Den christlichen Heiligen St. Georg umrankt eine Vielzahl von Legenden, unter denen die Mär vom Kampf gegen einen Drachen hervorsticht. Der Drachentöter wurde zum Schutzpatron zahlreicher Berufe und Gruppen und wird als einer von 14 kirchlichen Nothelfern bei Krankheiten und Gebrechen angerufen, vom Fieber bis zur Pest. Da außerdem Spitäler und Siechenhäuser in seine Zuständigkeit fallen, war es nur folgerichtig, dass der Rat der Stadt Hamburg Ende des 12. Jahrhunderts dem außerhalb der Stadtmauer erbauten neuen Hospital für Lepra-Kranke den Namen St. Georg gaben. Als Hamburg im 17. Jahrhundert seine Stadtfläche vergrößerte, wurde das Gebiet unter eben diesem Namen eingegliedert.
Heute, Jahrhunderte später und nach einem großen menschenfressenden Krieg, in dem ein Feuersturm die Hansestadt durchtobt und St. Georg nahezu komplett zerstört hatte, ist der Stadtteil »so beliebt wie noch nie«. Nur 1,8 Quadratkilometer groß, »beheimatet er eine bunte, lebendige Mischung kultureller Vielfalt«. »Wenn es eine Welt gäbe, in der verschiedene Kulturen, Religionen, Sexualitäten und Lebensentwürfe friedlich zusammenleben, dann würde sie St. Georg heißen«, schwärmt das offizielle Internet-Portal der Freien und Hansestadt, denn: »Bunt macht den Stadtteil seine Diversität, die vom ständigen Trubel rund um den zentralen Verkehrsknotenpunkt Hauptbahnhof über den Steindamm mit seinem Alt-Kreuzberger Chic und dem homosexuell geprägten Viertel rund um die Lange Reihe bis zu den gediegenen und teuren Adressen an der Außenalster alle Facetten zeigt.«
Dieser bunte, lebendige, diverse Stadtteil hat Mitte März seine Königin verloren, seine »Queen«, wie sie liebevoll genannt wurde. St. Georg trauert um Peggy Parnass, die hier ganz ohne offizielle Insignien und ohne zeremonielles Tamtam, aber mit Würde »regierte« und der jeder Mann und jede Frau und alle Diverse – zu deren Schutzpatronin sie mit den Jahren aufgestiegen war – voller Zuneigung, Bewunderung und Respekt begegneten.
Peggy Sophie Parnass starb am 12. März im Alter von 97 Jahren. Am 18. März verabschiedete sich Hamburg von seiner »außergewöhnlichen Bürgerin«, wie Peter Tschentscher, der Erste Bürgermeister der Hansestadt, sie in seiner Trauerrede würdigte. Als Kolumnistin und Journalistin, als Schauspielerin, Gerichtsreporterin und Schriftstellerin, als Aktivistin und Kämpferin, als meinungsstarke und engagierte Demokratin habe Parnass seit den 1950er Jahren in Hamburg »ein wechselvolles Leben« geführt, »bis ins hohe Alter voller Tatendrang, Lebensfreude und Zuneigung zu ihren Mitmenschen«.
Mit Peggys Tod – ich darf sie so nennen, wir kannten uns seit Anfang der 1970er Jahre – wurde einmal mehr deutlich, dass ein Zeitalter zu Ende geht. Bald lebt niemand mehr, der aus eigenem Erleben »Zeugnis ablegen kann bis zum letzten« (Victor Klemperer) von den Geschehnissen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.
Peggy wurde am 11. Oktober 1927 in Hamburg geboren, ihr Vater war Pole, ihre Mutter Halbportugiesin. Sie wuchs in der Methfesselstraße im Stadtteil Eimsbüttel auf. Auch Peggy hatte mit Drachen zu kämpfen, schon von klein auf, mit Drachen in Menschengestalt, und erfuhr in Kindheit und Jugend »großes Leid«. Tschentscher: »Als Kind jüdischer Eltern hat sie das dunkelste Kapitel unserer Stadtgeschichte erlebt und erlitten: Vorurteile gegenüber Jüdinnen und Juden, die sie nicht verstehen konnte, Verbote, die ihre Freiheit Schritt für Schritt einschränkten, die Verfolgung jüdischer Bürgerinnen und Bürger, die schließlich Millionen das Leben kostete.«
In ihren Erinnerungen gibt Peggy Einblick in dieses »große Leid«, das ihr in der Kindheit widerfuhr. »Die Nazis waren um uns herum. Als Bübchen (ihr Bruder) zwei war, schmissen die anderen Kinder ihn auf die Straße und sprangen auf ihm herum. Zur Strafe, weil er Jude ist. Mich zerrten die Kinder in ein fremdes Treppenhaus rein. Schubsten mich gegen die Wand und schrien dauernd im Chor etwas vom Judenblut, das vom Messer spritzt. Bis Opa mich befreite. Im Sommer war jeder Tag eine Angstpartie. Überall stand auf den Schildern, was wir nicht durften, und wir habens trotzdem getan. Auf ne Bank gesetzt im Park, obwohl ›Für Juden verboten‹ draufstand. Mit Mutti Eis holen in ner Doppelwaffel. Auch verboten. Vor Angst nicht lecken können.«
Als die zwölfjährige Peggy und ihr vierjähriger Bruder 1939 zusammen mit anderen Kindern nach Schweden geschickt wurden: »Mutti hat uns zur Bahn gebracht, Hamburger Hauptbahnhof. Seitdem hasse ich den Bahnhof noch mehr als andere Bahnhöfe. Ich kann auch keine Züge sehen, ohne dass mir schlecht wird. Mutti sagt, sie kommt in einem halben Jahr nach, aber das war natürlich Quatsch. Obwohl sie wusste, dass sie uns nie wieder sieht, stand sie da und hat gelacht, ihr herrliches Lachen mit weit aufgerissenem Mund, und gewunken, solange wir sie sehen konnten. Damit uns der Abschied nicht so schwerfällt. Hat auch nichts genützt. Ist nicht wahr. Hat es doch.«
Das Ehepaar Parnass hatte nach der nationalsozialistischen Machtübernahme versucht, Deutschland zu verlassen, doch die Auswanderung scheiterte u. a. an fehlenden finanziellen Mitteln. Im Zuge der »Polenaktion« Ende 1938 wurde Simon Parnass nach Polen abgeschoben. Es gelang ihm jedoch, heimlich nach Hamburg zurückzukehren und seine Frau zu holen. Sie schafften es nach Polen, wo sie zunächst in Krakau und dann im Warschauer Getto lebten. Von dort wurden sie ins Vernichtungslager Treblinka deportiert und 1942 ermordet, wie etwa einhundert weitere Verwandte. In Eimsbüttel erinnern seit 2002 in der Methfesselstraße 13, vor ihrer ehemaligen Wohnung, zwei Stolpersteine an Hertha und Simon Parnass. Auf Peggys Wunsch hin wurde vor dem Haus ein dritter Stolperstein verlegt, mit der Gravur »Die Liebenden«. Seit Oktober 2023 trägt der neue, autofreie Platz an der Ecke Methfesselstraße und Lappenbergsallee den Namen »Parnass«.
Peggy und ihr Bruder Gady gelangten mit dem Kindertransport nach Schweden, später nach London, wo ein Onkel sie aufnahm. Tschentscher: »Trotz des Grauens der Shoah kehrte Peggy Parnass in den 1950er Jahren nach Deutschland und in ihre Geburtsstadt zurück.«
Wie schwer ihr die Rückkehr nach Hamburg gefallen sein mag, zeigt eine in dem Buch Kindheit geschilderte Episode. In Eimsbüttel, wo die Familie Parnass in den 1930er Jahren gewohnt hatte, betrat sie, nun als junge Erwachsene, den Laden einer Milchfrau, die ihr seit der Kindheit verhasst war, denn sie hatte ihre Mutter geohrfeigt, als diese für die Kinder etwas zu essen holen wollte: »Ich kriegte auch eine geklebt. Dann hoben sie und ihr Mann Mutti hoch und schmissen sie die Treppe hoch raus.«
Nun steht Peggy in demselben Laden, lehnt an der Wand, »um nicht umzufallen«. »Hab keinen Ton gesagt. Hab die Frau nur angeguckt. Unentwegt. Und sie bediente einen nach dem anderen. Zum Schluss fielen ihr die Sachen aus der Hand. Dann sagte sie, grau im Gesicht, sie sehe Gespenster. Sie hielt mich für Mutti. Als sie sich so weit erholte, dass sie begriff, das ich das Kind bin, also kein Spuk: ›Und wie oft, wie oft habe ich an deine Mutter gedacht. Aach, ach Gott, hab ich gedacht, diese liebe Frau …‹« Wortlos verlässt Peggy den Laden. Ihr ist elend zumute.
Für Peggy begann in der Bundesrepublik schon bald ein Kampf mit neuen Drachen. Sie trat entschieden gegen Rechtsextremismus und Diskriminierung ein und erwarb sich einen Namen als Heilige Johanna der Entrechteten und Beleidigten. Aus den 1970er Jahren gibt es Fotos, die Peggy zeigen, eine Tafel hochreckend mit der Aufschrift: »Ich bin eine kleine radikale Minderheit«. Und so schrieb sie auch: niemals ausgewogen, immer radikal subjektiv.
Als Reporterin und Autorin trug sie mit ihren Essays, Monografien, Kolumnen und Gerichtsreportagen über Prozesse gegen NS-Kriegsverbrecher zur Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen bei und prägte damit das moralische Rechtsempfinden der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Ihre Texte erschienen von 1970 bis 1987 hauptsächlich in dem Magazin konkret, bis 1973 unter Chefredakteur Klaus Rainer Röhl, ab Oktober 1974 unter der Herausgeberschaft von Hermann L. Gremliza. Mit Röhl, dem späteren Ehemann von Ulrike Meinhof, hatte sich Peggy in den 1950er Jahren zusammen mit dem Schriftsteller Peter Rühmkorf eine Wohnung in Hamburg-Lokstedt geteilt.
Als Zeitzeugin sprach sie später, wie Tschentscher hervorhob, »mit Kindern und Jugendlichen über ihre Erlebnisse und wurde zu einer starken Stimme gegen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit«, für Toleranz und Vielfalt. Noch mit über 90 Jahren nahm sie wie selbstverständlich an der jährlichen Christopher-Street-Day-Demonstration teil, zuletzt im Rollstuhl zwar, aber in der ersten Reihe, mit einem für sie typischen strahlenden Lachen.
1998 wurde sie vom Hamburger Senat mit der Senator-Biermann-Ratjen-Medaille und 2020 mit der Ehrendenkmünze in Gold ausgezeichnet, »für ihre Verdienste um die schulische Aufklärungsarbeit über den Holocaust und die Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft«. Sie habe wie die zeitgleich geehrte Holocaust-Überlebende Esther Bejarano »mit ihren oft streitbaren Wortmeldungen über Jahrzehnte wichtige Impulse für Demokratie, Erinnerungskultur und Gleichberechtigung« gegeben.
In Hamburg sagt man Tschüss. Hunderte Menschen nahmen zusammen mit ihrer Familie am Dienstag, 18. März, bei strahlendem Sonnenschein auf dem Jüdischen Friedhof in Hamburg-Ohlsdorf Abschied von Peggy Parnass. Sie wird in Erinnerung bleiben als eine mutige, warmherzige Frau, die »vor fremder Not nicht gefeit« war (F. J. Degenhardt in »Lied für die ich es sing«).
Drei der im Konkret Literatur Verlag erschienenen Bücher von Peggy Parnass mit autobiografisch geprägten Texten sind immer noch lieferbar: »Unter die Haut« (1983), in dem auch das Kapitel »Kindheit« zu finden ist, »Süchtig nach Leben« (1990) und »Mut und Leidenschaft« (1997). In limitierter Auflage von 1000 Exemplaren erschien Zweitausendeins »Kindheit« als großformatiger Band mit Farbholzschnitten der ebenfalls in St. Georg lebenden brasilianischen Künstlerin Tita do Rêgo Silva, gedruckt in der Graphischen Werkstatt des Museums der Arbeit in Hamburg. Meine Zitate stammen aus dieser Ausgabe. Peggys Gerichtsreportagen wurden 1978 im Verlag 2001 unter dem Titel »Prozesse 1970 bis 1978« veröffentlicht. Informative Beiträge über Vita und Wirken Peggys sind zu finden unter www.hamburg.de, dem offiziellen Portal der Stadt Hamburg.