Nur wenige Menschen haben eine genaue Vorstellung davon, was es bedeutet, im Gefängnis zu sein. Das ist einerseits gut so. Andererseits birgt es die Gefahr, dass sich der Blick auf das Strafvollzugssystem und damit auf die Situation von gefangenen Menschen verstellt. Diese Gefahr droht vor allem durch Negativberichte über zu lasche Haftbedingungen und den angeblichen Luxus, den Gefangene in deutschen Haftanstalten genießen. Es fallen Begriffe wie »Kuschelknast« oder »Hotelvollzug« (so titelte etwa die BILD-Zeitung am 27.02.2023: »Darum floh der Versace-Rocker aus dem ›Kuschel-Knast‹«). Im gleichen Zuge wird das Gefängnispersonal oft zu »Schließern« abgewertet.
Diese Debattenkultur ist nicht neu. Schon bei Einführung des Bundesstrafvollzugsgesetzes im Jahr 1977 wurden diese kritischen Stimmen laut. Sie werden wohl auch in Zukunft nicht verstummen. Umso wichtiger ist es, bei der Beurteilung des Strafvollzugssystems und der Situation der Gefangenen genau hinzuschauen und einzelne Aspekte zu unterscheiden. Dazu gehört es auch, sich selbstkritisch zu hinterfragen, wie es um die eigene Wahrnehmung von Menschen in Haft steht. Worauf ist der Blick gerichtet: Auf ihre Taten, also die kriminelle Vergangenheit? Auf ihre Situation in der Haft, also das Leben in einer »totalen Institution«? Oder auf die Resozialisierung und damit auf die Zeit nach der Inhaftierung? Je nach Fragestellung unterscheidet sich die Beurteilung. So wird eine Sozialarbeiterin vor allem den Aspekt der Resozialisierung von Gefangenen sehen, wohingegen ein Polizist wohl eher die kriminelle Vergangenheit des Gefangenen im Blick haben wird. Der Gefangene selbst hingegen wird sich vor allem Gedanken um seine aktuelle Situation machen und daher das Anstaltsleben im Fokus haben.
Für die Beurteilung des Strafvollzugs spielt aber auch das Grundgesetz eine Rolle. Gefangene bleiben Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, auch in Haft. Daran ändert der Umstand nichts, dass man ihnen hinter dem Gefängnistor eine Gefangenenbuchnummer zuschreibt und sie somit dem Strafvollzugssystem unterwirft. Artikel 1 Absatz 3 des Grundgesetzes bindet alle staatliche Gewalt, also auch die Vollzugsbehörden, an die Garantien der Grundrechte. Das bedeutet: Auch Gefangene haben Grundrechte. Ihre Würde darf nicht angetastet werden. Es besteht sogar ein grundrechtlich geschützter Resozialisierungsanspruch (abgeleitet aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes).
Zugegeben: Die Wirklichkeit ist bisweilen eine andere. Die Grundrechte von Gefangenen werden strapaziert – auch über das erforderliche Maß hinaus. Das geht los bei zu kleinen Hafträumen, die eher an mittelalterliche Verhältnisse als an den gern beschworenen Resozialisierungsvollzug denken lassen. Weiter geht es mit mangelhaften Bildungs- und Freizeitangeboten aufgrund von Personalknappheit und unzureichenden zu Außenkontaktmöglichkeiten, die vor allem wegen fehlender Digitalangebote unzeitgemäß und nur eingeschränkt verfügbar sind. Auch diese Realität beeinflusst die Beurteilung des Strafvollzugs. Dostojewski nannte Gefängnisse die »Gradmesser der Zivilisation«.
Am Ende steht die Erkenntnis, dass man aus ganz unterschiedlicher Perspektive auf das Strafvollzugssystem und auf Menschen in Haft blicken kann. Ob man dabei unter einem Tunnelblick leidet, der von realitätsfernen und vorurteilsbehafteten Medienberichten geprägt ist, wird deutlich, wenn man seine Vorstellungen an den Garantien der Grundrechte misst und sich bewusst macht, dass gefangene Menschen ebenfalls Bürger mit Grundrechten sind. Im modernen Strafvollzug geht es nicht um Vergeltung und Sühne. Zu Recht! Es geht nicht um Bestrafung, sondern um Resozialisierung. So fordert es bereits das Grundgesetz – auch wenn diese Forderung nicht frei von Widerspruch ist, wenn man bedenkt, dass Menschen in Unfreiheit auf ein Leben in Freiheit vorbereitet werden sollen.
Anmerkung der Redaktion: In Deutschland gibt es (Stand März 2022) 156 Justizvollzugsanstalten, die meisten davon interessanterweise in Bayern (36) und Baden-Württemberg (34), mit insgesamt etwa 42.500 (männlichen und weiblichen) Strafgefangenen bzw. »Sicherheitsverwahrten«.