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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Trostmaschine im Elend des Systems

BTS nennt sich eine sie­ben­köp­fi­ge süd­ko­rea­ni­sche Boy­group, die sich von Vor­gän­ger­grup­pen deut­lich unter­schei­det. Es geht nicht nur um Musik, Gesang, Tanz und gute Lau­ne, son­dern um ein insze­nier­tes Kunst­pro­dukt mit hoher emo­tio­na­ler Ver­bun­den­heit zu ihrer welt­wei­ten Fan­ge­mein­de. Per­ma­nen­te Insze­nie­run­gen bei Auf­trit­ten und des All­tags der Grup­pe, mit der die Fan­ge­mein­de ARMY auf Trab gehal­ten wird, ver­mit­teln das Gefühl, mit den Ido­len Tür an Tür zu leben, und erzeu­gen ein gewoll­tes sym­bio­ti­sches Abhän­gig­keits­ver­hält­nis. Das erschaf­fe­ne Modell einer fik­ti­ven Groß­fa­mi­lie stellt im Gegen­satz zu allen musi­ka­li­schen Vor­läu­fer­mo­del­len eine neue Qua­li­tät in der media­len Welt dar. Es ver­mit­telt nicht nur die Illu­si­on, als Indi­vi­du­um ernst genom­men zu wer­den und auf­ge­ho­ben zu sein, son­dern bie­tet einen kon­stru­ier­ten, emo­tio­na­len Raum, der vor see­li­schen Ver­let­zun­gen des All­tags schüt­zen soll. Die Schaf­fung eines neu­en Geschäfts­mo­dells mit enor­mer, welt­wei­ter Breitenwirkung.

Der Name der Pop-Boy­band BTS steht für den korea­ni­schen Begriff »Bang­tan Sonye­ond­an«, über­setzt: »kugel­si­che­re Pfad­fin­der«, was auch immer das bedeu­ten mag. Die aktu­ell erfolg­reich­ste Boy­band, die mit ihrer Grün­dung erklär­ter­ma­ßen eine neue Zeit­rech­nung ein­ge­lei­tet hat, steht für per­fek­te Cho­reo­gra­fie, gefühls­be­ton­te Melo­dien, makel­los-flau­schi­ge Per­for­mance, viel Gefühl und ste­ri­le Ero­tik, ein Gesamt­kunst­werk mit hoher Per­fek­ti­on. Die oft schmal­zi­gen Prä­sen­ta­tio­nen ver­eh­ren welt­weit 40 bis 90 Mil­lio­nen Fans, vor­wie­gend jün­ge­re Frau­en. Ein enor­mer Hype, der die Her­zen vie­ler Men­schen auf der gan­zen Welt erobert, obwohl die mei­sten Tex­te nicht japa­nisch oder eng­lisch, son­dern korea­nisch sind. Zur DNA der Grup­pe gehört die Ableh­nung von Alko­hol, Dro­gen, Exzes­sen oder von Bezie­hun­gen zu Part­nern. Eine bewusst lie­be­vol­le und respekt­vol­le Inter­ak­ti­on und eine ver­meint­li­che Nähe zu Fans stel­len das Erfolgs­re­zept der Grup­pe dar. In Lied­tex­ten, öffent­li­chen Äuße­run­gen, über Posts in den sozia­len Netz­wer­ken geht es immer wie­der um The­men wie Depres­si­on, Ver­lust- und Zukunfts­äng­ste, Mit­ge­fühl für das Gegen­über, Selbst­lie­be und Ver­let­zun­gen – ein Gegen­ent­wurf zu den macho­mä­ßi­gen, aggres­si­ven Bad Boys der Rock­welt. Immer wie­der betont BTS, dass sie ihren Fans etwas zurück­ge­ben möch­ten und ein tie­fes Ver­ständ­nis für sie haben. Die Fan­be­we­gung fühlt sich wert­ge­schätzt durch die zur Schau getra­ge­ne Emo­tio­na­li­tät, im Kern eine Pro­jek­ti­ons­flä­che für uner­füll­te Wün­sche und Sehn­süch­te, ein fik­ti­ver Bereich, um see­li­sche Ver­let­zun­gen zu heilen.

Die süd­ko­rea­ni­sche Big Hit Enter­tain­ment-Indu­strie, die im Hin­ter­grund die­se künst­li­che Welt erschafft, kre­iert lau­fend Band-Groups sol­chen Typs; BTS ist aktu­ell aber ihr erfolg­reich­stes Modell. Jugend­li­che, kaum der Kind­heit ent­wach­sen, wer­den für eini­ge Jah­re in Camps, abge­schot­tet von aller Öffent­lich­keit, mit Druck und Drill geca­stet, um sie spä­ter in popu­lä­rer Zusam­men­stel­lung einer schein­bar ori­gi­nä­ren Boy-Group auf den Medi­en­markt zu wer­fen. Zu die­sem Zeit­punkt haben die ein­zel­nen Mit­glie­der als kom­mer­zi­ell aus­sichts­rei­che Band eine pro­fun­de Aus­bil­dung in Tanz, Gesang, Per­for­mance und in Eng­lisch­kennt­nis­sen durch­lau­fen. Korea­ni­sche Unter­hal­tungs­kon­zer­ne im Hin­ter­grund wie SM-Enter­tain­ment, YG-Enter­tain­ment und JYP-Enter­tain­ment, spie­len eine wich­ti­ge Rol­le im K-Pop-Geschäft. Rasant schnell aus­ver­kauf­te Kon­zert­tickets, Kino­fil­me, mit Wer­bung voll­ge­pack­te Musik­vi­de­os, Devo­tio­na­li­en aller Art erwirt­schaf­ten Mil­lio­nen­be­trä­ge im Pop-Uni­ver­sum. Die K-Pop-Super­stars brin­gen dem süd­ko­rea­ni­schen Fis­kus allein vier Mil­li­ar­den US-Dol­lar pro Jahr. Auf Insta­gram fol­gen der Band knapp 65 Mil­lio­nen Anhän­ger. BTS haben über 32 Mil­lio­nen Alben ver­kauft, und das sogar im Strea­ming-Zeit­al­ter. Auf ihrer Asi­en­tour­nee besuch­ten 144.000 Fans die Kon­zer­te. Die Dimen­si­on die­ses Kunst­ge­bil­des wird u. a. auch dadurch ersicht­lich, dass sogar UNICEF der Grup­pe 2018 Gele­gen­heit gab, vor einer Voll­ver­samm­lung eine Rede zu halten.

Getra­gen wird die­ser Hyp durch eine gut orga­ni­sier­te BTS-Fan­bla­se, die sich ARMY nennt und in gigan­ti­schen Strea­ming-Dien­sten und Platt­for­men mit­ein­an­der ver­netzt ist. ARMY (»Ado­rable Repre­sen­ta­ti­ve M.C for Youth«), als welt­um­span­nen­der Fan­club, steht nach eige­nem Ver­ständ­nis für die freund­lich­ste Armee der Welt, ist aber ledig­lich Teil eines cle­ve­ren Markt­kon­zepts. BTS ver­mit­telt das Gefühl, dass man es gemein­sam schaf­fen kann, schwie­ri­ge Lebens­si­tua­tio­nen zu mei­stern. »Love yours­elf« als Mot­to lässt das Gefühl ent­ste­hen, dass sich end­lich jemand küm­mert, ermu­tigt, Anteil­nah­me am eige­nen Elend nimmt und Trost spen­det. Die­ses Kon­strukt neh­men die Fans als eine Gewiss­heit, dass hier jemand mit ihnen in dau­er­haf­ter Ver­bin­dung steht und sie unter­stützt, der Grund, wes­we­gen sich ARMY-Mit­glie­der einer gro­ßen, ver­schwo­re­nen, welt­wei­ten Fami­lie zuge­hö­rig fühlen.

ARMY stellt eine voll­kom­men neue Fan­kul­tur dar. ARMY kennt kei­ne Kon­kur­renz, kei­nen Wett­be­werb, bei dem es Ver­lie­rer gibt, ARMY ist ein »Hap­py Place«. Wer Net­tes postet, bekommt nur Net­tes zurück. Wer sich die­sem BTS-Uni­ver­sum zuge­hö­rig fühlt, sieht sich wert­ge­schätzt. Immer wird das Nar­ra­tiv wie­der­holt, dass man es schaf­fen kann, wenn man durch­hält und nicht auf­gibt. Per­sön­li­che Erleb­nis­se und Emp­fin­dun­gen ein­zel­ner Band­mit­glie­der, die sich aber aus­schließ­lich aus ihrer Musik ablei­ten und schein­bar mit ihrer Bio­gra­fie zusam­men­hän­gen, wer­den von der Com­mu­ni­ty auf­ge­so­gen. Auch trä­nen­rei­che Insze­nie­run­gen, die mit­ein­an­der geteilt wer­den, gehö­ren zum BTS-Uni­ver­sum. Die sym­bio­ti­sche Ver­bin­dung der Fan-Com­mu­ni­ty mit ihren Stars ist die Basis des enor­men Erfolgs. Was kann man gegen gut­aus­se­hen­de Jun­gen haben, die sich regel­mä­ßig rück­sichts­voll, beschei­den, mit­fühl­sam, dank­bar und zurück­hal­tend dar­stel­len. Das Stil­mit­tel einer char­man­ten Authen­ti­zi­tät ist das Bin­de­mit­tel zwi­schen Fans und Band.

Die Ver­trä­ge, die die Agen­tu­ren mit den Ido­len abschlie­ßen, beinhal­ten gro­ße Ein­griffs­rech­te in ihr Pri­vat­le­ben. So sind Skan­da­le, Dro­gen, sogar Bezie­hun­gen abso­lut tabu, um die Illu­si­on einer blitz­blan­ken Pro­jek­ti­ons­flä­che in kei­ner Wei­se zu beschä­di­gen. Die Fan­be­we­gung ver­langt ein der­ar­ti­ges Image zur Iden­ti­fi­ka­ti­on. Der freund­li­che und wert­schät­zen­de Umgang schafft eine fik­ti­ve Gegen­welt, die offen­bar Mil­lio­nen benö­ti­gen. Das Per­fi­de ist die Ver­quickung authen­ti­scher Gefühls­wel­ten mit einer kon­stru­ier­ten, fal­schen Wirk­lich­keit, die ehr­lich und mit­füh­lend daher­kommt, in Gang gesetzt von einem Medi­en-Manage­ment, des­sen Trieb­fe­der letzt­lich die Geld­ver­meh­rung ist.

Schick­sals­schlä­ge, mensch­li­che Nie­der­la­gen und see­li­sche Ver­let­zun­gen sind aber per se nicht nur indi­vi­du­el­le Lebens­er­fah­run­gen, son­dern kor­re­spon­die­ren oft genug mit gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­sen. Dass der welt­wei­te Kapi­ta­lis­mus von Aus­beu­tung lebt, ist eine Bin­sen­weis­heit. Die Ent­frem­dung der Pro­du­zen­ten von den Ergeb­nis­sen ihrer Arbeit, die Unmög­lich­keit über Abläu­fe, Pro­duk­ti­ons­ent­schei­dun­gen, Rah­men­be­din­gun­gen und Hier­ar­chien kol­lek­tiv Ein­fluss zu neh­men, sind eben­falls unbe­strit­ten. Das Abhän­gig­keits­ver­hält­nis, je nach Lage auf dem Arbeits­markt, ver­ur­sacht eine Viel­zahl von mensch­li­chen Ver­let­zun­gen, die der Ein­zel­ne ver­ar­bei­ten muss. Psy­chi­sche Erkran­kun­gen, gering­schät­zen­de Behand­lung bis hin zu respekt­lo­sem Ver­hal­ten, Beschimp­fun­gen und Belei­di­gun­gen, die Behand­lung, nicht als gleich­wer­ti­ger Mensch gese­hen zu wer­den, alles das ist Teil der Arbeits­welt und wirkt bis in den Frei­zeit­be­reich. Allein die KKH (Kauf­män­ni­sche Kran­ken­kas­se) ver­öf­fent­licht alar­mie­ren­de Zah­len, die auf eine dra­sti­sche Zunah­me von Fehl­zei­ten und Arbeits­un­fä­hig­keit durch see­li­sche Lei­den im ersten Halb­jahr 2023 hin­wei­sen, eine Stei­ge­rung zum Vor­jahr um 85 Pro­zent. Der Ver­lust eige­ner Hand­lungs­frei­heit durch gefor­der­te Ver­hal­tens­wei­sen, Rol­len und Erwar­tun­gen in der Arbeits­welt sind Fremd­be­stim­mung und for­men rudi­men­tä­re Indi­vi­du­en und Sub­jek­te, die durch Herr­schafts­ver­hält­nis­se, Waren­be­zie­hun­gen, Kon­kur­renz- und Lei­stungs­prin­zip bestimmt wer­den. Die­se Ver­hält­nis­se grei­fen tief in Inner­lich­keit und Auto­no­mie ein. Lebens­be­find­lich­kei­ten, die ein Gefühl von Aus­ge­lie­fert­sein ver­mit­teln und bis hin zu Pas­si­vi­tät füh­ren kön­nen, sind die emo­tio­na­le Basis für ein gro­ßes gesell­schaft­li­ches Bedürf­nis nach Wie­der­gut­ma­chung. Ver­let­zun­gen und Unbe­frie­dig­tes sind im Kern haus­ge­macht, also das Ergeb­nis gesell­schaft­li­cher Zustän­de. Begrif­fen wer­den sie aller­dings zu oft als ein rein indi­vi­du­el­les Pro­blem, mit dem sich der Ein­zel­ne allein gelas­sen fühlt, der Aus­gangs­punkt dafür, ein erträg­li­ches Leben und mensch­li­che Ver­hält­nis­se zurückzugewinnen.

Genau hier setzt das Pro­jekt BTS an und bie­tet eine Lösung durch den Auf­bau einer psy­cho­lo­gi­schen Abhän­gig­keits- und Macht­be­zie­hung im Bereich der sozia­len Repro­duk­ti­on, und das welt­weit. Im Ergeb­nis wer­den hier Bedürf­nis­se zweck­ent­frem­det und zu Geld gemacht. Das Pro­jekt BTS ist eine wei­te­re Stu­fe der kapi­ta­li­sti­schen Markt­er­wei­te­rung. BTS ist eine beson­de­re Abart spe­zi­fi­scher Über­grif­fig­keit ins Pri­va­te, eine neue Form der Aus­beu­tung und der Rea­li­sie­rung von Pro­fit durch psy­cho­lo­gi­sche Mani­pu­la­ti­on. Aber die­ses Sur­ro­gat, wie mas­sen­taug­lich es auch immer sein mag, ist ein untaug­li­ches Nar­ra­tiv und eine Sack­gas­se für ihre User.

Ver­än­de­run­gen zum Guten wer­den nur dort rea­li­stisch, wo Illu­sio­nen auf­ge­ge­ben und abge­schüt­telt und die wirk­li­chen Ver­hält­nis­se in Angriff genom­men wer­den. Opi­um für das Volk hilft dabei nicht.