Tür­kei erfasst hat.

Seit mei­ner letz­ten Rei­se vor dem Putsch 2016 hat sich eini­ges ver­än­dert. Die Land­flucht in die gro­ßen Städ­te hat sich noch ver­stärkt. Und es wird gebaut, was der Beton hergibt.

Was auf­fällt, ist eine opti­sche Ärm­lich­keit der Mas­se. Chic, ele­gant geklei­det ist auf der einst­mals mon­dä­nen Ein­kaufs­stra­ße Istik­lal Cadessi in Istan­bul nie­mand mehr. Das Kopf­tuch, der boden­lan­ge Man­tel, die Lat­schen sind Stan­dard und Kampf­an­sa­ge an die natür­li­che Schön­heit und Mani­fest eines trau­ri­gen Daseins. Die frü­her hier fla­nie­ren­den fei­nen Istan­bu­ler Damen oder der Herr in Man­tel und Anzug sind ver­schwun­den. Wie über­all ist Funk­ti­ons­klei­dung ange­sagt, aber über­wie­gend ärm­li­ches Dorf­out­fit oder sel­te­ner das ande­re Extrem, schwar­zes Gothik-Out­fit bei jun­gen Frau­en. Was sich in der Klei­dung aus­drückt, ist das Selbst­bild einer Gesell­schaft, deren Iden­ti­tät kei­ne bür­ger­li­che mehr zu sein scheint. Aber damit ist die Tür­kei nicht allein.

Hüzün ist das aktu­el­le Tür­kei-Gefühl. Von poli­ti­schem Auf­bruch oder einer Auf­leh­nung gegen den Des­po­tis­mus der Erdo­gan-Herr­schaft ist trotz all­ge­mei­ner Unzu­frie­den­heit wenig zu spüren.

Am 29. Okto­ber 1923 rief Musta­fa Kemal Pascha, genannt Ata­türk, die tür­ki­sche Repu­blik aus. 100 Jah­re spä­ter will Tayyip Recep Erdo­gan das »Jahr­hun­dert der Tür­ki­ye« aus­ru­fen. Dafür müss­te er im Juni 2023 wie­der­ge­wählt wer­den. »Die­ser Jah­res­tag bedeu­tet für uns weit mehr als ein Kalen­der­wech­sel, er ist der Beginn des zwei­ten Jahr­hun­derts unse­res neu­en Staa­tes. Des­halb haben wir es das ›Jahr­hun­dert der Tür­ki­ye‹ genannt. Ein Jahr­hun­dert, das unse­ren drit­ten Staat, den wir in den letz­ten tau­send Jah­ren auf ana­to­li­schem Boden gegrün­det haben, auf ein neu­es Niveau heben wird«, sag­te Erdo­gan in einer Anspra­che nach der Kabi­netts­sit­zung am 24. Okto­ber 2022. Und er tut alles, um die­sen Tag als Staats­prä­si­dent bege­hen zu können.

Erdo­gan regiert mit sei­ner Ak-Par­tei seit 2002 unun­ter­bro­chen, zuerst als Mini­ster­prä­si­dent, ab 2014 als Staats­prä­si­dent, und wan­del­te das par­la­men­ta­ri­sche System 2017 durch eine Volks­ab­stim­mung (51,4 Pro­zent Ja-Stim­men) wäh­rend des nach dem Putsch ver­häng­ten Aus­nah­me­zu­stands in ein Prä­si­di­al­sy­stem mit umfang­rei­chen Rech­ten für ihn selbst um. Er regiert seit den letz­ten Wah­len mit Unter­stüt­zung der rechts­ra­di­ka­len MHP, den Grau­en Wöl­fen. Erdo­gan über­stand 2014 eine Kor­rup­ti­ons­af­fä­re und 2016 einen Mili­tär­putsch, von dem behaup­tet wird, sein ehe­ma­li­ger poli­ti­scher Mit­strei­ter, der Pre­di­ger Fetul­lah Gülen und sei­ne Orga­ni­sa­ti­on sei­en die Draht­zie­her gewesen.

Seit­dem führt er einen teils stil­len, teils offe­nen Bür­ger­krieg von oben gegen jede Form von Oppo­si­ti­on. Der offe­ne Krieg gilt dem Kampf gegen den »Ter­ror«. Ter­ro­ri­sten sind die »Fetös«, die Anhän­ger der Gülen-Bewe­gung, die aus den Ämtern ver­jagt, zu Zehn­tau­sen­den ins Gefäng­nis gewor­fen wur­den, es sind die Kur­den, deren Ver­tre­ter dif­fa­miert und trotz Par­la­ments­man­dat im Gefäng­nis sit­zen, Ter­ro­ri­sten sind nach die­ser Defi­ni­ti­on auch die Ver­tre­ter der Gezi-Park-Bewe­gung wie Osman Kava­la, der zu lebens­lan­ger Haft ver­ur­teilt wur­de, oder Jour­na­li­sten wie Can Dündar, die selbst im deut­schen Exil kei­ne Ruhe vor Ver­fol­gung haben.

Jede Form von Kri­tik wird juri­stisch ver­folgt, die Medi­en sind unter Kon­trol­le, bei Bedarf wer­den das Inter­net oder die digi­ta­len Medi­en abge­schal­tet, wie nach dem Bom­ben­an­schlag in Istan­bul schon mal ausprobiert.

Erdo­gan selbst ist dau­er­prä­sent. Jeden Tag tritt er in einer ande­ren Stadt auf und ver­kün­det neue Wohl­ta­ten. Die Reden wer­den aus­führ­lich in den Nach­rich­ten doku­men­tiert. In den letz­ten Wochen ver­kün­de­te er die Erhö­hung des Min­dest­lohns und eine Ren­ten­an­pas­sung um 30 Pro­zent, die Ver­kür­zung der Lebens­ar­beits­zeit, neue Sub­ven­tio­nen und Kre­di­te für die Bau­ern, mach­te Zusa­gen für die kul­tu­rel­le Iden­ti­tät der Roma, sei­ne Frau eröff­net einen Kon­gress für Frau­en­rech­te und ver­spricht mil­li­ar­den­schwe­re Förderung.

Die Oppo­si­ti­on kommt vor, hat aber mate­ri­ell nichts zu bie­ten. Das Oppo­si­ti­ons­bünd­nis besteht aus 6 Par­tei­en: der CHP, Iyi Par­ti, Saa­det Par­ti­si, DEVA Par­ti­si, Gele­cek Par­ti­si und Demo­krat Par­ti. Die pro-kur­di­sche HDP wird raus­ge­hal­ten, obwohl es nach der CHP die zweit­größ­te Oppo­si­ti­ons­par­tei ist. Fach­leu­te hal­ten aller­dings die HDP, die bei den letz­ten Par­la­ments­wah­len über 10 Pro­zent der Stim­men bekam, für den »Königs­ma­cher«.

Der »6er Tisch« kann oder will sich – obwohl alle mög­li­chen Kan­di­da­ten in den Umfra­gen mehr Zustim­mung erfah­ren als der Amts­in­ha­ber – (noch) nicht auf einen gemein­sa­men Gegen­kan­di­da­ten ver­stän­di­gen. Ent­we­der weil sie sich nicht eini­gen kön­nen oder sie der AKP so wenig Zeit wie mög­lich geben wol­len, den Kan­di­da­ten zu denun­zie­ren oder anzu­grei­fen. Die Ver­ur­tei­lung des Istan­bu­ler Bür­ger­mei­sters zu Gefäng­nis und Poli­tik­ver­bot wegen angeb­li­cher Belei­di­gung war eine War­nung, die offen­bar Wir­kung gezeigt hat.

Erdo­gan hat ange­deu­tet, die Wah­len von Mit­te Juni um einen Monat, auf den 14. Mai, vor­zu­zie­hen, weil im Juni schon Feri­en­zeit sei und vie­le des­halb nicht wäh­len könn­ten. Aus die­sem Grund will er auch Ende Janu­ar nach Ber­lin kom­men, um dort sei­ne »Brü­der und Schwe­stern« auf die Wahl ein­zu­stim­men. Was ande­re AKP-Abge­ord­ne­te im Moment bereits in deut­schen Moscheen flei­ßig tun, denn Almanya ist einer der größ­ten Wahl­be­zir­ke der Türkei.

Der stil­le Bür­ger­krieg ist aber vor allem der Kampf gegen die säku­la­ren und bür­ger­li­chen Struk­tu­ren wie sie in der kema­li­sti­schen Repu­blik vor­herr­schen. Zum einen wer­den seit Jah­ren die staat­li­chen Ein­rich­tun­gen wie Mili­tär, Poli­zei, Justiz, Ver­wal­tung mit der AKP nahe­ste­hen­dem Per­so­nal besetzt. Staat­li­che Schu­len, Uni­ver­si­tä­ten und Kul­tur­ein­rich­tun­gen wer­den reli­gi­ös umge­wid­met. Bür­ger­li­che, säku­la­re Eltern ver­su­chen ihre Kin­der in Pri­vat­schu­len unter­zu­brin­gen und sie im Aus­land stu­die­ren zu las­sen. Die Ver­drän­gung des Bür­ger­li­chen durch reli­giö­se Vor­mund­schaft führt auch dazu, dass die Eli­ten das Land ver­las­sen. Tau­sen­de Ärz­te, Inge­nieu­re, IT-Fach­leu­te sind auf dem Weg nach Euro­pa oder Übersee.

Erdo­gan ver­kün­det auf einer sei­ner täg­li­chen Kund­ge­bun­gen die Erhö­hung des Min­dest­lohns von 6000 auf 8500 YTL, also von aktu­ell ca. € 300 auf 425 bei einer Arbeits­zeit von 45 Stun­den wöchent­lich. Bis auf weni­ge Aus­nah­men ver­die­nen die Men­schen wenig mehr als den Min­dest­lohn. Ein Kell­ner, eine Apo­the­ken­hel­fe­rin, ein Sicher­heits­be­auf­trag­ter in einem Kran­ken­haus bekom­men den Min­dest­lohn, alle arbei­ten an sechs Tagen die Woche, alle über 50 Stun­den. Gewerk­schaf­ten oder Kon­trol­len ste­hen auf dem Papier.

Bei einer Infla­ti­ons­ra­te von gefühlt von über 100 Pro­zent (offi­zi­ell 85 Pro­zent) sind die ver­ord­ne­ten Ein­kom­mens­er­hö­hun­gen ein Trop­fen auf den hei­ßen Stein. Über­le­ben kön­nen die Men­schen nur in Groß­fa­mi­li­en. Selb­stän­dig sein, allein leben oder allein­er­zie­hend sein, ist vor allem für jun­ge Leu­te öko­no­misch fak­tisch unmög­lich. Und so stärkt die Wirt­schafts­kri­se auch die patri­ar­cha­len Struk­tu­ren von »Vaters Staat«.

Erdo­gans Finanz­po­li­tik wird von allen Fach­leu­ten als islam-ideo­lo­gisch cha­rak­te­ri­siert. Zin­sen sei­en des Teu­fels, und Zen­tral­ban­ker wech­selt er schnel­ler und häu­fi­ger aus als der eng­li­sche König Hein­rich VIII. wei­land sei­ne Frau­en. Eine unge­brem­ste Infla­ti­on ist die Fol­ge und viel­leicht sogar beab­sich­tigt, denn sie führt zur syste­ma­ti­schen Ver­ar­mung des Mit­tel­stands, also der Grup­pe, die bis­her die kema­li­sti­sche Repu­blik verteidigen.

Die Tür­kei ist als Indu­strie­stand­ort ein Zulie­fe­rer, eine Werk­bank. Es gibt bis­her kei­ne Pro­duk­te, die genu­in tür­ki­sche Ent­wick­lun­gen sind und die die Welt braucht. Die gesam­te Tech­nik wird bis­her impor­tiert oder im Auf­trag mon­tiert. Das bedeu­tet eine extre­me Abhän­gig­keit von Impor­ten und Devi­sen, ein abstür­zen­der Lira-Wech­sel­kurs (34 Pro­zent in einem Jahr gegen­über dem Euro) ver­teu­ert das Leben dra­ma­tisch. Die neue E-Auto­fa­brik Togg und die Rüstungs­in­du­strie, orga­ni­siert von Erdo­gans Schwie­ger­sohn, sind die Aus­nah­men von der Regel. Auch sonst gehört der Nepo­tis­mus, die Ver­sor­gung der eige­nen Kli­en­tel mit Staats­auf­trä­gen, zum Standard.

Ins­ge­samt hat sich der Regie­rungs­stil der Tür­kei unter Erdo­gan zu einer Art isla­mi­schem Des­po­tis­mus ent­wickelt, die in Form und Wir­kung bereits vor fast 200 Jah­ren von dem Begrün­der der ver­glei­chen­den Poli­tik­wis­sen­schaft, dem Fran­zo­sen Alexis de Toc­que­ville (1805-1859) in sei­nem Werk »Über die Demo­kra­tie in Ame­ri­ka« (1832) als »Tyran­nei der Mehr­heit« tref­fend beschrie­ben wur­de. Toc­que­ville erklärt den Des­po­tis­mus als »Vor­mund­schafts­ge­walt«, der die Men­schen ernied­rigt, ohne sie zu quä­len. »Auf die­se Wei­se macht sie den Gebrauch des frei­en Wil­lens immer über­flüs­si­ger. Und sel­te­ner, beschränkt die Wil­lens­be­tä­ti­gung auf ein immer klei­ne­res Feld und ent­wöhnt jeden Bür­ger all­mäh­lich der frei­en Selbst­be­stim­mung. Auf all das hat die Gleich­heit die Men­schen vor­be­rei­tet: hat sie bereit gemacht, es zu erdul­den, ja häu­fig sogar für eine Wohl­tat zu halten.«

Das beschreibt das aktu­el­le »Hüzün«-Gefühl in der Tür­kei recht gut und macht auch für die anste­hen­den Wah­len kei­ne Hoff­nung, und auch wenn die Men­schen unzu­frie­den sind und schimp­fen, scheint kei­ne Wen­de in Sicht. »Reli­gi­on ist da stark, wo Demo­kra­tie schwach ist«, und: »Ein Volk rebel­liert, wenn sich sei­ne Situa­ti­on ver­bes­sert – nicht, wenn sie sich ver­schlech­tert.« So jeden­falls lau­tet das Toc­que­ville-Para­do­xon und zu befürch­ten ist, dass auch die­ses Zitat von Toc­que­ville in die­sem Som­mer auf die trau­ri­gen Tür­ken zutref­fen wird: »Sie trö­sten sich mit dem Gedan­ken, dass sie selbst ihren Vor­mund gewählt haben.«