Lothar Hahn ist im Alter von 76 Jahren überraschend verstorben. Viele von uns, vor allem die Älteren, verbinden seinen Namen mit der Fortschreibung der »Risikostudie Kernkraftwerke«. Im vollen Titel hieß diese erste nicht-staatliche Studie »Analytische Weiterentwicklung zur Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke«. Lothar Hahn hatte sie zusammen mit seinem Kollegen Michael Sailer 1980 verfasst. Mit diesem Projekt erhielt das Öko-Institut seinen ersten großen staatlichen Auftrag. Kurz zuvor war der erste Band der »Risikostudie Kernkraft« erschienen. Diese Studie hatte zum Ziel, unter Berücksichtigung deutscher Verhältnisse das mit Unfällen in Atomkraftwerken verbundene Risiko zu ermitteln. Hauptauftragnehmer war die Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS), ihr langjähriger Geschäftsführer, Prof. Adolf Birkhofer, übernahm die wissenschaftliche Leitung.
Ein Kernsatz der offiziellen Lesart des nuklearen Risikos lautete: »Das unfallbedingte Risiko wird im Wesentlichen durch Unfälle bestimmt, die zum Kernschmelzen und im weiteren Verlauf zum Versagen des Sicherheitsbehälters führen. Die Eintrittshäufigkeit für einen Kernschmelzunfall wird mit etwa 1:10 000 pro Reaktorbetriebsjahr abgeschätzt.«
In der Anti-Atom-Bewegung, die nach der Auseinandersetzung um das badische AKW Wyhl auch in Norddeutschland »angekommen« war und mit dem Bau des AKW Brokdorf – in der Folge dann auch Gorleben – einen Kristallisationspunkt fand, wurde dieser Satz immer wieder zitiert: Denn erstens sah man darin die Bestätigung, dass die AKWs schon im »bestimmungsmäßigen Betrieb« eine wirkliche »Zeitbombe« sind, man brauchte ja nur die Zahl der weltweiten Reaktoren und deren Laufzeit in einer simplen Rechenaufgabe auf diese »Eintrittshäufigkeit« herunterzubrechen. Zweitens war klar, dass sich der Zufall nicht an die statistischen Werte halten würde – siehe in den folgenden Jahren die »Schlagfolge« der schweren Havarien mit Kernschmelze in Three Miles Island (1979), Tschernobyl (1986) und Fukushima Daiichi (2011). Es ging, das wurde schnell klar, bei der Bewertung der Nuklearrisiken um eine simple Kosten-Nutzung-Rechnung und um Beschwichtigung.
Das aber war nicht die Maxime von Lothar Hahn. Ihm ging es um die technischen Risiken und die Auswirkungen von Unfällen. Wegen ihres Umfangs, 2.500 Seiten in drei Bänden, ihres Gewichts von vier Kilo und ihres roten Einbands wurde die Studie intern selbstironisch als »rotes Telefonbuch« bezeichnet, schreibt das Öko-Institut in seinem Nachruf.
Hahn, der sich bereits seit Mitte der 1970er Jahre in der Anti-AKW-Bewegung engagierte, hatte dabei immer den Anspruch, die Hochrisikotechnologie nicht nur im gesellschaftlichen Protest zu blockieren, sondern die Kritik auch wissenschaftlich zu begründen. Mit seinen Arbeiten trug er wesentlich dazu bei, die Risikodebatte rund um die Atomkraft zu professionalisieren und auf Augenhöhe mit den Befürwortern der Atomkraft zu führen. Seine zahlreichen Arbeiten zur Sicherheit bzw. zu den Risiken der deutschen Atomkraftwerke, zur Lagerung von Brennelementen und zu Endlagerkonzepten insgesamt sowie zur Beurteilung von Sicherheitskonzepten im In- und Ausland trugen dazu bei, Defizite aufzudecken, und verhinderten Irrwege in der technologischen Weiterentwicklung.
Nach mehr als 20 Jahren am Öko-Institut wechselte Hahn 2002 in die Geschäftsführung der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS). In genau die Gesellschaft, der er 20 Jahre zuvor Paroli geboten hatte. Das wurde in der Anti-Atom-Szene durchaus kritisch gesehen, einigen diente es sogar als Beleg dafür, dass durch die Einbindung atomkritischer Persönlichkeiten ihre »Zähmung« betrieben werden sollte. Man kann es aber durchaus anders werten: dass Atom-Kritiker*innen nämlich endlich wichtige Positionen eroberten und wie ein Sauerteig gesellschaftliche Institutionen durchdrangen.
Dort sowie in zahlreichen bedeutenden Gremien, darunter die Reaktor-Sicherheitskommission (RSK) des Bundesumweltministeriums, setzte er sich weiter intensiv für den Schutz vor den Gefahren nuklearer Anlagen ein. Einen Schlusspunkt setzte er zusammen mit Joachim Radkau in dem Buch »Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft«, das 2013 erschien.
Der deutsche Atomausstieg war für ihn nur folgerichtig und hätte sich schon deutlich abgezeichnet, als Ende einer Folge von Fehlentwicklungen, zu denen er – fast seherisch – das Gorleben-Desaster zählte; der Salzstock Gorleben wurde tatsächlich sieben Jahre später bei der Endlagersuche ausrangiert. Dazu kamen aus seiner Sicht strategische Fehlentscheidungen wie die Wahl des Hochtemperatur-Reaktors THTR 300 in Hamm, die anfällige Siedewasserbaulinie 69, der Dauerstreit um das AKW Biblis zwischen der Betreibergesellschaft RWE und der hessischen Landesregierung. Nicht zuletzt machten die kostspieligen Sicherheitsauflagen in der Nuklearindustrie deren Nutzung zu einem wirtschaftlichen Risiko.
Sein Schlusskapitel ist ein Appell, auf die Regenerativen zu setzen und auf die Suffizienz. Er zitierte einen Stoßseufzer von Carl Friedrich von Weizsäcker aus dem Jahr 1977: Wir wären alle glücklicher, wenn wir unseren Lebensstil so veränderten, dass »wir mit weniger Energie auskommen würden«. Weizsäcker fügte hinzu, »aber wir werden es nicht tun; denn wir wollen unglücklich sein«. Doch Lothar Hahn las das gegen den Strich, und sein letzter Satz lautet: »Aber vermutlich war das bei diesem weisen Mann als Provokation gemeint.«