»Wir leben in einer merkwürdigen Zeitung«, behauptete einst Tucholsky. Ob er damit seine eigene Lebens- und Schaffensperiode ins Visier rücken oder bereits prophetisch auf die coronabelastete Jahrestagung 2020 der Kurt Tucholsky-Gesellschaft »Tucholsky und das Kabarett gestern und heute« zielen wollte, mag dahingestellt bleiben. Zutreffend wäre beides.
Nicht zum ersten Male widmete sich unser Verein dem Kabarett, einer laut Tucholsky »unglücklichen Liebe«. Unter dem Motto »Tucholsky und das Kabarett gestern und heute« sollte diesmal die Kabarett-Historie in West und Ost den Konferenzinhalt bilden. Und dazu hätte der Vorstand keinen würdigeren Ort auswählen können als das altehrwürdige Mainz am Rhein. Hier entstand im »Alten Proviantmagazin« einst das Deutsche Kabarett-Archiv, das den Versuch wagte, sich an die inzwischen 100-jährige Geschichte des deutschen Kabaretts seit Ernst von Wolzogen und seinem »Überbrettl« heranzutasten, Materialien zur Kabarettgeschichte zu sammeln und zu archivieren und die Geschichte dieser eigenwilligen theatralischen Gattung für die Mit- und Nachwelt zu dokumentieren. Reinhard Hippen und seinen Amtsfolgern kommt damit das Verdienst zu, etwas Einmaliges geschaffen und ausgestaltet zu haben und Kabarett-Formationen wie der »Lach- und Schieß-Gesellschaft«, der »Schaubühne«, den »Stachelschweinen«, den »Wühlmäusen« oder den »Insulanern« sowie Persönlichkeiten wie Hanns Dieter Hüsch, Friedrich Hollaender, Blandine Ebinger, Dietrich Kittner, Kurt Tucholsky, Erich Kästner, Georg Kreisler, Claire Waldoff, Rudolf Platte, Ursula Herking, Wolfgang Neuss, Dieter Hildebrandt, Volker Kühn, dem Ehepaar Lorentz, Wolfgang Gruner, Harald Juhnke, Günter Neumann, Dieter Hallervorden, Dieter Süverkrup und vielen anderen eine anregende Plattform sowie eine bleibende Erinnerung geschaffen zu haben.
In der DDR hatte sich parallel Bernburg an der Saale zu einem Kabarettzentrum entwickelt, in dem sich Profis und Amateure der Ost-Szene zu Workshops mit Fachleuten trafen, gegenseitig berieten und Erfahrungen und Texte austauschten. Gisela Oechelhaeuser, Rainer Otto, Peter Ensikat, Wolfgang Hübner, Wolfgang Schaller, Fritz Decho und Edgar Külow waren begehrte Gesprächspartner, und die Fachzeitschrift Pointe mit Texten von Frank Kleinke und anderen bot manche Anregung. In Bernburg trafen Fachleute der »Distel«, der »Pfeffermühle«, der »Akademixer« und der »Herkuleskeule« auf Amateure der unterschiedlichsten Berufsbereiche.
Nach der Vereinigung entwickelte sich das Schloss Bernburg an der Saale zu einer Dependance der Mainzer Zentrale. Und das war gut so, denn eine Zentrale hat ja immer so recht. Aber auch das hatten wir einst schon von Tucholsky gehört. In Mainz also sollte die Tagung stattfinden, und dass die Stadt der Geburtsort von Anna Seghers war, machte die Sache noch politischer und attraktiver.
So jedenfalls war es vorgesehen, aber das Leben ist, wie derselbe Tucholsky feststellte, gar nicht so, sondern halt ganz anders. Die Mainzer Zentrale sagte kurzfristig ab, da sie die notwendigen coronageschuldeten Regelungen nicht gewährleisten konnte, und brachte Vorstand und Verein in eine arg bedrängte Situation. Wenn es die Musikbrennerei Rheinsberg da nicht geben würde, die just zum vorgesehenen Tagungszeitpunkt stolz ihrem fünfjährigen Bestehen entgegenfieberte, hätte die Konferenz wohl auf den St.-Nimmerleinstag verschoben werden müssen. Ihre Betreiber, der Komponist Hans Karsten Raecke und die Kabarettistin Jane Zahn boten der minimierten Teilnehmerzahl nicht nur ein atmosphärisches und freundschaftliches Domizil, sondern durch ein Solo-Konzert von Hans Karsten mit eigenen Kompositionen und das neue Kabarett-Programm von Jane »Am Arsch vorbei gibt‘s auch kein Leben« einen künstlerischen Rahmen, mit dem nicht einmal das Mainzer Archiv hätte aufwarten können. Und darüber hinaus hatte der veränderte Tagungsort ja auch ein wenig mit dem jugendlichen Tucholsky und seinen Eskapaden zu tun. Da konnte »die Milch der guten Denkungsart« beileibe nicht sauer werden (vgl. Kurt Tucholsky, Schnipsel, Rowohlt Taschenbuch, Auflage 1995, S. 54).
Der Bericht wäre unvollständig, würde er nicht den samstäglichen Auftakt mit den von Jo Faß übermittelten »Ratschlägen für einen schlechten Redner«, den von Frank-Burkhard Habel vorgetragenen Tagungsbeitrag des an der Reise gehinderten Londoner Vorsitzenden Ian King sowie den Vortrag von Kabarett-Historiker Jürgen Klammer über das Kabarett in der DDR als besondere Highlights der Tagung bewerten.
Dass die Veranstaltung überhaupt und gerade noch stattfinden konnte, war der Terminierung der neu beschlossenen Corona-Beschränkungen zu verdanken, deren Gültigkeit just an dem Tage einsetzte, der auf die Konferenztage folgte.
So viel Einfühlungsvermögen hätte ich unseren Behörden in unserer so merkwürdigen Zeit(ung) gar nicht zugetraut.