Donnerstagvormittag, halb zehn. Die Fahrgeschäfte und Bierzelte auf der Münchner Wies’n werden erst um zehn geöffnet, aber schon strömen Tausende zur Festwiese. An der mit Kränzen geschmückten kleinen Gedenkstätte am Haupteingang haben sich etwa hundert Menschen versammelt, viele mit Blumen in der Hand. Getragene Blasmusik klingt auf. Es ist der 26. September, Jahrestag des Oktoberfestattentats. Vor 39 Jahren, am 26. September 1980 um 22:19 Uhr, starben an dieser Stelle zwölf Festbesucher – Männer, Frauen und Kinder – sowie der Bombenleger: ein 21-jähriger Student aus dem Umkreis der faschistischen Wehrsportgruppe Hoffmann. Zweihundertdreizehn Menschen wurden verletzt, 68 davon schwer. Einige von ihnen sind heute gekommen, um an der Gedenkstunde der DGB-Jugend teilzunehmen.
Achtunddreißig Mal haben wir schon hier gestanden. Heute ist es das 39. Mal. In den ersten Jahren sorgte eine von Kommunisten organisierte ganztägige Mahn- und Schutzwache dafür, dass der Jahrestag der blutigen Tat nicht einfach übergangen und wenigstens an diesem Tag die unscheinbare Erinnerungsstele nicht bekotzt und bepinkelt wurde. Später rief die DGB-Jugend zur vormittäglichen Gedenkstunde an dem neu gestalteten Gedenkort auf. Im Laufe der Zeit veränderte sich das Bild. Seit vielen Jahren spricht der Oberbürgermeister ein Grußwort, und unter den Teilnehmern sind zunehmend Stadträte, Landtagsabgeordnete, Mitglieder des Bundestags, sonstige Honoratioren. Die Forderung ist dabei gleich geblieben: Das Verbrechen muss vollständig aufgeklärt werden, Hintermänner und Mittäter müssen gefunden und vor Gericht gestellt werden. Denn die These der Ermittlungsbehörden vom unpolitischen Einzeltäter, der das Verbrechen aus rein persönlichen Motiven – Liebeskummer, allgemeinem Weltschmerz und Verzweiflung – ganz allein geplant und verübt habe, überzeugt längst nicht mehr. Zu offensichtlich sind die Ungereimtheiten der Ermittlungsergebnisse, zu grob die angeblichen »Pannen« bei der Spurensicherung, zu dreist die Uminterpretation von Zeugenaussagen, das Vorgehen beim Unter-den-Teppich-Kehren ungewünschter Befunde, die Vernichtung wichtiger Beweisstücke. Dass all dies der Öffentlichkeit bekannt wurde, ist hauptsächlich den akribischen Recherchen von Rechtsanwalt Werner Dietrich – auch er ist heute gekommen – zu verdanken, der als Nebenklagevertreter unendliche Berge von Unterlagen gesichtet, Zeugen gesucht und befragt, Widersprüche aufgedeckt hat. Und der Hartnäckigkeit des Journalisten Ulrich Chaussy, der sich nicht einschüchtern ließ und immer neuen Hinweisen nachging.
Nach 32 Jahren: Wiederaufnahme der Ermittlungen
Chaussy ist der Hauptredner bei der heutigen Gedenkstunde. Er begrüßt die unmittelbar Betroffenen unter den Anwesenden, nennt die Namen der Getöteten, spricht vom Leid der Hinterbliebenen, der lebenslang Traumatisierten und Versehrten. Dann gibt er einen knappen Überblick über die damaligen Ermittlungen, die schon nach zwei Jahren eingestellt wurden: Der angebliche Alleintäter war ja tot, und gegen Tote wird nicht ermittelt. Ulrich Chaussy berichtet, wie Rechtsanwalt Dietrich, nach dem Studium Zigtausender Aktenseiten, den ersten Antrag auf Wiederaufnahme der Ermittlungen stellte, dann den zweiten, wieder vergeblich. Was der Spielfilm »Der blinde Fleck« bewirkte. Wie sich danach neue Zeugen meldeten und der dritte Wiederaufnahmeantrag endlich – im Dezember 2014 – zum Erfolg führte: »Nach 32 Jahren Stillstand hat die Bundesanwaltschaft im Fall Oktoberfestattentat zum ersten Mal in ihrer Geschichte ein von ihr eingestelltes Verfahren wieder aufleben lassen.« Und nicht nur das. »Generalbundesanwalt Harald Range wollte es unter dem Eindruck des NSU-Debakels wissen: Haben auch beim Oktoberfestattentat Ermittler und Geheimdienste versagt?« Die Frage liegt nahe, nicht nur wegen der Erfahrungen mit dem NSU. Schließlich hatte schon 1980 ein bayerischer Geheimdienstchef die Ermittlungen durch vorzeitige Information der Presse sabotiert und gestört, mögliche Mittäter gewarnt. Range forderte alle Verfassungsschutzämter des Bundes und der Länder, den BND und den Militärischen Abschirmdienst auf, alle dort eventuell vorhandenen Akten zum Oktoberfestattentat für die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft zur Verfügung zu stellen.
Kritische Aufarbeitung bislang verweigert
Acht Monate nach seiner Entscheidung, die Ermittlungen wieder aufzunehmen, wurde Range vom damaligen Justizminister Heiko Maas vorzeitig in den Ruhestand versetzt. Seine Nachfolger wollten es nicht so genau wissen. Im Mai dieses Jahres erkundigte sich Annette Ramelsberger von der Süddeutschen Zeitung bei der Bundesanwaltschaft, was seit dem Rausschmiss von Range geschehen ist. Beeindruckende Zahlen wurden ihr genannt. Ganze Steinbrüche seien um- und umgedreht worden auf der Suche nach Mittätern – alles vergeblich. Nur ein Thema, berichtet Chaussy, erwähnten die Kommissare der neuen SoKo 26.9. nicht: »Ob sie überhaupt den Ursachen nachgegangen sind, warum ihre Kollegen in den achtziger Jahren ihnen diese Trümmerlandschaft einer Ermittlung hinterlassen haben, in der sie die entscheidenden Sachbeweise irgendwie verschwinden ließen und den Tatzeugen und Spuren, die nicht in die Einzeltätertheorie passten, nicht nachgingen, als diese noch frisch und die Erinnerung präsent war.«
»Es wird der Bundesanwaltschaft also nichts anderes übrig bleiben«, schrieb Annette Ramelsberger in der SZ als Fazit ihrer Recherche, »als die Ermittlungen einzustellen. Ein zweites Mal.« Ulrich Chaussy hat an den zuständigen Bundesanwalt Beck, Leiter der Abteilung Terrorismus, geschrieben, ihn darauf hingewiesen, dass die neue Münchner SoKo, deren Aufgabe auch die kritische Aufarbeitung der Ermittlungstätigkeit ihrer Vorgängerin, der alten SoKo Theresienwiese, sei, die Erfüllung dieser Aufgabe bislang verweigert habe. Das dürfe die Bundesanwaltschaft nicht hinnehmen. Beck habe ihm mitgeteilt, das Ermittlungsverfahren dauere weiter an. Hiervon geht Chaussy auch deshalb aus, weil Rechtsanwalt Dietrich die Sichtung erheblicher Bestände von Akten der Nachrichtendienste zum Oktoberfestattentat noch vor sich hat – und ihm als Rechtsvertreter der Opfer müsse und werde von der Bundesanwaltschaft die Zeit gegeben werden, die er dazu benötigt. Aber wird auch die SoKo die Zeit nutzen und die kritische Aufarbeitung nachholen?
Die Wies’n-Besucher in ihren Dirndln und Lederhosen streben weiter den Bierzelten und den Schießbuden zu. 6,3 Millionen Gäste werden es in diesem Jahr am Ende gewesen sein. Die hundert Menschen an der Gedenkstätte stellen sich an, um ihre Blumen niederzulegen und dann heimzugehen. Vorbei an großen Plakatwänden, auf denen das Justizministerium forsch versichert: »Wir sind Rechtsstaat.« Sind wir das?
Ulla Jelpke Europaparlament entlastet Nazideutschland
Die Gleichsetzung von Faschismus und Kommunismus ist seit Jahren fester Bestandteil konservativer – und zunehmend auch sozialdemokratischer – Geschichtspolitik. Vor allem aus osteuropäischen EU-Staaten kommen regelmäßig Initiativen, die fordern, man müsse sich »gleichermaßen« vom deutschen Faschismus wie von kommunistischen Regimen beziehungsweise Ideologien distanzieren. So wurde schon 2008 in der sogenannten Prager Deklaration über »Europäisches Bewusstsein und Kommunismus« die »Gleichheit« kommunistischer und faschistischer Verbrechen beschworen. Zu den Unterzeichnern gehörte der spätere Bundespräsident Joachim Gauck. Solche Vorstöße zur Umdeutung der Geschichte haben in der Vergangenheit stets zu vernehmbaren Protesten von Seiten progressiver Historiker, Geschichtsaktivisten und Organisationen geführt. Jüdische Organisationen kritisierten insbesondere, damit werde auch die Schoah als singuläres Ereignis relativiert.
Derzeit scheint jedoch der rechte Revisionismus die Oberhand gewonnen zu haben. Denn von Protesten war kaum etwas zu spüren, als das Europäische Parlament im September 2019 noch eins drauflegte: Eine Mehrheit von 81 Prozent der Abgeordneten verabschiedete eine Resolution, die über bisherige »Totalitarismus«-Erklärungen weit hinausgeht, indem sie die deutsche Alleinschuld am Zweiten Weltkrieg direkt leugnet. Der Weltkrieg, so das Europaparlament, sei vielmehr vom Nazireich und der Sowjetunion gleichermaßen herbeigeführt worden.
Der zentrale Satz in der Resolution »Bedeutung der Erinnerung an die europäische Vergangenheit für die Zukunft Europas« lautet, »dass vor 80 Jahren, am 23. August 1939, die kommunistische Sowjetunion und das nationalsozialistische Deutsche Reich den als Hitler-Stalin-Pakt bekannten Nichtangriffspakt und dessen Geheimprotokolle unterzeichneten, womit die beiden totalitären Regime Europa und die Hoheitsgebiete unabhängiger Staaten untereinander aufteilten und in Interessensphären einteilten und damit die Weichen für den Zweiten Weltkrieg stellten«. Und damit man genau versteht, was gemeint ist, wird zwei Seiten später noch nachgeschoben, dass der Weltkrieg »als unmittelbare Folge« dieses Paktes und der Zusatzprotokolle »ausbrach, in deren Rahmen die beiden gleichermaßen das Ziel der Welteroberung verfolgenden totalitären Regime Europa in zwei Einflussbereiche aufteilten«.
Alles klar also? Der Zweite Weltkrieg wurde nicht etwa von Nazi-Deutschland begonnen, sondern war ein gemeinsames Projekt Hitlers und Stalins. Solche revisionistischen Darstellungen à la »Historikerstreit« stießen früher auf große gesellschaftliche Widerstände. Heute dagegen finden sie größte Zustimmung: Für die Resolution stimmten nicht nur die Fraktionen der Europäischen Volkspartei (EVP), der Konservativen und Reformisten (EKR) sowie der Liberalen (Renew), sondern auch die der Sozialdemokraten (S&D) und der Grünen. Ablehnung kam fast ausschließlich von der Linken (GUE/NGL). Ein klares Zeichen für den Rechtsruck in Europa, auch auf geschichtspolitischem Feld.
Keine Frage: In manchen osteuropäischen Staaten, insbesondere im Baltikum und in Ungarn, ist die Geschichtsklitterung schon so weit fortgeschritten, dass man geradezu froh sein könnte, sie würden sich auf eine »Gleichsetzung« von rechts und links beschränken. Tatsächlich aber macht sich im Baltikum eine Rehabilitierung faschistischer Kollaborateure der Kriegszeit breit, die keinen Zweifel daran lässt, dass die Kommunisten (oder gleich die Russen) das allergrößte Übel der Weltgeschichte gewesen seien. Der Holocaust wird zwar nicht direkt bestritten. Aber jüdische Einwohner, die sich damals zu den sowjetischen Partisanen retteten (wohin auch sonst?!), stehen im Ruf von Vaterlandsverrätern.
An einer Stelle wird dies in der Resolution wenigstens angesprochen, wenn sie »verurteilt, dass in einigen EU-Mitgliedsstaaten Geschichtsrevisionismus betrieben wird und Personen verherrlicht werden, die mit den Nationalsozialisten kollaborierten«. Ross und Reiter werden hier freilich nicht genannt, was den Abgeordneten dieser Länder die Zustimmung ermöglichte. Ganz anders, wo es um das heutige Russland geht: Es wird gleich mehrfach als Inbegriff des Schurkenstaats markiert. Man sei, so die Resolution, »zutiefst besorgt angesichts der Bemühungen der derzeitigen russischen Führung, historische Tatsachen zu verfälschen und die vom totalitären Regime der Sowjetunion begangenen Verbrechen schönzufärben«. Die russische Gesellschaft wird aufgefordert, »ihre tragische Vergangenheit aufzuarbeiten«. Haltet den Dieb, kann man da nur sagen.
Die anderen Passagen der Resolution bekräftigen, was schon bisher vom Europaparlament verlautbart wurde: Dass zwar die NS-Verbrechen schon alle »aufgeklärt« seien, das Bewusstsein für die stalinistischen Verbrechen aber »nach wie vor dringend geschärft« werden müsse. Wiederholt wird das »gemeinsame Erbe der von kommunistischen, nationalsozialistischen und anderen Diktaturen begangenen Verbrechen« beschworen; zustimmend wird darauf hingewiesen, dass in einigen EU-Staaten sowohl die kommunistische als auch die nationalsozialistische »Ideologie« verboten seien (wie sich eine Ideologie verbieten lässt, wird hier nicht weiter problematisiert). Ebenfalls zustimmend wird auf die Verbote von sowjetischen beziehungsweise kommunistischen und faschistischen Symbolen verwiesen (wobei zumindest in der Praxis des Baltikums Hakenkreuze gerne als Ausdruck vorfaschistischer Traditionen ausgelegt werden).
Widerspruch gegen die Resolution kam fast nur von links. Die spanische GUE/NGL-Abgeordnete Sira Rego machte darauf aufmerksam, dass es auch innerhalb der EU noch ausreichend Staaten gibt, die sich einer politischen und juristischen Aufarbeitung des Faschismus verweigern: Sie komme aus einem Land, »das voller Plätze und Straßen ist, die die Namen franquistischer Mörder tragen«.
Keine Frage: Die Bestimmungen in den geheimen Zusatzprotokollen von 1939 sind skandalös. Die sowjetische Führung ahnte nur zu gut, dass diese das eigene Image untergraben könnten, weshalb ihre Existenz bis 1989 geleugnet wurde. Durchaus nachvollziehbar ist auch, dass sich die baltischen Staaten und Polen nicht nur als Opfer Deutschlands, sondern auch der Sowjetunion betrachten. All das ändert aber nichts daran, dass es Nazi-Deutschland war, das auf den Weltkrieg systematisch vorbereitet hat. Zu behaupten, im August 1939 sei eigentlich noch alles offen gewesen und erst die sowjetische Unterschrift unter die Abkommen habe die »Weichen« für den Krieg gestellt, impliziert den Umkehrschluss: Die Sowjetunion habe es damals in der Hand gehabt, den Weltkrieg zu verhindern. Das ist eine grobe Leugnung der Kriegsschuldfrage. Die Sowjets verhielten sich damals taktisch und versuchten, aus der desolaten Lage in Europa das Beste für sich herauszuholen. Für die Entstehung dieser Lage waren aber in erster Linie die Nazis verantwortlich. Und nicht nur sie: Die portugiesische Abgeordnete Sandra Pereira (GUE/NGL) und die lettische Abgeordnete Tatjana Schdanoka (Grüne) machten auf das Münchner Abkommen von 1938 aufmerksam. Damit, so Pereira, hätten die kapitalistischen Großmächte den Beginn des Zweiten Weltkrieges und den Einmarsch in die Sowjetunion vorbereitet. Als Ziel der Resolution benannte sie den Versuch, die Verantwortung der kapitalistischen Staaten für die NS-Verbrechen zu vertuschen. Auch in dieser Hinsicht ist der Kampf um die Auslegung der Geschichte ein Aspekt des Klassenkampfes – in dem derzeit leider nicht die Linke in der Offensive ist.
Die Resolution im Netz:https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2019-0021_DE.pdf