Der Trauer werden nur noch zwei Wochen zugebilligt, dann ist sie als pathologisch anzusehen – so das Diagnose-Manual für psychische Störungen der (US)-amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (»DSM-5«, 2013). Eine Information, entnommen dem Booklet zur Ausstellung »Trauern. Von Verlust und Veränderung« in der Hamburger Kunsthalle – bis 14. Juni, Kuratorin: Brigitte Kölle.
Die Ausstellung beginnt mit einer Klanginstallation, einer Wehklage für ein totes Kind, die den Lichthof der Galerie der Gegenwart erfüllt. Die Künstlerin Susan Philipsz singt das alte irische Lied selbst. Der Klang kommt aus vier verschiedenen Raumhöhen des Hofes. Adrian Paci aus Albanien engagierte ein Klageweib (Vajtocja), um seinen eigenen Tod zu betrauern. Nach Minuten stand er wieder auf, alles nur Spiel im Video von 2002. Noch ein Video von Paci: »The Guardians« (2015). Das sind Kinder, die überwucherte Grabsteine säubern. Erst 1990 wurden im nordalbanischen Shkodra Friedhof und Kirche wieder eröffnet. Seit 1967 gab es keine Messe mehr, denn die »kommunistische Antireligionsstrategie mit ihrem Symbolverbot für religiöse Zeichen« habe es nicht zugelassen. Religiöse Zeichen – sind Gräber zerstört worden oder Kreuze? Oder hat nur niemand die Pflanzen beseitigt? Ich denke an Grabsteine auf jüdischen Friedhöfen, die geschändet wurden – heute. Nichts Historisches: Gegenwart. Noch einmal Paci mit dem Film »Interregnum« (2017), der kollektives Trauern in »kommunistischen Diktaturen« zeigen will. Aus deren staatlichen Fernseharchiven suchte er sich Trauerumzüge zusammen und collagierte sie. Er stellt die Frage, was staatlich angeordnet, manipuliert und was authentische, echte Trauer ist.
Nur im Westen gibt es authentische Empfindungen? Nachdem der Bruder von John F. Kennedy, Robert, am 6. Juni 1968 umgebracht worden war, überführte ein Trauerzug seine Leiche von New York nach Washington. An den Gleisen standen die Menschen, um dem beliebten Politiker das letzte Geleit zu geben. Drei Künstler dokumentierten das Ereignis in Foto, Film und Video. Aus dem »Funeral Train« heraus oder von außen auf den Zug. Trauer oder auch ein Event? Andy Warhols Siebdruck »Jackie« (1964) der trauernden Witwe John F. Kennedys in Silberglanz-Ausführung fehlt hier nicht.
Die US-Amerikanerin Anne Collier hat einen ganzen Raum zur Verfügung – wie viele der Ausstellenden. Ihre »Comic« genannten großen C-Prints heißen »Woman Crying« oder »Tear«. In starker Vergrößerung erscheint die grobe Rasterung, macht das Künstliche sichtbar. Tränen für die Werbung. »God«, eine Rauminszenierung von 2007 des isländischen Künstlers Ragnar Kjartansson, ist vor allem zu hören. Er selbst steht im raumfüllenden Video im Abendanzug auf der Bühne – dort alles in Rosa. Er singt auf Englisch 30 Minuten lang immer denselben Satz: »Der Kummer besiegt das Glück« – in Variationen und von einem Orchester begleitet. Ziemlich schrecklich. Ein kleinerer Raum, auch in Pink, ist zwei Künstlern aus Ghana gewidmet. Der Ältere, Ataa Oko, hat ein Leben lang Särge in Form von Skulpturen geformt. Mit 84 Jahren erst fing er an, Zeichnungen davon herzustellen. Achtzig Exemplare, oft Tierfiguren, in der Ausstellung. Kudjoe Affutus Minisärge in Form von Tigern, Autos, Schuhen oder gar Flaschen aus Holz – bei uns gibt es Vorschriften.
In einem anderen Stockwerk Maria Lassnig mit vier Ölbildern zum Tod ihrer Mutter. Sie selbst am Boden vor dem Leichnam, dunkelviolett gekleidet. Die weiße Hand der Mutter hebt sich wie ein Fremdkörper ab. Die Malerin kehrt der Mutter den Rücken zu, sieht nach vorn. Ein dicker Balken hat ein Auge durchstoßen, setzt sich hinter ihr fort wie ein Teil des Sarges. Ihre gekreuzten Hände haben alles Blut verloren, abgestorben. Mehr als jedes Video berühren die Gemälde.
Ein größerer Gegensatz als zwischen den Arbeiten von Maria Lassnig und Felix Gonzalez-Torres ist kaum denkbar. Von dem auf Kuba Geborenen und 1996 in Miami Gestorbenen werden drei »Untitled« genannte Werke gezeigt. Die Zusätze »Loverboy« beziehungsweise »Loverboys« hatten wohl Bedeutung für den Künstler. Der Zuschauer: ratlos. Der helle Raum durch zarte bläuliche Vorhänge von der Außenwelt getrennt. Ein Zitat aus dem im Museum kostenlos erhältlichen Info-Heftchen: »Die Berührung der beiden Stoffbahnen und ihr sanftes Aufliegen auf dem Boden evozieren einen Hauch Erotik …« Das ist eines der Kunstwerke. Das andere, auffälliger, liegt in der Mitte des Raumes am Boden wie ein hellblauer Teppich. Es sind Bonbons. Betrachtende dürfen davon essen. »Das Einverleiben kann als Verweis auf die christliche Eucharistie sowie den Lebenskreislauf aus Geburt, Tod und möglicherweise Auferstehung verstanden werden.« Ein sich »auflösendes Memento Mori«. Das Publikum kann mithelfen und lutschen. Das dritte Werk ist ein Stapel DIN-A4-Blätter mit ein paar kryptischen Worten, die keiner versteht, der nicht die Hintergründe kennt.
Der Text dagegen, der auf einer Flagge steht: »A MAN WAS LYNCHED BY POLICE YESTERDAY«, braucht keine Erklärung, wenn man weiß, dass es sich um einen Schwarzen, Walter Scott, in den USA handelt, der wegen eines Verkehrsdelikts erschossen wurde. Dann ein anonymes Foto von der Trauerfeier für den 14-jährigen Emmet Till, 1955. Seine Mutter wollte, dass alle den geschändeten Körper ihres Sohnes sehen, auch als Beweisstück im Prozess.
Die Ausstellung ist in Kapitel eingeteilt. Eines heißt: »Die Unfähigkeit zu trauern«. Doch um das bekannte Buch geht es hier nicht. In einem dunklen Raum zwei Arbeiten von Christian Boltanski, die eher die düstere Stimmung widergeben, Assoziationen anregen wollen als etwas zu benennen. Wer sich den kleinstformatigen Film »Returning« (2004, 16mm-Loop) von Susan Philipsz ansieht und nicht weiß, dass es sich um das Karl-Liebknecht-Denkmal handelt, das da fast unscheinbar im Berliner Tiergarten steht, geht vielleicht vorüber. So wie die Passanten im Film, die vorbeispazieren, joggen, auch mal stehenbleiben. Das Denkmal ist so weit entfernt wie für viele der Mord am 15. Januar 1919 – auch an Rosa Luxemburg. Das zweisprachige Booklet weist darauf hin.
Die C-Prints des syrischen Künstlers Khaled Barakeh, der in Berlin lebt, hängen etwas ungünstig in einem schmalen Flur. Seine Serie »Untitled Images« (2014) führt in den Syrien-Krieg, zeigt Szenen am Rande: Trauer über tote Kinder. Sie werden in den Armen gehalten wie in christlichen Pieta-Bildern. Barakeh lässt die Toten unsichtbar werden, schneidet sie mit dem Skalpell aus, so dass nur das weiße Nichts übrig bleibt, manchmal auch ein Kleidungsstück.
Im Erdgeschoss eine große Video-Arbeit von Michael Sailstorfer, »Tränen« genannt (2015). Kein Mensch, ein Haus wird zerstört. Vom Himmel fallen wie Bomben blaue Abriss-Tränen auf ein spitzes Dach, verschwinden wieder. Die schweren Tropfen verrichten ihr Werk in acht Minuten und 33 Sekunden – im Kopfhörer ist das Krachen zu hören. In Zeitlupe wird ein altes Haus umgebracht.