Orhan Pamuk hat 2010 einen Essay über »Hüzün – Das Istanbul-Gefühl« geschrieben (https://www.sueddeutsche.de/kultur/essay-von-pamuk-huezuen-das-istanbul-gefuehl-1.894778-0#seite-2). Er beschreibt es als das von Millionen Menschen zugleich empfundene »schwarze Gefühl«, eine spezielle Form der Traurigkeit. Hüzün ist genauso wie Tristesse ein treffender Begriff, um nicht vom als Krankheit empfundenen Leiden eines Einzelnen zu sprechen, sondern von millionenfach erlebter Kultur. Mein Eindruck einer vierwöchigen Reise durch die winterkalte Türkei zum Jahreswechsel 22/23 ist, dass diese Traurigkeit angesichts der als alternativlos empfundenen islamistischen Politik der Erdogan-AKP inzwischen die ganze Türkei erfasst hat.
Seit meiner letzten Reise vor dem Putsch 2016 hat sich einiges verändert. Die Landflucht in die großen Städte hat sich noch verstärkt. Und es wird gebaut, was der Beton hergibt.
Was auffällt, ist eine optische Ärmlichkeit der Masse. Chic, elegant gekleidet ist auf der einstmals mondänen Einkaufsstraße Istiklal Cadessi in Istanbul niemand mehr. Das Kopftuch, der bodenlange Mantel, die Latschen sind Standard und Kampfansage an die natürliche Schönheit und Manifest eines traurigen Daseins. Die früher hier flanierenden feinen Istanbuler Damen oder der Herr in Mantel und Anzug sind verschwunden. Wie überall ist Funktionskleidung angesagt, aber überwiegend ärmliches Dorfoutfit oder seltener das andere Extrem, schwarzes Gothik-Outfit bei jungen Frauen. Was sich in der Kleidung ausdrückt, ist das Selbstbild einer Gesellschaft, deren Identität keine bürgerliche mehr zu sein scheint. Aber damit ist die Türkei nicht allein.
Hüzün ist das aktuelle Türkei-Gefühl. Von politischem Aufbruch oder einer Auflehnung gegen den Despotismus der Erdogan-Herrschaft ist trotz allgemeiner Unzufriedenheit wenig zu spüren.
Am 29. Oktober 1923 rief Mustafa Kemal Pascha, genannt Atatürk, die türkische Republik aus. 100 Jahre später will Tayyip Recep Erdogan das »Jahrhundert der Türkiye« ausrufen. Dafür müsste er im Juni 2023 wiedergewählt werden. »Dieser Jahrestag bedeutet für uns weit mehr als ein Kalenderwechsel, er ist der Beginn des zweiten Jahrhunderts unseres neuen Staates. Deshalb haben wir es das ›Jahrhundert der Türkiye‹ genannt. Ein Jahrhundert, das unseren dritten Staat, den wir in den letzten tausend Jahren auf anatolischem Boden gegründet haben, auf ein neues Niveau heben wird«, sagte Erdogan in einer Ansprache nach der Kabinettssitzung am 24. Oktober 2022. Und er tut alles, um diesen Tag als Staatspräsident begehen zu können.
Erdogan regiert mit seiner Ak-Partei seit 2002 ununterbrochen, zuerst als Ministerpräsident, ab 2014 als Staatspräsident, und wandelte das parlamentarische System 2017 durch eine Volksabstimmung (51,4 Prozent Ja-Stimmen) während des nach dem Putsch verhängten Ausnahmezustands in ein Präsidialsystem mit umfangreichen Rechten für ihn selbst um. Er regiert seit den letzten Wahlen mit Unterstützung der rechtsradikalen MHP, den Grauen Wölfen. Erdogan überstand 2014 eine Korruptionsaffäre und 2016 einen Militärputsch, von dem behauptet wird, sein ehemaliger politischer Mitstreiter, der Prediger Fetullah Gülen und seine Organisation seien die Drahtzieher gewesen.
Seitdem führt er einen teils stillen, teils offenen Bürgerkrieg von oben gegen jede Form von Opposition. Der offene Krieg gilt dem Kampf gegen den »Terror«. Terroristen sind die »Fetös«, die Anhänger der Gülen-Bewegung, die aus den Ämtern verjagt, zu Zehntausenden ins Gefängnis geworfen wurden, es sind die Kurden, deren Vertreter diffamiert und trotz Parlamentsmandat im Gefängnis sitzen, Terroristen sind nach dieser Definition auch die Vertreter der Gezi-Park-Bewegung wie Osman Kavala, der zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, oder Journalisten wie Can Dündar, die selbst im deutschen Exil keine Ruhe vor Verfolgung haben.
Jede Form von Kritik wird juristisch verfolgt, die Medien sind unter Kontrolle, bei Bedarf werden das Internet oder die digitalen Medien abgeschaltet, wie nach dem Bombenanschlag in Istanbul schon mal ausprobiert.
Erdogan selbst ist dauerpräsent. Jeden Tag tritt er in einer anderen Stadt auf und verkündet neue Wohltaten. Die Reden werden ausführlich in den Nachrichten dokumentiert. In den letzten Wochen verkündete er die Erhöhung des Mindestlohns und eine Rentenanpassung um 30 Prozent, die Verkürzung der Lebensarbeitszeit, neue Subventionen und Kredite für die Bauern, machte Zusagen für die kulturelle Identität der Roma, seine Frau eröffnet einen Kongress für Frauenrechte und verspricht milliardenschwere Förderung.
Die Opposition kommt vor, hat aber materiell nichts zu bieten. Das Oppositionsbündnis besteht aus 6 Parteien: der CHP, Iyi Parti, Saadet Partisi, DEVA Partisi, Gelecek Partisi und Demokrat Parti. Die pro-kurdische HDP wird rausgehalten, obwohl es nach der CHP die zweitgrößte Oppositionspartei ist. Fachleute halten allerdings die HDP, die bei den letzten Parlamentswahlen über 10 Prozent der Stimmen bekam, für den »Königsmacher«.
Der »6er Tisch« kann oder will sich – obwohl alle möglichen Kandidaten in den Umfragen mehr Zustimmung erfahren als der Amtsinhaber – (noch) nicht auf einen gemeinsamen Gegenkandidaten verständigen. Entweder weil sie sich nicht einigen können oder sie der AKP so wenig Zeit wie möglich geben wollen, den Kandidaten zu denunzieren oder anzugreifen. Die Verurteilung des Istanbuler Bürgermeisters zu Gefängnis und Politikverbot wegen angeblicher Beleidigung war eine Warnung, die offenbar Wirkung gezeigt hat.
Erdogan hat angedeutet, die Wahlen von Mitte Juni um einen Monat, auf den 14. Mai, vorzuziehen, weil im Juni schon Ferienzeit sei und viele deshalb nicht wählen könnten. Aus diesem Grund will er auch Ende Januar nach Berlin kommen, um dort seine »Brüder und Schwestern« auf die Wahl einzustimmen. Was andere AKP-Abgeordnete im Moment bereits in deutschen Moscheen fleißig tun, denn Almanya ist einer der größten Wahlbezirke der Türkei.
Der stille Bürgerkrieg ist aber vor allem der Kampf gegen die säkularen und bürgerlichen Strukturen wie sie in der kemalistischen Republik vorherrschen. Zum einen werden seit Jahren die staatlichen Einrichtungen wie Militär, Polizei, Justiz, Verwaltung mit der AKP nahestehendem Personal besetzt. Staatliche Schulen, Universitäten und Kultureinrichtungen werden religiös umgewidmet. Bürgerliche, säkulare Eltern versuchen ihre Kinder in Privatschulen unterzubringen und sie im Ausland studieren zu lassen. Die Verdrängung des Bürgerlichen durch religiöse Vormundschaft führt auch dazu, dass die Eliten das Land verlassen. Tausende Ärzte, Ingenieure, IT-Fachleute sind auf dem Weg nach Europa oder Übersee.
Erdogan verkündet auf einer seiner täglichen Kundgebungen die Erhöhung des Mindestlohns von 6000 auf 8500 YTL, also von aktuell ca. € 300 auf 425 bei einer Arbeitszeit von 45 Stunden wöchentlich. Bis auf wenige Ausnahmen verdienen die Menschen wenig mehr als den Mindestlohn. Ein Kellner, eine Apothekenhelferin, ein Sicherheitsbeauftragter in einem Krankenhaus bekommen den Mindestlohn, alle arbeiten an sechs Tagen die Woche, alle über 50 Stunden. Gewerkschaften oder Kontrollen stehen auf dem Papier.
Bei einer Inflationsrate von gefühlt von über 100 Prozent (offiziell 85 Prozent) sind die verordneten Einkommenserhöhungen ein Tropfen auf den heißen Stein. Überleben können die Menschen nur in Großfamilien. Selbständig sein, allein leben oder alleinerziehend sein, ist vor allem für junge Leute ökonomisch faktisch unmöglich. Und so stärkt die Wirtschaftskrise auch die patriarchalen Strukturen von »Vaters Staat«.
Erdogans Finanzpolitik wird von allen Fachleuten als islam-ideologisch charakterisiert. Zinsen seien des Teufels, und Zentralbanker wechselt er schneller und häufiger aus als der englische König Heinrich VIII. weiland seine Frauen. Eine ungebremste Inflation ist die Folge und vielleicht sogar beabsichtigt, denn sie führt zur systematischen Verarmung des Mittelstands, also der Gruppe, die bisher die kemalistische Republik verteidigen.
Die Türkei ist als Industriestandort ein Zulieferer, eine Werkbank. Es gibt bisher keine Produkte, die genuin türkische Entwicklungen sind und die die Welt braucht. Die gesamte Technik wird bisher importiert oder im Auftrag montiert. Das bedeutet eine extreme Abhängigkeit von Importen und Devisen, ein abstürzender Lira-Wechselkurs (34 Prozent in einem Jahr gegenüber dem Euro) verteuert das Leben dramatisch. Die neue E-Autofabrik Togg und die Rüstungsindustrie, organisiert von Erdogans Schwiegersohn, sind die Ausnahmen von der Regel. Auch sonst gehört der Nepotismus, die Versorgung der eigenen Klientel mit Staatsaufträgen, zum Standard.
Insgesamt hat sich der Regierungsstil der Türkei unter Erdogan zu einer Art islamischem Despotismus entwickelt, die in Form und Wirkung bereits vor fast 200 Jahren von dem Begründer der vergleichenden Politikwissenschaft, dem Franzosen Alexis de Tocqueville (1805-1859) in seinem Werk »Über die Demokratie in Amerika« (1832) als »Tyrannei der Mehrheit« treffend beschrieben wurde. Tocqueville erklärt den Despotismus als »Vormundschaftsgewalt«, der die Menschen erniedrigt, ohne sie zu quälen. »Auf diese Weise macht sie den Gebrauch des freien Willens immer überflüssiger. Und seltener, beschränkt die Willensbetätigung auf ein immer kleineres Feld und entwöhnt jeden Bürger allmählich der freien Selbstbestimmung. Auf all das hat die Gleichheit die Menschen vorbereitet: hat sie bereit gemacht, es zu erdulden, ja häufig sogar für eine Wohltat zu halten.«
Das beschreibt das aktuelle »Hüzün«-Gefühl in der Türkei recht gut und macht auch für die anstehenden Wahlen keine Hoffnung, und auch wenn die Menschen unzufrieden sind und schimpfen, scheint keine Wende in Sicht. »Religion ist da stark, wo Demokratie schwach ist«, und: »Ein Volk rebelliert, wenn sich seine Situation verbessert – nicht, wenn sie sich verschlechtert.« So jedenfalls lautet das Tocqueville-Paradoxon und zu befürchten ist, dass auch dieses Zitat von Tocqueville in diesem Sommer auf die traurigen Türken zutreffen wird: »Sie trösten sich mit dem Gedanken, dass sie selbst ihren Vormund gewählt haben.«