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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Trauerbonbons lutschen

Der Trau­er wer­den nur noch zwei Wochen zuge­bil­ligt, dann ist sie als patho­lo­gisch anzu­se­hen – so das Dia­gno­se-Manu­al für psy­chi­sche Stö­run­gen der (US)-amerikanischen Psych­ia­tri­schen Ver­ei­ni­gung (»DSM-5«, 2013). Eine Infor­ma­ti­on, ent­nom­men dem Book­let zur Aus­stel­lung »Trau­ern. Von Ver­lust und Ver­än­de­rung« in der Ham­bur­ger Kunst­hal­le – bis 14. Juni, Kura­to­rin: Bri­git­te Kölle.

Die Aus­stel­lung beginnt mit einer Klang­in­stal­la­ti­on, einer Weh­kla­ge für ein totes Kind, die den Licht­hof der Gale­rie der Gegen­wart erfüllt. Die Künst­le­rin Susan Phil­ip­sz singt das alte iri­sche Lied selbst. Der Klang kommt aus vier ver­schie­de­nen Raum­hö­hen des Hofes. Adri­an Paci aus Alba­ni­en enga­gier­te ein Kla­ge­weib (Vaj­toc­ja), um sei­nen eige­nen Tod zu betrau­ern. Nach Minu­ten stand er wie­der auf, alles nur Spiel im Video von 2002. Noch ein Video von Paci: »The Guar­di­ans« (2015). Das sind Kin­der, die über­wu­cher­te Grab­stei­ne säu­bern. Erst 1990 wur­den im nord­al­ba­ni­schen Shko­dra Fried­hof und Kir­che wie­der eröff­net. Seit 1967 gab es kei­ne Mes­se mehr, denn die »kom­mu­ni­sti­sche Anti­re­li­gi­ons­stra­te­gie mit ihrem Sym­bol­ver­bot für reli­giö­se Zei­chen« habe es nicht zuge­las­sen. Reli­giö­se Zei­chen – sind Grä­ber zer­stört wor­den oder Kreu­ze? Oder hat nur nie­mand die Pflan­zen besei­tigt? Ich den­ke an Grab­stei­ne auf jüdi­schen Fried­hö­fen, die geschän­det wur­den – heu­te. Nichts Histo­ri­sches: Gegen­wart. Noch ein­mal Paci mit dem Film »Inter­re­gnum« (2017), der kol­lek­ti­ves Trau­ern in »kom­mu­ni­sti­schen Dik­ta­tu­ren« zei­gen will. Aus deren staat­li­chen Fern­seh­ar­chi­ven such­te er sich Trau­er­um­zü­ge zusam­men und col­la­gier­te sie. Er stellt die Fra­ge, was staat­lich ange­ord­net, mani­pu­liert und was authen­ti­sche, ech­te Trau­er ist.

Nur im Westen gibt es authen­ti­sche Emp­fin­dun­gen? Nach­dem der Bru­der von John F. Ken­ne­dy, Robert, am 6. Juni 1968 umge­bracht wor­den war, über­führ­te ein Trau­er­zug sei­ne Lei­che von New York nach Washing­ton. An den Glei­sen stan­den die Men­schen, um dem belieb­ten Poli­ti­ker das letz­te Geleit zu geben. Drei Künst­ler doku­men­tier­ten das Ereig­nis in Foto, Film und Video. Aus dem »Fun­e­ral Train« her­aus oder von außen auf den Zug. Trau­er oder auch ein Event? Andy War­hols Sieb­druck »Jackie« (1964) der trau­ern­den Wit­we John F. Ken­ne­dys in Sil­ber­glanz-Aus­füh­rung fehlt hier nicht.

Die US-Ame­ri­ka­ne­rin Anne Col­lier hat einen gan­zen Raum zur Ver­fü­gung – wie vie­le der Aus­stel­len­den. Ihre »Comic« genann­ten gro­ßen C-Prints hei­ßen »Woman Cry­ing« oder »Tear«. In star­ker Ver­grö­ße­rung erscheint die gro­be Raste­rung, macht das Künst­li­che sicht­bar. Trä­nen für die Wer­bung. »God«, eine Raum­in­sze­nie­rung von 2007 des islän­di­schen Künst­lers Rag­nar Kjar­t­ans­son, ist vor allem zu hören. Er selbst steht im raum­fül­len­den Video im Abend­an­zug auf der Büh­ne – dort alles in Rosa. Er singt auf Eng­lisch 30 Minu­ten lang immer den­sel­ben Satz: »Der Kum­mer besiegt das Glück« – in Varia­tio­nen und von einem Orche­ster beglei­tet. Ziem­lich schreck­lich. Ein klei­ne­rer Raum, auch in Pink, ist zwei Künst­lern aus Gha­na gewid­met. Der Älte­re, Ataa Oko, hat ein Leben lang Sär­ge in Form von Skulp­tu­ren geformt. Mit 84 Jah­ren erst fing er an, Zeich­nun­gen davon her­zu­stel­len. Acht­zig Exem­pla­re, oft Tier­fi­gu­ren, in der Aus­stel­lung. Kud­joe Affu­tus Mini­sär­ge in Form von Tigern, Autos, Schu­hen oder gar Fla­schen aus Holz – bei uns gibt es Vorschriften.

In einem ande­ren Stock­werk Maria Lass­nig mit vier Ölbil­dern zum Tod ihrer Mut­ter. Sie selbst am Boden vor dem Leich­nam, dun­kel­vio­lett geklei­det. Die wei­ße Hand der Mut­ter hebt sich wie ein Fremd­kör­per ab. Die Male­rin kehrt der Mut­ter den Rücken zu, sieht nach vorn. Ein dicker Bal­ken hat ein Auge durch­sto­ßen, setzt sich hin­ter ihr fort wie ein Teil des Sar­ges. Ihre gekreuz­ten Hän­de haben alles Blut ver­lo­ren, abge­stor­ben. Mehr als jedes Video berüh­ren die Gemälde.

Ein grö­ße­rer Gegen­satz als zwi­schen den Arbei­ten von Maria Lass­nig und Felix Gon­za­lez-Tor­res ist kaum denk­bar. Von dem auf Kuba Gebo­re­nen und 1996 in Miami Gestor­be­nen wer­den drei »Untit­led« genann­te Wer­ke gezeigt. Die Zusät­ze »Lover­boy« bezie­hungs­wei­se »Lover­boys« hat­ten wohl Bedeu­tung für den Künst­ler. Der Zuschau­er: rat­los. Der hel­le Raum durch zar­te bläu­li­che Vor­hän­ge von der Außen­welt getrennt. Ein Zitat aus dem im Muse­um kosten­los erhält­li­chen Info-Heft­chen: »Die Berüh­rung der bei­den Stoff­bah­nen und ihr sanf­tes Auf­lie­gen auf dem Boden evo­zie­ren einen Hauch Ero­tik …« Das ist eines der Kunst­wer­ke. Das ande­re, auf­fäl­li­ger, liegt in der Mit­te des Rau­mes am Boden wie ein hell­blau­er Tep­pich. Es sind Bon­bons. Betrach­ten­de dür­fen davon essen. »Das Ein­ver­lei­ben kann als Ver­weis auf die christ­li­che Eucha­ri­stie sowie den Lebens­kreis­lauf aus Geburt, Tod und mög­li­cher­wei­se Auf­er­ste­hung ver­stan­den wer­den.« Ein sich »auf­lö­sen­des Memen­to Mori«. Das Publi­kum kann mit­hel­fen und lut­schen. Das drit­te Werk ist ein Sta­pel DIN-A4-Blät­ter mit ein paar kryp­ti­schen Wor­ten, die kei­ner ver­steht, der nicht die Hin­ter­grün­de kennt.

Der Text dage­gen, der auf einer Flag­ge steht: »A MAN WAS LYNCHED BY POLICE YESTERDAY«, braucht kei­ne Erklä­rung, wenn man weiß, dass es sich um einen Schwar­zen, Wal­ter Scott, in den USA han­delt, der wegen eines Ver­kehrs­de­likts erschos­sen wur­de. Dann ein anony­mes Foto von der Trau­er­fei­er für den 14-jäh­ri­gen Emmet Till, 1955. Sei­ne Mut­ter woll­te, dass alle den geschän­de­ten Kör­per ihres Soh­nes sehen, auch als Beweis­stück im Prozess.

Die Aus­stel­lung ist in Kapi­tel ein­ge­teilt. Eines heißt: »Die Unfä­hig­keit zu trau­ern«. Doch um das bekann­te Buch geht es hier nicht. In einem dunk­len Raum zwei Arbei­ten von Chri­sti­an Bol­tan­ski, die eher die düste­re Stim­mung wider­ge­ben, Asso­zia­tio­nen anre­gen wol­len als etwas zu benen­nen. Wer sich den kleinst­for­ma­ti­gen Film »Retur­ning« (2004, 16mm-Loop) von Susan Phil­ip­sz ansieht und nicht weiß, dass es sich um das Karl-Lieb­knecht-Denk­mal han­delt, das da fast unschein­bar im Ber­li­ner Tier­gar­ten steht, geht viel­leicht vor­über. So wie die Pas­san­ten im Film, die vor­bei­spa­zie­ren, jog­gen, auch mal ste­hen­blei­ben. Das Denk­mal ist so weit ent­fernt wie für vie­le der Mord am 15. Janu­ar 1919 – auch an Rosa Luxem­burg. Das zwei­spra­chi­ge Book­let weist dar­auf hin.

Die C-Prints des syri­schen Künst­lers Kha­led Bara­keh, der in Ber­lin lebt, hän­gen etwas ungün­stig in einem schma­len Flur. Sei­ne Serie »Untit­led Images« (2014) führt in den Syri­en-Krieg, zeigt Sze­nen am Ran­de: Trau­er über tote Kin­der. Sie wer­den in den Armen gehal­ten wie in christ­li­chen Pie­ta-Bil­dern. Bara­keh lässt die Toten unsicht­bar wer­den, schnei­det sie mit dem Skal­pell aus, so dass nur das wei­ße Nichts übrig bleibt, manch­mal auch ein Kleidungsstück.

Im Erd­ge­schoss eine gro­ße Video-Arbeit von Micha­el Sails­tor­fer, »Trä­nen« genannt (2015). Kein Mensch, ein Haus wird zer­stört. Vom Him­mel fal­len wie Bom­ben blaue Abriss-Trä­nen auf ein spit­zes Dach, ver­schwin­den wie­der. Die schwe­ren Trop­fen ver­rich­ten ihr Werk in acht Minu­ten und 33 Sekun­den – im Kopf­hö­rer ist das Kra­chen zu hören. In Zeit­lu­pe wird ein altes Haus umgebracht.