Von dem britischen Schriftsteller James Joyce ist überliefert, dass er nicht gerade ein einfacher Zeitgenosse gewesen ist, der im zwischenmenschlichen Diskurs nur allzu oft die Gegenposition einnahm und dabei immer wieder auch gern die eigene Position lustvoll hin und her wechselte. Für seine Zeitgenossen dürfte jenes Persönlichkeitsmerkmal im Kontakt mit ihm herausfordernd und mühsam gewesen sein, gleichwohl ist es naheliegend, dass es seine Erzählkunst maßgeblich geprägt haben dürfte, konnte er doch so auch seine Romanfiguren mit überraschenden und für den Leser inspirierenden, nicht selten aber auch mühsamen Wendungen zeichnen. Wie hätte Joyce uns auch sonst mit Leopold Bloom einen endlos langen Tag durch Dublin schicken können?
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine tobt seit nunmehr fast zehn Monaten unerbittlich und ein Ende scheint derzeit noch immer in weiter Ferne zu liegen. In einem Twitter-Video hat sich nun der ukrainische Botschafter in Deutschland, Oleksij Makejew, zu Wort gemeldet und von weiteren Zusagen für deutsche Waffenlieferungen berichtet. In der Berliner Zeitung erschien hierzu folgendes Zitat von ihm: »Im direkten Gespräch wurden uns mehr Waffen und weitere Munition zugesichert. Welche, werden wir zu gegebener Zeit gemeinsam bekanntgeben«, und weiter heißt es: »Wir wünschen uns und ganz Europa auch Frieden. Der Frieden fällt aber nicht vom Himmel. Vom Himmel fallen nur russische Marschflugkörper. Und töten uns, Ukrainer. Der Frieden in Europa muss erkämpft werden. Von uns, Ukrainer«, so Makejew. An der Front würden deshalb dringend weitere Flugabwehrsysteme, Panzerhaubitzen, Geparde und Munition gebraucht, »außerdem sind wir weiter im Gespräch über die Lieferung von Marder- und Leopard-Panzern. Die Entscheidung darüber liegt aber bei der Bundesregierung«, so der Botschafter. Die Bundesregierung habe ihm zugesichert, dass es ohne Zustimmung der Ukrainer nicht zu Verhandlungen mit Russland kommen werde: »Mir wurde klar zugesichert, dass es keine Verhandlungen mit (dem russischen Präsidenten Wladimir) Putin gibt, wenn wir das nicht wollen.« Momentan brauche die Ukraine keine Vermittler, sondern Verbündete. »Denn Frieden in der Ukraine kann nicht herbeiverhandelt werden, sondern muss erkämpft werden. Wenn der Bundeskanzler sagt, der Ukraine werde geholfen, solange sie uns braucht, dann heißt das, bis der letzte russische Soldat von unserem Boden verschwunden ist, einschließlich Donezk, Luhansk und der Krim, dass Reparationen gezahlt und Kriegsverbrecher verurteilt worden sind«, so Makejew in unmissverständlicher Art und Weise.
Der Krieg in der Ukraine hat seit zehn Monaten unsagbares Leid über die Menschen in der Ukraine gebracht und auch über die russischen Familien, deren Söhne diesem Krieg bisher zum Opfer gefallen sind. Und ein Ende ist leider noch immer nicht in Sicht. Bei allem Verständnis für den Wunsch der Ukraine, eine scheinbar bedingungslose Unterstützung von Deutschland zu erhalten, stellt sich doch die Frage nach den Grenzen jener Kriegs-Loyalität, die nicht vollkommen entgrenzt sein kann und auch nicht sein darf.
Illoyales Verhalten hat gemeinhin keinen guten Ruf und gilt schon gar nicht als tugendhaft, aber loyales Verhalten muss deshalb nicht immer zwangsläufig erstrebenswerter sein. Der Wirtschaftsjournalist Rainer Hank warnt hier gar vor einer Loyalitätsfalle, in die jemand hineingeraten kann, der allzu sehr die Verbundenheit in der Gemeinschaft sucht. Die Menschen bräuchten überschaubare Gruppen, um emotional zu verwurzeln, weshalb es natürlich sei, sich jenen Gruppen gegenüber auch loyal zu verhalten. Daraus könne aber schnell ein Konformitätsdruck entstehen, der Gruppenzwang nach sich zöge und dagegen Aufbegehrende als unbequem oder gar verräterisch erscheinen lasse, so Hank. Ein konstruktiv illoyales Verhalten zeugt indes auch von dem Mut, nein zu sagen, um damit dem enttäuschten Gegenpart zu einem Perspektivenwechsel verhelfen zu können, der für den langfristigen Verlauf eines Konfliktgeschehens sehr bedeutsam sein kann. Auch wenn das nur allzu oft erst in einer reflexiven Betrachtung verstanden und gar eingestanden wird.
Die bisherigen Waffenlieferungen an die Ukraine werden in der medialen Berichterstattung häufig als unzureichend desavouiert, obwohl die auf der Homepage der Bundesregierung öffentlich zugängliche Liste der »Militärischen Unterstützungsleistungen für die Ukraine« etwas ganz anderes verdeutlicht. Bundeskanzler Scholz ist deshalb zu wünschen, dass er dem ukrainischen Botschafter neben der berechtigten Solidarität und Unterstützung auch weiterhin deren notwendige Begrenztheit aufzeigt, damit ein ernsthafter Beginn von diplomatischen Bemühungen um ein Ende des Ukrainekrieges nicht in unermesslich weite Zeiträume ausufert. Wohin so etwas führen kann, weiß jeder Leser, der je tatsächlich den tapferen Versuch gewagt hat, mit Leopold Bloom einen Tag lang Dublin zu erkunden. Ein einziger Tag kann dabei zur erbarmungslosen Ewigkeit werden, oder eben auch nicht, wenn er ein vorzeitiges Ende findet. Gegenüber den Herren Bloom und Makejew muss Illoyalität nicht zwangsläufig eine Schande sein, manchmal ist sie einfach auch nur eine Tugend!