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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Tschüss, Peggy

Den christ­li­chen Hei­li­gen St. Georg umrankt eine Viel­zahl von Legen­den, unter denen die Mär vom Kampf gegen einen Dra­chen her­vor­sticht. Der Dra­chen­tö­ter wur­de zum Schutz­pa­tron zahl­rei­cher Beru­fe und Grup­pen und wird als einer von 14 kirch­li­chen Not­hel­fern bei Krank­hei­ten und Gebre­chen ange­ru­fen, vom Fie­ber bis zur Pest. Da außer­dem Spi­tä­ler und Sie­chen­häu­ser in sei­ne Zustän­dig­keit fal­len, war es nur fol­ge­rich­tig, dass der Rat der Stadt Ham­burg Ende des 12. Jahr­hun­derts dem außer­halb der Stadt­mau­er erbau­ten neu­en Hos­pi­tal für Lepra-Kran­ke den Namen St. Georg gaben. Als Ham­burg im 17. Jahr­hun­dert sei­ne Stadt­flä­che ver­grö­ßer­te, wur­de das Gebiet unter eben die­sem Namen eingegliedert.

Heu­te, Jahr­hun­der­te spä­ter und nach einem gro­ßen men­schen­fres­sen­den Krieg, in dem ein Feu­er­sturm die Han­se­stadt durch­tobt und St. Georg nahe­zu kom­plett zer­stört hat­te, ist der Stadt­teil »so beliebt wie noch nie«. Nur 1,8 Qua­drat­ki­lo­me­ter groß, »behei­ma­tet er eine bun­te, leben­di­ge Mischung kul­tu­rel­ler Viel­falt«. »Wenn es eine Welt gäbe, in der ver­schie­de­ne Kul­tu­ren, Reli­gio­nen, Sexua­li­tä­ten und Lebens­ent­wür­fe fried­lich zusam­men­le­ben, dann wür­de sie St. Georg hei­ßen«, schwärmt das offi­zi­el­le Inter­net-Por­tal der Frei­en und Han­se­stadt, denn: »Bunt macht den Stadt­teil sei­ne Diver­si­tät, die vom stän­di­gen Tru­bel rund um den zen­tra­len Ver­kehrs­kno­ten­punkt Haupt­bahn­hof über den Stein­damm mit sei­nem Alt-Kreuz­ber­ger Chic und dem homo­se­xu­ell gepräg­ten Vier­tel rund um die Lan­ge Rei­he bis zu den gedie­ge­nen und teu­ren Adres­sen an der Außen­al­ster alle Facet­ten zeigt.«

Die­ser bun­te, leben­di­ge, diver­se Stadt­teil hat Mit­te März sei­ne Köni­gin ver­lo­ren, sei­ne »Queen«, wie sie lie­be­voll genannt wur­de. St. Georg trau­ert um Peg­gy Par­nass, die hier ganz ohne offi­zi­el­le Insi­gni­en und ohne zere­mo­ni­el­les Tam­tam, aber mit Wür­de »regier­te« und der jeder Mann und jede Frau und alle Diver­se – zu deren Schutz­pa­tro­nin sie mit den Jah­ren auf­ge­stie­gen war – vol­ler Zunei­gung, Bewun­de­rung und Respekt begegneten.

Peg­gy Sophie Par­nass starb am 12. März im Alter von 97 Jah­ren. Am 18. März ver­ab­schie­de­te sich Ham­burg von sei­ner »außer­ge­wöhn­li­chen Bür­ge­rin«, wie Peter Tsch­ent­scher, der Erste Bür­ger­mei­ster der Han­se­stadt, sie in sei­ner Trau­er­re­de wür­dig­te. Als Kolum­ni­stin und Jour­na­li­stin, als Schau­spie­le­rin, Gerichts­re­por­te­rin und Schrift­stel­le­rin, als Akti­vi­stin und Kämp­fe­rin, als mei­nungs­star­ke und enga­gier­te Demo­kra­tin habe Par­nass seit den 1950er Jah­ren in Ham­burg »ein wech­sel­vol­les Leben« geführt, »bis ins hohe Alter vol­ler Taten­drang, Lebens­freu­de und Zunei­gung zu ihren Mitmenschen«.

Mit Peg­gys Tod – ich darf sie so nen­nen, wir kann­ten uns seit Anfang der 1970er Jah­re – wur­de ein­mal mehr deut­lich, dass ein Zeit­al­ter zu Ende geht. Bald lebt nie­mand mehr, der aus eige­nem Erle­ben »Zeug­nis able­gen kann bis zum letz­ten« (Vic­tor Klem­pe­rer) von den Gescheh­nis­sen im ersten Drit­tel des 20. Jahrhunderts.

Peg­gy wur­de am 11. Okto­ber 1927 in Ham­burg gebo­ren, ihr Vater war Pole, ihre Mut­ter Halb­por­tu­gie­sin. Sie wuchs in der Meth­fes­sel­stra­ße im Stadt­teil Eims­büt­tel auf. Auch Peg­gy hat­te mit Dra­chen zu kämp­fen, schon von klein auf, mit Dra­chen in Men­schen­ge­stalt, und erfuhr in Kind­heit und Jugend »gro­ßes Leid«. Tsch­ent­scher: »Als Kind jüdi­scher Eltern hat sie das dun­kel­ste Kapi­tel unse­rer Stadt­ge­schich­te erlebt und erlit­ten: Vor­ur­tei­le gegen­über Jüdin­nen und Juden, die sie nicht ver­ste­hen konn­te, Ver­bo­te, die ihre Frei­heit Schritt für Schritt ein­schränk­ten, die Ver­fol­gung jüdi­scher Bür­ge­rin­nen und Bür­ger, die schließ­lich Mil­lio­nen das Leben kostete.«

In ihren Erin­ne­run­gen gibt Peg­gy Ein­blick in die­ses »gro­ße Leid«, das ihr in der Kind­heit wider­fuhr. »Die Nazis waren um uns her­um. Als Büb­chen (ihr Bru­der) zwei war, schmis­sen die ande­ren Kin­der ihn auf die Stra­ße und spran­gen auf ihm her­um. Zur Stra­fe, weil er Jude ist. Mich zerr­ten die Kin­der in ein frem­des Trep­pen­haus rein. Schub­sten mich gegen die Wand und schrien dau­ernd im Chor etwas vom Juden­blut, das vom Mes­ser spritzt. Bis Opa mich befrei­te. Im Som­mer war jeder Tag eine Angst­par­tie. Über­all stand auf den Schil­dern, was wir nicht durf­ten, und wir habens trotz­dem getan. Auf ne Bank gesetzt im Park, obwohl ›Für Juden ver­bo­ten‹ drauf­stand. Mit Mut­ti Eis holen in ner Dop­pel­waf­fel. Auch ver­bo­ten. Vor Angst nicht lecken können.«

Als die zwölf­jäh­ri­ge Peg­gy und ihr vier­jäh­ri­ger Bru­der 1939 zusam­men mit ande­ren Kin­dern nach Schwe­den geschickt wur­den: »Mut­ti hat uns zur Bahn gebracht, Ham­bur­ger Haupt­bahn­hof. Seit­dem has­se ich den Bahn­hof noch mehr als ande­re Bahn­hö­fe. Ich kann auch kei­ne Züge sehen, ohne dass mir schlecht wird. Mut­ti sagt, sie kommt in einem hal­ben Jahr nach, aber das war natür­lich Quatsch. Obwohl sie wuss­te, dass sie uns nie wie­der sieht, stand sie da und hat gelacht, ihr herr­li­ches Lachen mit weit auf­ge­ris­se­nem Mund, und gewun­ken, solan­ge wir sie sehen konn­ten. Damit uns der Abschied nicht so schwer­fällt. Hat auch nichts genützt. Ist nicht wahr. Hat es doch.«

Das Ehe­paar Par­nass hat­te nach der natio­nal­so­zia­li­sti­schen Macht­über­nah­me ver­sucht, Deutsch­land zu ver­las­sen, doch die Aus­wan­de­rung schei­ter­te u. a. an feh­len­den finan­zi­el­len Mit­teln. Im Zuge der »Polen­ak­ti­on« Ende 1938 wur­de Simon Par­nass nach Polen abge­scho­ben. Es gelang ihm jedoch, heim­lich nach Ham­burg zurück­zu­keh­ren und sei­ne Frau zu holen. Sie schaff­ten es nach Polen, wo sie zunächst in Kra­kau und dann im War­schau­er Get­to leb­ten. Von dort wur­den sie ins Ver­nich­tungs­la­ger Treb­linka depor­tiert und 1942 ermor­det, wie etwa ein­hun­dert wei­te­re Ver­wand­te. In Eims­büt­tel erin­nern seit 2002 in der Meth­fes­sel­stra­ße 13, vor ihrer ehe­ma­li­gen Woh­nung, zwei Stol­per­stei­ne an Her­tha und Simon Par­nass. Auf Peg­gys Wunsch hin wur­de vor dem Haus ein drit­ter Stol­per­stein ver­legt, mit der Gra­vur »Die Lie­ben­den«. Seit Okto­ber 2023 trägt der neue, auto­freie Platz an der Ecke Meth­fes­sel­stra­ße und Lap­pen­bergs­al­lee den Namen »Par­nass«.

Peg­gy und ihr Bru­der Gady gelang­ten mit dem Kin­der­trans­port nach Schwe­den, spä­ter nach Lon­don, wo ein Onkel sie auf­nahm. Tsch­ent­scher: »Trotz des Grau­ens der Sho­ah kehr­te Peg­gy Par­nass in den 1950er Jah­ren nach Deutsch­land und in ihre Geburts­stadt zurück.«

Wie schwer ihr die Rück­kehr nach Ham­burg gefal­len sein mag, zeigt eine in dem Buch Kind­heit geschil­der­te Epi­so­de. In Eims­büt­tel, wo die Fami­lie Par­nass in den 1930er Jah­ren gewohnt hat­te, betrat sie, nun als jun­ge Erwach­se­ne, den Laden einer Milch­frau, die ihr seit der Kind­heit ver­hasst war, denn sie hat­te ihre Mut­ter geohr­feigt, als die­se für die Kin­der etwas zu essen holen woll­te: »Ich krieg­te auch eine geklebt. Dann hoben sie und ihr Mann Mut­ti hoch und schmis­sen sie die Trep­pe hoch raus.«

Nun steht Peg­gy in dem­sel­ben Laden, lehnt an der Wand, »um nicht umzu­fal­len«. »Hab kei­nen Ton gesagt. Hab die Frau nur ange­guckt. Unent­wegt. Und sie bedien­te einen nach dem ande­ren. Zum Schluss fie­len ihr die Sachen aus der Hand. Dann sag­te sie, grau im Gesicht, sie sehe Gespen­ster. Sie hielt mich für Mut­ti. Als sie sich so weit erhol­te, dass sie begriff, das ich das Kind bin, also kein Spuk: ›Und wie oft, wie oft habe ich an dei­ne Mut­ter gedacht. Aach, ach Gott, hab ich gedacht, die­se lie­be Frau …‹« Wort­los ver­lässt Peg­gy den Laden. Ihr ist elend zumute.

Für Peg­gy begann in der Bun­des­re­pu­blik schon bald ein Kampf mit neu­en Dra­chen. Sie trat ent­schie­den gegen Rechts­extre­mis­mus und Dis­kri­mi­nie­rung ein und erwarb sich einen Namen als Hei­li­ge Johan­na der Ent­rech­te­ten und Belei­dig­ten. Aus den 1970er Jah­ren gibt es Fotos, die Peg­gy zei­gen, eine Tafel hoch­reckend mit der Auf­schrift: »Ich bin eine klei­ne radi­ka­le Min­der­heit«. Und so schrieb sie auch: nie­mals aus­ge­wo­gen, immer radi­kal subjektiv.

Als Repor­te­rin und Autorin trug sie mit ihren Essays, Mono­gra­fien, Kolum­nen und Gerichts­re­por­ta­gen über Pro­zes­se gegen NS-Kriegs­ver­bre­cher zur Auf­ar­bei­tung der Nazi-Ver­bre­chen bei und präg­te damit das mora­li­sche Rechts­emp­fin­den der deut­schen Nach­kriegs­ge­sell­schaft. Ihre Tex­te erschie­nen von 1970 bis 1987 haupt­säch­lich in dem Maga­zin kon­kret, bis 1973 unter Chef­re­dak­teur Klaus Rai­ner Röhl, ab Okto­ber 1974 unter der Her­aus­ge­ber­schaft von Her­mann L. Grem­li­za. Mit Röhl, dem spä­te­ren Ehe­mann von Ulri­ke Mein­hof, hat­te sich Peg­gy in den 1950er Jah­ren zusam­men mit dem Schrift­stel­ler Peter Rühm­korf eine Woh­nung in Ham­burg-Lok­stedt geteilt.

Als Zeit­zeu­gin sprach sie spä­ter, wie Tsch­ent­scher her­vor­hob, »mit Kin­dern und Jugend­li­chen über ihre Erleb­nis­se und wur­de zu einer star­ken Stim­me gegen Anti­se­mi­tis­mus und Frem­den­feind­lich­keit«, für Tole­ranz und Viel­falt. Noch mit über 90 Jah­ren nahm sie wie selbst­ver­ständ­lich an der jähr­li­chen Chri­sto­pher-Street-Day-Demon­stra­ti­on teil, zuletzt im Roll­stuhl zwar, aber in der ersten Rei­he, mit einem für sie typi­schen strah­len­den Lachen.

1998 wur­de sie vom Ham­bur­ger Senat mit der Sena­tor-Bier­mann-Rat­jen-Medail­le und 2020 mit der Ehren­denk­mün­ze in Gold aus­ge­zeich­net, »für ihre Ver­dien­ste um die schu­li­sche Auf­klä­rungs­ar­beit über den Holo­caust und die Zeit der natio­nal­so­zia­li­sti­schen Gewalt­herr­schaft«. Sie habe wie die zeit­gleich geehr­te Holo­caust-Über­le­ben­de Esther Beja­ra­no »mit ihren oft streit­ba­ren Wort­mel­dun­gen über Jahr­zehn­te wich­ti­ge Impul­se für Demo­kra­tie, Erin­ne­rungs­kul­tur und Gleich­be­rech­ti­gung« gegeben.

In Ham­burg sagt man Tschüss. Hun­der­te Men­schen nah­men zusam­men mit ihrer Fami­lie am Diens­tag, 18. März, bei strah­len­dem Son­nen­schein auf dem Jüdi­schen Fried­hof in Ham­burg-Ohls­dorf Abschied von Peg­gy Par­nass. Sie wird in Erin­ne­rung blei­ben als eine muti­ge, warm­her­zi­ge Frau, die »vor frem­der Not nicht gefeit« war (F. J. Degen­hardt in »Lied für die ich es sing«).

 Drei der im Kon­kret Lite­ra­tur Ver­lag erschie­ne­nen Bücher von Peg­gy Par­nass mit auto­bio­gra­fisch gepräg­ten Tex­ten sind immer noch lie­fer­bar: »Unter die Haut« (1983), in dem auch das Kapi­tel »Kind­heit« zu fin­den ist, »Süch­tig nach Leben« (1990) und »Mut und Lei­den­schaft« (1997). In limi­tier­ter Auf­la­ge von 1000 Exem­pla­ren erschien Zwei­tau­send­eins »Kind­heit« als groß­for­ma­ti­ger Band mit Farb­holz­schnit­ten der eben­falls in St. Georg leben­den bra­si­lia­ni­schen Künst­le­rin Tita do Rêgo Sil­va, gedruckt in der Gra­phi­schen Werk­statt des Muse­ums der Arbeit in Ham­burg. Mei­ne Zita­te stam­men aus die­ser Aus­ga­be. Peg­gys Gerichts­re­por­ta­gen wur­den 1978 im Ver­lag 2001 unter dem Titel »Pro­zes­se 1970 bis 1978« ver­öf­fent­licht. Infor­ma­ti­ve Bei­trä­ge über Vita und Wir­ken Peg­gys sind zu fin­den unter www.hamburg.de, dem offi­zi­el­len Por­tal der Stadt Hamburg.