Die Ansprachen zu Weihnachten und zu 2023 wurden pflichtgemäß absolviert. Bundespräsident Steinmeier forderte einen »gerechten Frieden« zur Beendigung des russischen Krieges gegen die Ukraine ein, »der weder den Landraub belohnt noch die Menschen in der Ukraine der Willkür und Gewalt ihrer Besatzer überlässt«. Vom Kanzler war die Erkenntnis zu hören: »Putin führt einen imperialistischen Angriffskrieg, mitten in Europa.«
Beiden scheint DIE ZEIT entgangen zu sein. Dort hatte Ex-Kanzlerin Angela Merkel eingestanden, dass mit dem Minsk-Abkommen nur Zeit für die Aufrüstung der Ukraine gewonnen werden sollte. »Es war uns (?) allen klar, dass das ein eingefrorener Konflikt war, dass das Problem nicht gelöst war, aber genau das hat der Ukraine wertvolle Zeit gegeben.« Ihr damaliger Außenminister war der heutige Bundespräsident und Mitverfasser dieses Konstrukts. Und Scholz offenbart Nachholbedarf in Sachen Imperialismus. Uljanow = Russe = Lenin muss es nicht gleich sein, allein das Erkennen der globalen Strategie der USA seit 1945 würde seinen Horizont erheblich weiten. Von Afghanistan gar nicht zu reden. Dort ging es nie um Freiheit, Demokratie und Menschenrechte, solange die Taliban gegen »die Russen« nützlich waren. Als unsinkbarer Flugzeugträger und Stützpunkt war es erste Wahl mit Blick auf Russland, den Iran, Kasachstan, China sowie andere Länder der Region.
Trau, schau, wem!
Im bundesdeutschen Alltag grassiert infolge der russophoben Staatsdoktrin eine Art McCarthy-Fieber. Mit einem Kommentar in den ARD-Tagesthemen zur plötzlichen USA-Reise Selenskyjs erntete WDR-Redakteurin Gudrun Engel harsche Kritik. Sie wertete den Kurztrip als einen Akt der Verzweiflung und erlaubte sich die Meinung, diese Reise habe »die Welt keinen Meter näher an ein Ende des Krieges gebracht«. Bislang habe er sich per Video durch die Parlamente geschaltet. Das reichte nun offenbar nicht mehr. Also sei er in die USA geflogen, zu seinem Hauptgeldgeber. Der versicherte seinem Schützling, dass die Ukraine mit Hilfe der USA in Friedensverhandlungen erfolgreich sei, weil sie auf dem Schlachtfeld gewinnen werde. Bei der Entscheidung über den Zeitpunkt solcher Gespräche lasse er ihm freie Hand.
Gabriele Krone-Schmalz, ehemalige ARD-Korrespondentin in Moskau und anerkannte Autorin, soll in Bezug auf diesen Krieg eine Schuld-Last-Umkehr betreiben. Nach einem Forum der Heidelberger Rhein-Neckar-Zeitung wurde sie als »Sprachrohr Putin’scher Propaganda« (Tanja Penter, Heidelberger Professorin für osteuropäische Geschichte) oder als »deutsche Synchronstimme Putins« (Osteuropaforscher Klaus Gestwa, Tübingen) tituliert.
In Kiew präsentiert Selenskyj als Stimme seines überseeischen Herrn ein anderes aggressives Szenario. Jüngst folgte ein Ukas an die Weltgemeinschaft, Moskau vor ein internationales Tribunal zu stellen bzw. mit einem Sondertribunal russische Kriegsverbrechen zu verfolgen. Seine Maximalforderung: Ausschluss der Russischen Föderation aus dem UN-Sicherheitsrat und den Vereinten Nationen.
Die Moskauer Reaktion kam stante pede. Dmitri Medwedew, Vize des Nationalen Sicherheitsrates und selbst ehemals Staatschef im Kreml, lieferte in der Rossijskaja Gazeta eine düstere Prognose. »Für die nächsten Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte können wir normale Beziehungen mit dem Westen vergessen«, ließ er in der offiziellen Zeitung der russischen Regierung verlauten. »Die Illusionen sind vorbei, denn heute sind wir vom Westen so weit entfernt wie noch nie.«
Außenminister Sergej Lawrow legte in einem Interview und im Fernsehen nach: »Hauptnutznießer in diesem ‹brennenden Konflikt› sind die USA, die daraus den maximalen Nutzen sowohl im wirtschaftlichen als auch militärisch-strategischen Bereich ziehen wollen«. Die USA würden alles unternehmen, um den Konflikt zu verschärfen. Allein die in diesem Jahr geleistete militärische Unterstützung von 40 Milliarden Dollar übersteige den Verteidigungshaushalt mancher europäischen Staaten. Auf der anderen Seite versuche Kiew, »die Amerikaner und andere Nato-Mitglieder tiefer in den Strudel des Konflikts zu ziehen, in der Hoffnung, einen überstürzten Zusammenstoß mit der russischen Armee unvermeidlich zu machen«. Deshalb wohl brachte er Überlegungen ins Spiel, dass die Lieferwege für westliche Waffen wie »Eisenbahnstrecken, Brücken und Tunnel« erschwert, unterbrochen oder im Idealfall ganz gestoppt werden könnten.
Alle Seiten pokern hochbrisant! Das Misstrauen des Kremls in die westliche Vertragstreue hat Gründe. Die USA hatten bereits unter Präsident Trump zahlreiche internationale Abkommen aufgekündigt. So den INF-Vertrag über das Verbot landgestützter atomarer Mittelstreckenwaffen, der für Europa der wichtigste Vertrag zur atomaren Abrüstung war. Erinnert sei an die fadenscheinigen Begründungen zum Ausstieg aus dem »open sky«-Vertrag, der die gegenseitige Überwachung »von Vancouver bis Wladiwostok« ermöglichte. An den Flügen nahmen sowohl Vertreter der beobachtenden als auch der beobachteten Staaten teil. Russlands »schamloser« Verstoß war, dass es Kontrollflüge über der Exklave Kaliningrad begrenzt und »die Transparenz in einem sehr militarisierten Gebiet reduziert« habe. Sollte es ausgerechnet hiervon keine Satellitenaufnahmen bei Maxar Technologies aus Westminster (US-Bundesstaat Colorado) oder anderen kosmischen Dienstleistern für Pentagon & Co. gegeben haben? Bereits 1979(!) zeigte eine Aufnahme eines US-Spionagesatelliten den Moskauer Flughafen Domodedowo in 150facher Vergrößerung. Die Süddeutsche Zeitung konstatierte, früher hätten nur Geheimdienste superscharfe Fotos aus dem All, heute könne sie jeder von Firmen wie Maxar kaufen.
Die Realitäten des Krieges in der Ukraine offenbaren seit dem 24. Februar 2022, dass es ein super gerüstetes, militärisch überlegenes Russland so nicht gibt. Es geistert seit 1990 als propagandistisches Phantom Washingtons herum. Ab 2007 hatten Medwedew und sein damaliger Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow den Streitkräften die Pferdekur einer »Reform« mit Verschlankung und Schrumpfung verordnet. Ein militärisches Gleichgewicht mit dem Westen darf infrage gestellt werden. Einzig das Atomwaffenpotential besitzt Gewicht.
Das Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) wies 2021 nach, dass die USA sich weiterhin das mit Abstand größte Militärbudget mit 778 Milliarden US-Dollar leisten und einen Anteil von rund 39 Prozent an den weltweiten Militärausgaben halten. Russland rangiert mit 61,7 Milliarden US-Dollar und einem Anteil von 3,1 Prozent auf Platz 4 der Liste. Die Nato sieht Russland dennoch als »die bedeutendste und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Bündnispartner und für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum« (https://www.heise.de/tp/features/So-sieht-das-militaerische-Gleichgewicht-zwischen-Russland-und-Nato-aus-7185665.html).
Im Dezember 2014 schon hatte ein Appell an die Bundesregierung, an die Bundestagsabgeordneten und die Medien für Furore gesorgt, weil sich die Unterzeichner für eine andere deutsche Russlandpolitik einsetzten sowie Ausgleich und Dialog mit Russland im Kontext des (damaligen!) russischen Kriegs in der Ukraine anmahnten. Initiiert hatten ihn der frühere Kanzlerberater Horst Teltschik (CDU), der ehemalige Verteidigungsstaatssekretär Walther Stützle (SPD) und die frühere Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne). Zu den Unterzeichnern zählten u.a. Prominente aus West und Ost wie Mario Adorf, Luitpold Prinz von Bayern, Klaus Maria Brandauer, Herta Däubler-Gmelin, Eberhard Diepgen, Erhard Eppler, Alt-Bundespräsident Roman Herzog, Christoph Hein, Burkhard Hirsch, Sigmund Jähn, Uli Jörges, Margot Käßmann, Gabriele Krone-Schmalz, Lothar de Maizière, Otto Schily, Friedrich Schorlemmer, Alt-Kanzler Gerhard Schröder, Hanna Schygulla, Manfred Stolpe, Hans-Jochen Vogel, Ernst Ulrich von Weizsäcker und Wim Wenders.
Waren das auch alles »Putins Sprachrohre«? Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung verwies damals auf die Befürchtung, die schon Helmut Kohl geäußert habe, dass alles wieder verspielt werde, was gewonnen worden sei. Russland dürfe nicht aus Europa herausgedrängt werden. Die Ausgrenzung Russlands sei undiplomatisches »polternd-herablassendes Gehabe«. Europa, das Russland einschließe, müsse sich wieder öffnen.
Präsident Putin hat ebenfalls eine Neujahrsrede gehalten – diesmal in einem Militärstützpunkt vor Soldaten, statt im Kreml. Dem Westen warf er vor, Russland zerstören zu wollen und die Ukraine dafür zu benutzen. »Jahrelang haben die westlichen Eliten uns allen scheinheilig versichert, dass sie friedliche Absichten haben, einschließlich der Lösung des schwierigsten Konflikts im Donbass«, sagte Putin. Unlängst hatte er zum Merkel-Interview erklärt: »Der Westen hat gelogen, was den Frieden angeht, und sich auf eine Aggression vorbereitet. Und er schämt sich heute nicht einmal mehr, das offen zuzugeben.«
Trau, schau, wem – in Berlin, Washington, Kiew, Paris und Moskau.