Die seit 2014 sich entwickelnden militärischen Auseinandersetzungen in der Ukraine steigerten sich im Februar 2022 zum Angriffskrieg Russlands. Wenige Tage danach beschwor Bundeskanzler Olaf Scholz daraufhin die Zeitenwende. Ein gewaltiges Hochrüstungspaket wurde durchgesetzt. Was war das für eine Wende der Zeiten – eine vom Vorkrieg in den großen Krieg! Wer hat dem Kanzler dies eingeredet?
Im Koalitionsvertrag der Ampel war noch klar ausgesagt worden: Keine Waffenlieferungen in Spannungsgebiete. Und nun die Wende. Es werden Waffen noch und noch in die Ukraine geliefert. Der Kanzler habe, so sagt man, 2022 von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht, den Koalitionsvertrag zu brechen. Wer gab die neue Richtlinie tatsächlich vor? In Militärfragen ist es in Deutschland immer das Militär selbst, das die Richtung angibt. Die »Verteidigungspolitischen Richtlinien« werden bekanntlich von Militärs geschrieben, vom Verteidigungsministerium veröffentlicht und im Kabinett zur Kenntnis genommen. Im November 2023 wurden sie neu gefasst, Verteidigungsminister Pistorius begleitete sie mit dem Satz: »Deutschland muss als bevölkerungsreichstes und wirtschaftlich starkes Land in der Mitte Europas das Rückgrat der Abschreckung und kollektiven Verteidigung Europas sein.«
Schon am Tag des Angriffs Russlands auf die Ukraine hat der oberste Heeresgeneral, Alfons Mais, verkündet, die Bundeswehr stehe »blank« da. Alle Medien brachten diese Behauptung groß heraus und drei Tage später beschloss der Bundestag, die Bundeswehr nicht mehr blank dastehen zu lassen: Eine große Mehrheit bewilligte einen 100-Milliarden-Sonderfonds und vieles mehr für die Bundeswehr. Und schon im November 2020, so fand Lühr Henken vom Kasseler Friedensratschlag heraus und belegte es mit genauen Quellenangaben, hatte Heeresinspekteur Alfons Mais klar gemacht: Für das deutsche Heer würde die Anwendung der Nato-Verpflichtungen bedeuten, dass nach zehn Jahren Aufrüstung 2031 die Verdoppelung seiner Schlagkraft hergestellt ist. Der Heeresinspekteur ergänzte seine Erklärung mit einem klaren Ziel: »Die eingesetzten Truppen müssen durchsetzungsfähig, kriegsbereit und siegesfähig sein.« Es komme auf siegreiche »Landes- und Bündnisverteidigung« an, was so viel heißt, wie einen Landkrieg mit Russland »erfolgreich« bestehen zu können. Denn, so Mais schon Ende 2020, »einsatzbereite Kräfte allein genügen nicht: Wir müssen einstecken, wieder aufstehen, gegenhalten und letztendlich gewinnen können!« Und: »Nochmal: Ziel des Heeres ist Kriegstüchtigkeit.«
Da ist es schon, das Wort, das der Minister Pistorius seit einem halben Jahr eifrig repetiert – es ist kein neuer Ansatz, die politische Forderung nach »Kriegstüchtigkeit« nach innen und nach außen, sie wurde lange und sorgfältig vorbereitet.
Von der entstandenen Situation kann nur die Rüstungsindustrie profitieren. Wir alle bezahlen für diese Kanonen-statt-Butter-Politik, die längst im Gange war, bevor Russland die Ukraine angriff. Um Frieden und soziale Sicherheit zu erreichen, müssen Männer wie Pistorius und Mais gebremst werden.
Wie kam es zu der heutigen Situation? Sie ist nicht zuletzt das Ergebnis eines Bruchs des Vertrages zum Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes. Er verlangt von den Signatarstaaten, eine Friedensordnung aufzubauen, in der die Sicherheitsinteressen »eines jeden«, also auch der Sowjetunion, respektiert werden. Die Entscheidung der Nato, sich dennoch nach Osten auszudehnen, wurde schon von Michael Gorbatschow scharf verurteilt. Wladimir Putins Aussagen über die russische Bereitschaft zu Gesprächen wurden nicht ernst genommen. Heute lautet das herrschende Narrativ, Russland exerziere in der Ukraine einen imperialistischen Angriffskrieg aus Machtinteressen, und wenn wir es nicht zurückschlagen, steht es bald vor Berlin oder gar am Rhein.
Wer das behauptet, hat wohl nie auf die Rüstungsvergleichszahlen von Nato und Russland geschaut. Diese hat Lühr Henken recherchiert. Gegenüber der Nato ist Russland in einer schwächeren Position. Russland gab 2014, dem Jahr der Krise um die Krim und den Krieg im Russland-nahen Donbas, knapp 85 Milliarden Dollar für Rüstung aus, im letzten Jahr vor dem Ukraine-Krieg, also 2021, nur noch 66 Milliarden; die Nato 2014 elfmal so viel, im letzten Jahr vor dem Krieg sogar das 18fache wie Russland. Die Nato hatte damals allein zwei Millionen Soldaten in Europa, Russland nur 540.000. Diese Zahlen werden uns verschwiegen.
Was die Militärs komplett ausblenden, ist das nukleare und konventionelle ungleiche Kräfteverhältnis in Europa. Im nuklearen Bereich gab es bisher auf der strategischen Ebene zwischen den USA und Russland ein Gleichgewicht: Das soll sich nach US-Vorstellungen ändern.
Im konventionellen Bereich herrscht ein immenses Ungleichgewicht zugunsten der Nato auch im Vergleich zum östlichen Bündnis OVKS, das neben Russland aus Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan besteht. Die Nato unterhielt 2022 das Doppelte an Kampfpanzern im aktiven Dienst, verfügte über fast 90 Prozent mehr an gepanzerten Kampffahrzeugen, hatte das 3,8fache an Kampfflugzeugen und das 5,3fache an Kampfhelikoptern aktiviert. Und zudem verfügte die Nato über das 7,7fache an hochseegängigen Überwasserkampfschiffen und das 2,7fache an taktischen U-Booten.
Und nebenbei: Allein die Zahl der in Europa 2022 stationierten 3,3 Millionen Nato-Soldaten unter Waffen war damit fast dreimal so hoch wie die Zahl aller russischen Soldaten. Auch wirtschaftlich ist der Unterschied gravierend: fast 24 zu 1 zugunsten der Nato-Länder. Russland versucht, seine Unterlegenheit bei konventionellen Waffen und Soldaten durch taktische Nuklearwaffen auszugleichen. Es hat bereits angekündigt, bei einem Angriff mit einem atomaren Gegenschlag zu antworten.
Hier braut sich Unheil zusammen. Es drängt sich die Forderung auf, zur Aufrechterhaltung eines strategischen Gleichgewichts Rüstungskontroll- und Abrüstungsverhandlungen zwischen Nato und Russland in Angriff zu nehmen. Jedoch: CDU/CSU, FDP und AFD treten für die Beibehaltung und Ausweitung der deutschen »nuklearen Teilhabe« und damit den Kauf neuer Atombomber für die Bundeswehr ein. Union und AfD sind zudem dafür, die Wehrpflicht mit all ihren Leben bedrohenden und massenhaft Geld verschlingenden Funktionen wieder einzuführen, wozu Oberstleutnant a. D. Jürgen Rose die nötigen warnenden Worte fand (siehe Ossietzky 9/24).
Lühr Henken kommt zu dem Schluss: Keine Atombomber für die Bundeswehr! Abrüsten statt Aufrüsten! Für uns muss es darum gehen, über diese kostspielige, unsinnige und lebensgefährliche Hochrüstung aufzuklären und Menschen für das Ziel »Abrüsten statt Aufrüsten!« dauerhaft zu mobilisieren, um diesem Wahnsinn einen Riegel vorzuschieben.
Die Aussagen von Generalleutnant Mais fand Lühr Henken in einer Grundsatzrede von Heeresinspekteur General Alfons Mais am 4. November 2020 vor dem Förderkreis Deutsches Heer e. V.