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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Tunnelblick aufs Gefängnis

Nur weni­ge Men­schen haben eine genaue Vor­stel­lung davon, was es bedeu­tet, im Gefäng­nis zu sein. Das ist einer­seits gut so. Ande­rer­seits birgt es die Gefahr, dass sich der Blick auf das Straf­voll­zugs­sy­stem und damit auf die Situa­ti­on von gefan­ge­nen Men­schen ver­stellt. Die­se Gefahr droht vor allem durch Nega­tiv­be­rich­te über zu lasche Haft­be­din­gun­gen und den angeb­li­chen Luxus, den Gefan­ge­ne in deut­schen Haft­an­stal­ten genie­ßen. Es fal­len Begrif­fe wie »Kuschel­knast« oder »Hotel­voll­zug« (so titel­te etwa die BILD-Zei­tung am 27.02.2023: »Dar­um floh der Ver­sace-Rocker aus dem ›Kuschel-Knast‹«). Im glei­chen Zuge wird das Gefäng­nis­per­so­nal oft zu »Schlie­ßern« abgewertet.

Die­se Debat­ten­kul­tur ist nicht neu. Schon bei Ein­füh­rung des Bun­des­straf­voll­zugs­ge­set­zes im Jahr 1977 wur­den die­se kri­ti­schen Stim­men laut. Sie wer­den wohl auch in Zukunft nicht ver­stum­men. Umso wich­ti­ger ist es, bei der Beur­tei­lung des Straf­voll­zugs­sy­stems und der Situa­ti­on der Gefan­ge­nen genau hin­zu­schau­en und ein­zel­ne Aspek­te zu unter­schei­den. Dazu gehört es auch, sich selbst­kri­tisch zu hin­ter­fra­gen, wie es um die eige­ne Wahr­neh­mung von Men­schen in Haft steht. Wor­auf ist der Blick gerich­tet: Auf ihre Taten, also die kri­mi­nel­le Ver­gan­gen­heit? Auf ihre Situa­ti­on in der Haft, also das Leben in einer »tota­len Insti­tu­ti­on«? Oder auf die Reso­zia­li­sie­rung und damit auf die Zeit nach der Inhaf­tie­rung? Je nach Fra­ge­stel­lung unter­schei­det sich die Beur­tei­lung. So wird eine Sozi­al­ar­bei­te­rin vor allem den Aspekt der Reso­zia­li­sie­rung von Gefan­ge­nen sehen, wohin­ge­gen ein Poli­zist wohl eher die kri­mi­nel­le Ver­gan­gen­heit des Gefan­ge­nen im Blick haben wird. Der Gefan­ge­ne selbst hin­ge­gen wird sich vor allem Gedan­ken um sei­ne aktu­el­le Situa­ti­on machen und daher das Anstalts­le­ben im Fokus haben.

Für die Beur­tei­lung des Straf­voll­zugs spielt aber auch das Grund­ge­setz eine Rol­le. Gefan­ge­ne blei­ben Staats­bür­ge­rin­nen und Staats­bür­ger, auch in Haft. Dar­an ändert der Umstand nichts, dass man ihnen hin­ter dem Gefäng­nis­tor eine Gefan­ge­nen­buch­num­mer zuschreibt und sie somit dem Straf­voll­zugs­sy­stem unter­wirft. Arti­kel 1 Absatz 3 des Grund­ge­set­zes bin­det alle staat­li­che Gewalt, also auch die Voll­zugs­be­hör­den, an die Garan­tien der Grund­rech­te. Das bedeu­tet: Auch Gefan­ge­ne haben Grund­rech­te. Ihre Wür­de darf nicht ange­ta­stet wer­den. Es besteht sogar ein grund­recht­lich geschütz­ter Reso­zia­li­sie­rungs­an­spruch (abge­lei­tet aus Arti­kel 2 Absatz 1 in Ver­bin­dung mit Arti­kel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes).

Zuge­ge­ben: Die Wirk­lich­keit ist bis­wei­len eine ande­re. Die Grund­rech­te von Gefan­ge­nen wer­den stra­pa­ziert – auch über das erfor­der­li­che Maß hin­aus. Das geht los bei zu klei­nen Haft­räu­men, die eher an mit­tel­al­ter­li­che Ver­hält­nis­se als an den gern beschwo­re­nen Reso­zia­li­sie­rungs­voll­zug den­ken las­sen. Wei­ter geht es mit man­gel­haf­ten Bil­dungs- und Frei­zeit­an­ge­bo­ten auf­grund von Per­so­nal­knapp­heit und unzu­rei­chen­den zu Außen­kon­takt­mög­lich­kei­ten, die vor allem wegen feh­len­der Digi­tal­an­ge­bo­te unzeit­ge­mäß und nur ein­ge­schränkt ver­füg­bar sind. Auch die­se Rea­li­tät beein­flusst die Beur­tei­lung des Straf­voll­zugs. Dosto­jew­ski nann­te Gefäng­nis­se die »Grad­mes­ser der Zivilisation«.

Am Ende steht die Erkennt­nis, dass man aus ganz unter­schied­li­cher Per­spek­ti­ve auf das Straf­voll­zugs­sy­stem und auf Men­schen in Haft blicken kann. Ob man dabei unter einem Tun­nel­blick lei­det, der von rea­li­täts­fer­nen und vor­ur­teils­be­haf­te­ten Medi­en­be­rich­ten geprägt ist, wird deut­lich, wenn man sei­ne Vor­stel­lun­gen an den Garan­tien der Grund­rech­te misst und sich bewusst macht, dass gefan­ge­ne Men­schen eben­falls Bür­ger mit Grund­rech­ten sind. Im moder­nen Straf­voll­zug geht es nicht um Ver­gel­tung und Süh­ne. Zu Recht! Es geht nicht um Bestra­fung, son­dern um Reso­zia­li­sie­rung. So for­dert es bereits das Grund­ge­setz – auch wenn die­se For­de­rung nicht frei von Wider­spruch ist, wenn man bedenkt, dass Men­schen in Unfrei­heit auf ein Leben in Frei­heit vor­be­rei­tet wer­den sollen.

Anmer­kung der Redak­ti­on: In Deutsch­land gibt es (Stand März 2022) 156 Justiz­voll­zugs­an­stal­ten, die mei­sten davon inter­es­san­ter­wei­se in Bay­ern (36) und Baden-Würt­tem­berg (34), mit ins­ge­samt etwa 42.500 (männ­li­chen und weib­li­chen) Straf­ge­fan­ge­nen bzw. »Sicher­heits­ver­wahr­ten«.