BTS nennt sich eine siebenköpfige südkoreanische Boygroup, die sich von Vorgängergruppen deutlich unterscheidet. Es geht nicht nur um Musik, Gesang, Tanz und gute Laune, sondern um ein inszeniertes Kunstprodukt mit hoher emotionaler Verbundenheit zu ihrer weltweiten Fangemeinde. Permanente Inszenierungen bei Auftritten und des Alltags der Gruppe, mit der die Fangemeinde ARMY auf Trab gehalten wird, vermitteln das Gefühl, mit den Idolen Tür an Tür zu leben, und erzeugen ein gewolltes symbiotisches Abhängigkeitsverhältnis. Das erschaffene Modell einer fiktiven Großfamilie stellt im Gegensatz zu allen musikalischen Vorläufermodellen eine neue Qualität in der medialen Welt dar. Es vermittelt nicht nur die Illusion, als Individuum ernst genommen zu werden und aufgehoben zu sein, sondern bietet einen konstruierten, emotionalen Raum, der vor seelischen Verletzungen des Alltags schützen soll. Die Schaffung eines neuen Geschäftsmodells mit enormer, weltweiter Breitenwirkung.
Der Name der Pop-Boyband BTS steht für den koreanischen Begriff »Bangtan Sonyeondan«, übersetzt: »kugelsichere Pfadfinder«, was auch immer das bedeuten mag. Die aktuell erfolgreichste Boyband, die mit ihrer Gründung erklärtermaßen eine neue Zeitrechnung eingeleitet hat, steht für perfekte Choreografie, gefühlsbetonte Melodien, makellos-flauschige Performance, viel Gefühl und sterile Erotik, ein Gesamtkunstwerk mit hoher Perfektion. Die oft schmalzigen Präsentationen verehren weltweit 40 bis 90 Millionen Fans, vorwiegend jüngere Frauen. Ein enormer Hype, der die Herzen vieler Menschen auf der ganzen Welt erobert, obwohl die meisten Texte nicht japanisch oder englisch, sondern koreanisch sind. Zur DNA der Gruppe gehört die Ablehnung von Alkohol, Drogen, Exzessen oder von Beziehungen zu Partnern. Eine bewusst liebevolle und respektvolle Interaktion und eine vermeintliche Nähe zu Fans stellen das Erfolgsrezept der Gruppe dar. In Liedtexten, öffentlichen Äußerungen, über Posts in den sozialen Netzwerken geht es immer wieder um Themen wie Depression, Verlust- und Zukunftsängste, Mitgefühl für das Gegenüber, Selbstliebe und Verletzungen – ein Gegenentwurf zu den machomäßigen, aggressiven Bad Boys der Rockwelt. Immer wieder betont BTS, dass sie ihren Fans etwas zurückgeben möchten und ein tiefes Verständnis für sie haben. Die Fanbewegung fühlt sich wertgeschätzt durch die zur Schau getragene Emotionalität, im Kern eine Projektionsfläche für unerfüllte Wünsche und Sehnsüchte, ein fiktiver Bereich, um seelische Verletzungen zu heilen.
Die südkoreanische Big Hit Entertainment-Industrie, die im Hintergrund diese künstliche Welt erschafft, kreiert laufend Band-Groups solchen Typs; BTS ist aktuell aber ihr erfolgreichstes Modell. Jugendliche, kaum der Kindheit entwachsen, werden für einige Jahre in Camps, abgeschottet von aller Öffentlichkeit, mit Druck und Drill gecastet, um sie später in populärer Zusammenstellung einer scheinbar originären Boy-Group auf den Medienmarkt zu werfen. Zu diesem Zeitpunkt haben die einzelnen Mitglieder als kommerziell aussichtsreiche Band eine profunde Ausbildung in Tanz, Gesang, Performance und in Englischkenntnissen durchlaufen. Koreanische Unterhaltungskonzerne im Hintergrund wie SM-Entertainment, YG-Entertainment und JYP-Entertainment, spielen eine wichtige Rolle im K-Pop-Geschäft. Rasant schnell ausverkaufte Konzerttickets, Kinofilme, mit Werbung vollgepackte Musikvideos, Devotionalien aller Art erwirtschaften Millionenbeträge im Pop-Universum. Die K-Pop-Superstars bringen dem südkoreanischen Fiskus allein vier Milliarden US-Dollar pro Jahr. Auf Instagram folgen der Band knapp 65 Millionen Anhänger. BTS haben über 32 Millionen Alben verkauft, und das sogar im Streaming-Zeitalter. Auf ihrer Asientournee besuchten 144.000 Fans die Konzerte. Die Dimension dieses Kunstgebildes wird u. a. auch dadurch ersichtlich, dass sogar UNICEF der Gruppe 2018 Gelegenheit gab, vor einer Vollversammlung eine Rede zu halten.
Getragen wird dieser Hyp durch eine gut organisierte BTS-Fanblase, die sich ARMY nennt und in gigantischen Streaming-Diensten und Plattformen miteinander vernetzt ist. ARMY (»Adorable Representative M.C for Youth«), als weltumspannender Fanclub, steht nach eigenem Verständnis für die freundlichste Armee der Welt, ist aber lediglich Teil eines cleveren Marktkonzepts. BTS vermittelt das Gefühl, dass man es gemeinsam schaffen kann, schwierige Lebenssituationen zu meistern. »Love yourself« als Motto lässt das Gefühl entstehen, dass sich endlich jemand kümmert, ermutigt, Anteilnahme am eigenen Elend nimmt und Trost spendet. Dieses Konstrukt nehmen die Fans als eine Gewissheit, dass hier jemand mit ihnen in dauerhafter Verbindung steht und sie unterstützt, der Grund, weswegen sich ARMY-Mitglieder einer großen, verschworenen, weltweiten Familie zugehörig fühlen.
ARMY stellt eine vollkommen neue Fankultur dar. ARMY kennt keine Konkurrenz, keinen Wettbewerb, bei dem es Verlierer gibt, ARMY ist ein »Happy Place«. Wer Nettes postet, bekommt nur Nettes zurück. Wer sich diesem BTS-Universum zugehörig fühlt, sieht sich wertgeschätzt. Immer wird das Narrativ wiederholt, dass man es schaffen kann, wenn man durchhält und nicht aufgibt. Persönliche Erlebnisse und Empfindungen einzelner Bandmitglieder, die sich aber ausschließlich aus ihrer Musik ableiten und scheinbar mit ihrer Biografie zusammenhängen, werden von der Community aufgesogen. Auch tränenreiche Inszenierungen, die miteinander geteilt werden, gehören zum BTS-Universum. Die symbiotische Verbindung der Fan-Community mit ihren Stars ist die Basis des enormen Erfolgs. Was kann man gegen gutaussehende Jungen haben, die sich regelmäßig rücksichtsvoll, bescheiden, mitfühlsam, dankbar und zurückhaltend darstellen. Das Stilmittel einer charmanten Authentizität ist das Bindemittel zwischen Fans und Band.
Die Verträge, die die Agenturen mit den Idolen abschließen, beinhalten große Eingriffsrechte in ihr Privatleben. So sind Skandale, Drogen, sogar Beziehungen absolut tabu, um die Illusion einer blitzblanken Projektionsfläche in keiner Weise zu beschädigen. Die Fanbewegung verlangt ein derartiges Image zur Identifikation. Der freundliche und wertschätzende Umgang schafft eine fiktive Gegenwelt, die offenbar Millionen benötigen. Das Perfide ist die Verquickung authentischer Gefühlswelten mit einer konstruierten, falschen Wirklichkeit, die ehrlich und mitfühlend daherkommt, in Gang gesetzt von einem Medien-Management, dessen Triebfeder letztlich die Geldvermehrung ist.
Schicksalsschläge, menschliche Niederlagen und seelische Verletzungen sind aber per se nicht nur individuelle Lebenserfahrungen, sondern korrespondieren oft genug mit gesellschaftlichen Verhältnissen. Dass der weltweite Kapitalismus von Ausbeutung lebt, ist eine Binsenweisheit. Die Entfremdung der Produzenten von den Ergebnissen ihrer Arbeit, die Unmöglichkeit über Abläufe, Produktionsentscheidungen, Rahmenbedingungen und Hierarchien kollektiv Einfluss zu nehmen, sind ebenfalls unbestritten. Das Abhängigkeitsverhältnis, je nach Lage auf dem Arbeitsmarkt, verursacht eine Vielzahl von menschlichen Verletzungen, die der Einzelne verarbeiten muss. Psychische Erkrankungen, geringschätzende Behandlung bis hin zu respektlosem Verhalten, Beschimpfungen und Beleidigungen, die Behandlung, nicht als gleichwertiger Mensch gesehen zu werden, alles das ist Teil der Arbeitswelt und wirkt bis in den Freizeitbereich. Allein die KKH (Kaufmännische Krankenkasse) veröffentlicht alarmierende Zahlen, die auf eine drastische Zunahme von Fehlzeiten und Arbeitsunfähigkeit durch seelische Leiden im ersten Halbjahr 2023 hinweisen, eine Steigerung zum Vorjahr um 85 Prozent. Der Verlust eigener Handlungsfreiheit durch geforderte Verhaltensweisen, Rollen und Erwartungen in der Arbeitswelt sind Fremdbestimmung und formen rudimentäre Individuen und Subjekte, die durch Herrschaftsverhältnisse, Warenbeziehungen, Konkurrenz- und Leistungsprinzip bestimmt werden. Diese Verhältnisse greifen tief in Innerlichkeit und Autonomie ein. Lebensbefindlichkeiten, die ein Gefühl von Ausgeliefertsein vermitteln und bis hin zu Passivität führen können, sind die emotionale Basis für ein großes gesellschaftliches Bedürfnis nach Wiedergutmachung. Verletzungen und Unbefriedigtes sind im Kern hausgemacht, also das Ergebnis gesellschaftlicher Zustände. Begriffen werden sie allerdings zu oft als ein rein individuelles Problem, mit dem sich der Einzelne allein gelassen fühlt, der Ausgangspunkt dafür, ein erträgliches Leben und menschliche Verhältnisse zurückzugewinnen.
Genau hier setzt das Projekt BTS an und bietet eine Lösung durch den Aufbau einer psychologischen Abhängigkeits- und Machtbeziehung im Bereich der sozialen Reproduktion, und das weltweit. Im Ergebnis werden hier Bedürfnisse zweckentfremdet und zu Geld gemacht. Das Projekt BTS ist eine weitere Stufe der kapitalistischen Markterweiterung. BTS ist eine besondere Abart spezifischer Übergriffigkeit ins Private, eine neue Form der Ausbeutung und der Realisierung von Profit durch psychologische Manipulation. Aber dieses Surrogat, wie massentauglich es auch immer sein mag, ist ein untaugliches Narrativ und eine Sackgasse für ihre User.
Veränderungen zum Guten werden nur dort realistisch, wo Illusionen aufgegeben und abgeschüttelt und die wirklichen Verhältnisse in Angriff genommen werden. Opium für das Volk hilft dabei nicht.