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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Trau, schau, wem!

Die Anspra­chen zu Weih­nach­ten und zu 2023 wur­den pflicht­ge­mäß absol­viert. Bun­des­prä­si­dent Stein­mei­er for­der­te einen »gerech­ten Frie­den« zur Been­di­gung des rus­si­schen Krie­ges gegen die Ukrai­ne ein, »der weder den Land­raub belohnt noch die Men­schen in der Ukrai­ne der Will­kür und Gewalt ihrer Besat­zer über­lässt«. Vom Kanz­ler war die Erkennt­nis zu hören: »Putin führt einen impe­ria­li­sti­schen Angriffs­krieg, mit­ten in Europa.«

Bei­den scheint DIE ZEIT ent­gan­gen zu sein. Dort hat­te Ex-Kanz­le­rin Ange­la Mer­kel ein­ge­stan­den, dass mit dem Minsk-Abkom­men nur Zeit für die Auf­rü­stung der Ukrai­ne gewon­nen wer­den soll­te. »Es war uns (?) allen klar, dass das ein ein­ge­fro­re­ner Kon­flikt war, dass das Pro­blem nicht gelöst war, aber genau das hat der Ukrai­ne wert­vol­le Zeit gege­ben.« Ihr dama­li­ger Außen­mi­ni­ster war der heu­ti­ge Bun­des­prä­si­dent und Mit­ver­fas­ser die­ses Kon­strukts. Und Scholz offen­bart Nach­hol­be­darf in Sachen Impe­ria­lis­mus. Ulja­now = Rus­se = Lenin muss es nicht gleich sein, allein das Erken­nen der glo­ba­len Stra­te­gie der USA seit 1945 wür­de sei­nen Hori­zont erheb­lich wei­ten. Von Afgha­ni­stan gar nicht zu reden. Dort ging es nie um Frei­heit, Demo­kra­tie und Men­schen­rech­te, solan­ge die Tali­ban gegen »die Rus­sen« nütz­lich waren. Als unsink­ba­rer Flug­zeug­trä­ger und Stütz­punkt war es erste Wahl mit Blick auf Russ­land, den Iran, Kasach­stan, Chi­na sowie ande­re Län­der der Region.

Trau, schau, wem!

Im bun­des­deut­schen All­tag gras­siert infol­ge der rus­so­pho­ben Staats­dok­trin eine Art McCar­thy-Fie­ber. Mit einem Kom­men­tar in den ARD-Tages­the­men zur plötz­li­chen USA-Rei­se Selen­sky­js ern­te­te WDR-Redak­teu­rin Gud­run Engel har­sche Kri­tik. Sie wer­te­te den Kurz­trip als einen Akt der Ver­zweif­lung und erlaub­te sich die Mei­nung, die­se Rei­se habe »die Welt kei­nen Meter näher an ein Ende des Krie­ges gebracht«. Bis­lang habe er sich per Video durch die Par­la­men­te geschal­tet. Das reich­te nun offen­bar nicht mehr. Also sei er in die USA geflo­gen, zu sei­nem Haupt­geld­ge­ber. Der ver­si­cher­te sei­nem Schütz­ling, dass die Ukrai­ne mit Hil­fe der USA in Frie­dens­ver­hand­lun­gen erfolg­reich sei, weil sie auf dem Schlacht­feld gewin­nen wer­de. Bei der Ent­schei­dung über den Zeit­punkt sol­cher Gesprä­che las­se er ihm freie Hand.

Gabrie­le Kro­ne-Schmalz, ehe­ma­li­ge ARD-Kor­re­spon­den­tin in Mos­kau und aner­kann­te Autorin, soll in Bezug auf die­sen Krieg eine Schuld-Last-Umkehr betrei­ben. Nach einem Forum der Hei­del­ber­ger Rhein-Neckar-Zei­tung wur­de sie als »Sprach­rohr Putin’scher Pro­pa­gan­da« (Tan­ja Pen­ter, Hei­del­ber­ger Pro­fes­so­rin für ost­eu­ro­päi­sche Geschich­te) oder als »deut­sche Syn­chron­stim­me Putins« (Ost­eu­ro­pa­for­scher Klaus Gest­wa, Tübin­gen) tituliert.

In Kiew prä­sen­tiert Selen­skyj als Stim­me sei­nes über­see­ischen Herrn ein ande­res aggres­si­ves Sze­na­rio. Jüngst folg­te ein Ukas an die Welt­ge­mein­schaft, Mos­kau vor ein inter­na­tio­na­les Tri­bu­nal zu stel­len bzw. mit einem Son­der­tri­bu­nal rus­si­sche Kriegs­ver­bre­chen zu ver­fol­gen. Sei­ne Maxi­mal­for­de­rung: Aus­schluss der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on aus dem UN-Sicher­heits­rat und den Ver­ein­ten Nationen.

Die Mos­kau­er Reak­ti­on kam stan­te pede. Dmit­ri Med­we­dew, Vize des Natio­na­len Sicher­heits­ra­tes und selbst ehe­mals Staats­chef im Kreml, lie­fer­te in der Ros­s­ijs­ka­ja Gaze­ta eine düste­re Pro­gno­se. »Für die näch­sten Jah­re, viel­leicht sogar Jahr­zehn­te kön­nen wir nor­ma­le Bezie­hun­gen mit dem Westen ver­ges­sen«, ließ er in der offi­zi­el­len Zei­tung der rus­si­schen Regie­rung ver­lau­ten. »Die Illu­sio­nen sind vor­bei, denn heu­te sind wir vom Westen so weit ent­fernt wie noch nie.«

Außen­mi­ni­ster Ser­gej Law­row leg­te in einem Inter­view und im Fern­se­hen nach: »Haupt­nutz­nie­ßer in die­sem ‹bren­nen­den Kon­flikt› sind die USA, die dar­aus den maxi­ma­len Nut­zen sowohl im wirt­schaft­li­chen als auch mili­tä­risch-stra­te­gi­schen Bereich zie­hen wol­len«. Die USA wür­den alles unter­neh­men, um den Kon­flikt zu ver­schär­fen. Allein die in die­sem Jahr gelei­ste­te mili­tä­ri­sche Unter­stüt­zung von 40 Mil­li­ar­den Dol­lar über­stei­ge den Ver­tei­di­gungs­haus­halt man­cher euro­päi­schen Staa­ten. Auf der ande­ren Sei­te ver­su­che Kiew, »die Ame­ri­ka­ner und ande­re Nato-Mit­glie­der tie­fer in den Stru­del des Kon­flikts zu zie­hen, in der Hoff­nung, einen über­stürz­ten Zusam­men­stoß mit der rus­si­schen Armee unver­meid­lich zu machen«. Des­halb wohl brach­te er Über­le­gun­gen ins Spiel, dass die Lie­fer­we­ge für west­li­che Waf­fen wie »Eisen­bahn­strecken, Brücken und Tun­nel« erschwert, unter­bro­chen oder im Ide­al­fall ganz gestoppt wer­den könnten.

Alle Sei­ten pokern hoch­bri­sant! Das Miss­trau­en des Kremls in die west­li­che Ver­trags­treue hat Grün­de. Die USA hat­ten bereits unter Prä­si­dent Trump zahl­rei­che inter­na­tio­na­le Abkom­men auf­ge­kün­digt. So den INF-Ver­trag über das Ver­bot land­ge­stütz­ter ato­ma­rer Mit­tel­strecken­waf­fen, der für Euro­pa der wich­tig­ste Ver­trag zur ato­ma­ren Abrü­stung war. Erin­nert sei an die faden­schei­ni­gen Begrün­dun­gen zum Aus­stieg aus dem »open sky«-Vertrag, der die gegen­sei­ti­ge Über­wa­chung »von Van­cou­ver bis Wla­di­wo­stok« ermög­lich­te. An den Flü­gen nah­men sowohl Ver­tre­ter der beob­ach­ten­den als auch der beob­ach­te­ten Staa­ten teil. Russ­lands »scham­lo­ser« Ver­stoß war, dass es Kon­troll­flü­ge über der Exkla­ve Kali­nin­grad begrenzt und »die Trans­pa­renz in einem sehr mili­ta­ri­sier­ten Gebiet redu­ziert« habe. Soll­te es aus­ge­rech­net hier­von kei­ne Satel­li­ten­auf­nah­men bei Maxar Tech­no­lo­gies aus West­min­ster (US-Bun­des­staat Colo­ra­do) oder ande­ren kos­mi­schen Dienst­lei­stern für Pen­ta­gon & Co. gege­ben haben? Bereits 1979(!) zeig­te eine Auf­nah­me eines US-Spio­na­ge­sa­tel­li­ten den Mos­kau­er Flug­ha­fen Domo­de­do­wo in 150facher Ver­grö­ße­rung. Die Süd­deut­sche Zei­tung kon­sta­tier­te, frü­her hät­ten nur Geheim­dien­ste super­schar­fe Fotos aus dem All, heu­te kön­ne sie jeder von Fir­men wie Maxar kaufen.

Die Rea­li­tä­ten des Krie­ges in der Ukrai­ne offen­ba­ren seit dem 24. Febru­ar 2022, dass es ein super gerü­ste­tes, mili­tä­risch über­le­ge­nes Russ­land so nicht gibt. Es gei­stert seit 1990 als pro­pa­gan­di­sti­sches Phan­tom Washing­tons her­um. Ab 2007 hat­ten Med­we­dew und sein dama­li­ger Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster Ana­to­li Serd­ju­kow den Streit­kräf­ten die Pfer­de­kur einer »Reform« mit Ver­schlan­kung und Schrump­fung ver­ord­net. Ein mili­tä­ri­sches Gleich­ge­wicht mit dem Westen darf infra­ge gestellt wer­den. Ein­zig das Atom­waf­fen­po­ten­ti­al besitzt Gewicht.

Das Stock­holm Inter­na­tio­nal Peace Rese­arch Insti­tu­te (SIPRI) wies 2021 nach, dass die USA sich wei­ter­hin das mit Abstand größ­te Mili­tär­bud­get mit 778 Mil­li­ar­den US-Dol­lar lei­sten und einen Anteil von rund 39 Pro­zent an den welt­wei­ten Mili­tär­aus­ga­ben hal­ten. Russ­land ran­giert mit 61,7 Mil­li­ar­den US-Dol­lar und einem Anteil von 3,1 Pro­zent auf Platz 4 der Liste. Die Nato sieht Russ­land den­noch als »die bedeu­tend­ste und unmit­tel­bar­ste Bedro­hung für die Sicher­heit der Bünd­nis­part­ner und für Frie­den und Sta­bi­li­tät im euro-atlan­ti­schen Raum« (https://www.heise.de/tp/features/So-sieht-das-militaerische-Gleichgewicht-zwischen-Russland-und-Nato-aus-7185665.html).

Im Dezem­ber 2014 schon hat­te ein Appell an die Bun­des­re­gie­rung, an die Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ten und die Medi­en für Furo­re gesorgt, weil sich die Unter­zeich­ner für eine ande­re deut­sche Russ­land­po­li­tik ein­setz­ten sowie Aus­gleich und Dia­log mit Russ­land im Kon­text des (dama­li­gen!) rus­si­schen Kriegs in der Ukrai­ne anmahn­ten. Initi­iert hat­ten ihn der frü­he­re Kanz­ler­be­ra­ter Horst Telt­schik (CDU), der ehe­ma­li­ge Ver­tei­di­gungs­staats­se­kre­tär Walt­her Stütz­le (SPD) und die frü­he­re Bun­des­tags­vi­ze­prä­si­den­tin Ant­je Voll­mer (Grü­ne). Zu den Unter­zeich­nern zähl­ten u.a. Pro­mi­nen­te aus West und Ost wie Mario Adorf, Luit­pold Prinz von Bay­ern, Klaus Maria Bran­dau­er, Her­ta Däub­ler-Gme­lin, Eber­hard Diep­gen, Erhard Epp­ler, Alt-Bun­des­prä­si­dent Roman Her­zog, Chri­stoph Hein, Burk­hard Hirsch, Sig­mund Jähn, Uli Jör­ges, Mar­got Käß­mann, Gabrie­le Kro­ne-Schmalz, Lothar de Mai­ziè­re, Otto Schi­ly, Fried­rich Schor­lem­mer, Alt-Kanz­ler Ger­hard Schrö­der, Han­na Schy­gul­la, Man­fred Stol­pe, Hans-Jochen Vogel, Ernst Ulrich von Weiz­säcker und Wim Wenders.

Waren das auch alles »Putins Sprach­roh­re«? Heri­bert Prantl von der Süd­deut­schen Zei­tung ver­wies damals auf die Befürch­tung, die schon Hel­mut Kohl geäu­ßert habe, dass alles wie­der ver­spielt wer­de, was gewon­nen wor­den sei. Russ­land dür­fe nicht aus Euro­pa her­aus­ge­drängt wer­den. Die Aus­gren­zung Russ­lands sei undi­plo­ma­ti­sches »pol­ternd-her­ab­las­sen­des Geha­be«. Euro­pa, das Russ­land ein­schlie­ße, müs­se sich wie­der öffnen.

Prä­si­dent Putin hat eben­falls eine Neu­jahrs­re­de gehal­ten – dies­mal in einem Mili­tär­stütz­punkt vor Sol­da­ten, statt im Kreml. Dem Westen warf er vor, Russ­land zer­stö­ren zu wol­len und die Ukrai­ne dafür zu benut­zen. »Jah­re­lang haben die west­li­chen Eli­ten uns allen schein­hei­lig ver­si­chert, dass sie fried­li­che Absich­ten haben, ein­schließ­lich der Lösung des schwie­rig­sten Kon­flikts im Don­bass«, sag­te Putin. Unlängst hat­te er zum Mer­kel-Inter­view erklärt: »Der Westen hat gelo­gen, was den Frie­den angeht, und sich auf eine Aggres­si­on vor­be­rei­tet. Und er schämt sich heu­te nicht ein­mal mehr, das offen zuzugeben.«

Trau, schau, wem – in Ber­lin, Washing­ton, Kiew, Paris und Moskau.