In der Stadtsilhouette können architektonisch gestaltete Bauwerke »feste Ankerpunkte« sein. Diese Feststellung des Kölner Stadtkonservators im aktuellen Monats-Magazin des Deutschlandfunks gilt ganz allgemein für Kulturdenkmäler und Bauten, die vom Gesetzgeber unter Denkmalschutz gestellt wurden. Sie gilt aber ebenso für architektonisch gestaltete Bauwerke, die im Krieg schwer beschädigt wurden. Und selbst dann, wenn es solche Gebäude nicht mehr gibt, weil sie entweder vor dem Hintergrund eines anderen Umgangs mit der früheren Geschichte gesprengt wurden, um neues Leben aus den Ruinen auferstehen zu lassen, oder weil sie, wie jüdische Synagogen in der NS-Zeit, aus Hass gänzlich dem Erdboden gleichgemacht wurden, kann die Erinnerung zu solch einem »Ankerpunkt« werden.
Wenn dann diese Bauwerke, sei es aus profanen, sei es aus religiösen Gründen, wieder aufgebaut werden sollen, vielleicht gar im »alten Glanz« als neue feste Ankerpunkte, dann stellt sich sofort die Frage, was da »verankert« werden soll. Und von wem. Und warum. Am Beispiel des geplanten Wiederaufbaus der Bornplatzsynagoge in Hamburg habe ich vor drei Jahren in Ossietzky die teilweise erbittert und konträr geführte Diskussion innerhalb der jüdischen Gemeinden der Stadt um den Prozess des Wiederaufbaus, um das Ja oder Nein zu einer historischen Rekonstruktion, beschrieben (Ausgabe 3/2021).
Noch viel erbitterter wurde in der deutschen Öffentlichkeit in den letzten Jahrzehnten der Wiederaufbau historischer Symbolbauten diskutiert, egal, ob ein historisches Bewusstsein, die Reparatur von Stadtraum oder die frühere architektonische Schönheit Auslöser des Ansinnens waren. »Bauen am nationalen Haus. Architektur als Identitätspolitik« hat der in Berlin lebende Architekt und Publizist Philipp Oswalt sein im Dezember 2023 im Berenberg Verlag erschienenes Buch genannt, in dem er »die Hintergründe der Debatte erforscht«, wie der Verlag schreibt.
Oswalt präsentiert Fallbeispiele: die Garnisonkirche Potsdam (»Wiederaufbau zwischen militärischer Traditionspflege, protestantischer Erinnerungskultur und Rechtsextremismus«), das Berliner Schloss (»Die Fiktion einer unpolitischen Orthodoxie«), die Neue Altstadt Frankfurt am Main (»Restaurative Schizophrenie«), die Paulskirche Frankfurt (»Ist eine erinnerungspolitische Revision nötig?«), die Neuen Meisterhäuser Dessau (»Auf der Suche nach der Authentizität«). Der fachliche Hintergrund des Verfassers ist dabei beachtlich und beachtenswert: Oswalt war unter anderem Leiter des Projekts »Schrumpfende Städte« der Kulturstiftung des Bundes und Direktor der Stiftung Bauhaus Dessau. Seit 2006 lehrt er als Professor für Architekturtheorie und Entwurf an der Universität Kassel.
Seit den 1990er Jahren schreibt er in seinen Veröffentlichungen über sein »wachsendes Unbehagen, wie in Debatten um Architektur und Städtebau konservative Positionen mit essentialistischen Fiktionen von Geschichte, Identität, Herkunft und Tradition argumentieren und jenseits von nachvollziehbaren Qualitätskriterien ihrer Ideologie entsprechende Projekte propagieren und davon abweichende diffamieren«. Und weiter: »Das Unbehagen ist ein doppeltes: zum einen ein fachliches in Hinsicht auf die Qualität von Architektur und Städtebau, zum anderen ein geschichtspolitisches bezüglich des Verständnisses von Geschichte.« Denn: »Die ideologische Aufladung dieser Geschichtskonstruktionen und deren zunehmend orthodoxe und antiliberale Propagierung haben im deutschen Kontext eine besondere Brisanz.«
Beispiel Potsdamer Garnisonkirche. Ihr Turm wurde seit 2017 wieder aufgebaut, unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten und überwiegend aus öffentlichen Mitteln. Oswalts Kritik, zusammengefasst: Dieser Bau stand von Anfang an für die enge Verbindung von monarchistischem Staat, Kirche und Militär. Die Kirche avancierte zum bedeutenden Symbol des preußisch-deutschen Nationalprotestantismus, der mit bellizistischem, demokratiefeindlichem und völkischem Gedankengut verbunden war. Die Kirche war der Identifikationsort für die antidemokratischen und rechtsextremen Kräfte der Weimarer Republik. Und: »Initiiert und über dreißig Jahre vorangetrieben hat (das Wiederaufbauprojekt) ein Bundeswehroffizier, dessen rechtsextreme Orientierung bald nicht mehr zu übersehen war.«
Beispiel Berliner Schloss. Der Nachbau der einstigen Hohenzollernresidenz in »historisch getreuer Rekonstruktion« wurde 2002 mit Zweidrittelmehrheit vom Deutschen Bundestag beschlossen, obwohl sich die Berlinerinnen und Berliner »in Umfragen wiederholt mehrheitlich gegen den Schlossnachbau aussprachen«. Der Beschluss fiel unter kräftiger Fürsorge des Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Dieser wird von Oswalt mit dem Ausspruch zitiert: »Wenn man an diesem historischen Ort dem Volk was für die Seele gibt, kann das außerordentlich befriedend und damit auch befriedigend sein.« Heute umschließt die neue Schlossfassade das Humboldt Forum.
Private Spender unterstützten den Wiederaufbau, nur mit ihrer Hilfe konnten auch Kuppel und Kreuz realisiert werden. Oswalt nennt als Großspender den Privatbankier Ehrhardt Bödecker, »ein rechtsradikaler Preußenfan, der sich gelegentlich auch antisemitisch geäußert hatte«; er nennt die Unternehmerwitwe Inga Maren Otto, deren verstorbener Gatte wiederum dem schon erwähnten »rechtsradikalen Bundeswehroffizier Max Klaar drei Millionen D-Mark für den Wiederaufbau der Garnisonkirche Potsdam zugesagt hatte«; er nennt den Großspender Heinrich Weiss, »dessen Firma auf seinen Vater Bernhard Weiss zurückgeht, der als Neffe des Großindustriellen Friedrich Flick in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen wegen seiner Tätigkeit für dessen Konzern verurteilt worden war«; er verweist darauf, dass der Unternehmer Rudolf-August Oetker, dessen Familie und Firma das NS-Regime unterstützten, mit einem Porträtrelief im Schloss geehrt wird. Und so weiter und so fort, bis hin zu Unterstützern mit Nähe zur AfD. Als einer der Ersten hat Oswalt auf diese Verknüpfungen, dieses Netzwerk hingewiesen.
Oswalt: »Das Humboldt Forum gilt als wichtigstes deutsches Kulturprojekt seit der Wiedervereinigung und als zentraler Symbolbau für die Hauptstadt des wiedervereinten Deutschlands. Sinn und Sensibilität für die Symbolfunktion des Baus gingen nach Auflösung der Expertenkommission verloren. Seitdem hat sich die Kultur- und Baupolitik des Bundes auf eine geschichtspolitische Geisterfahrt begeben und es einer Gruppe mit fragwürdigem Gedankengut überlassen, maßgeblich Einfluss auf die Ausgestaltung des Projektes zu nehmen.«
Wenn Sie mehr wissen wollen über das »Einsickern reaktionärer Vergangenheitsinterpretationen und identitätspolitisch unterlegter Ideologien in die zeitgenössische Stadtplanung«, auch im Hinblick auf die anderen Fallbeispiele, dann sollten Sie zu diesem Buch greifen.
Philipp Oswalt: Bauen am nationalen Haus. Architektur als Identitätspolitik, Vorwort vom Schriftstellers Max Czollek, Berenberg Verlag, Berlin 2023, 240 S., 22 €.