Symbole sind verräterisch. Weiß-rot-weiße Fahnen und das alte Pahonja, das Wappenschild mit dem schwertschwingenden Ritter, stehen für Widerstand vergangener Jahrhunderte und heute gegen die Staatsmacht in Belarus. Bedeuten sie nur einen verschämten Rückblick auf die ersten Jahre der Unabhängigkeit von der Sowjetunion ab 1991, bis der heute ungeliebte Präsident Alexander Lukaschenko dafür sorgte, dass ein neues, an die Fahne der Sowjetrepublik angelehntes Nationalsymbol Einzug hielt?
Geopolitik, historische Lasten, imperialistische Ziele
Wer weiß noch, dass Weiß-Rot-Weiß 1918 kurzzeitig Symbol des ersten neuzeitlichen belorussischen Staates, der Weißrussischen Volksrepublik, oder – wie es in zeitgenössischen Annalen hieß – der Weißruthenischen Volksrepublik, war? Wer gewärtigt, dass dieser Staat nach erfolgreichen deutschen Offensiven 1918/19 Protektorat der kaiserlich-deutschen Besatzer war, die im Zuge ihrer »Revolutionierung« (das hieß Desintegration) des russischen Kriegsgegners Marionettenregime errichteten? Die gelten heute in Osteuropa als Wiegen der Demokratie, waren Feinde der Sowjetmacht, zutiefst antikommunistisch und antidemokratisch. Allerdings mag diese Frühgeschichte von Belarus auch einer der Gründe sein, warum es die besondere Aufmerksamkeit deutscher Außenpolitik und der derzeit deutsch gelenkten EU-Außenbeziehungen genießt. Übrigens waren die heute so geliebten Symbole nicht nur die Insignien der bis heute (!) existierenden antikommunistischen Exilregierung, sondern auch der Kollaborateure 1941 – 1944 während der faschistischen Okkupation.
Weiterer »uneigennütziger Interessent« ist die Republik Polen, die im Zuge der Geheimprotokolle zum Nichtangriffsvertrag zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion und des nach Polens militärischer Niederlage erfolgten Einmarsches der Roten Armee große Teile des heutigen Belarus an die östliche Großmacht verlor, die ihren Altbestand von Zarenreich und früher Sowjetmacht wiederherstellte. Nebenher vollzog die Sowjetunion mit nicht wenigen Belorussen jene soziale Revolution, die seit 1917 den Rest des Zarenreiches in eine neue Ordnung überführte, wenn auch unter den Schmerzen eines stalinistischen Regimes. Für diese soziale Umwälzung und für ihr nacktes Überleben haben Belorussen wie die anderen Völker der UdSSR gegen Hitlers Armeen und Mordbrenner gekämpft und 1945 gesiegt.
Darüber mag heute wenig geredet werden, und doch prägt es die Geschichte wie den geografischen und politischen Platz dieses überschaubaren Binnenlands zwischen Russland, Baltikum, Ukraine und Polen.
Die Vorgeschichte und die Erfahrungen der letzten drei Jahrzehnte sollten nicht nur in Minsk und Moskau bei kritischen Geistern Alarmglocken schrillen lassen. Alle Zutaten für innere Unruhen als Bestandteil jener antirussischen Farbrevolutionswelle, die Osteuropa vom Baltischen bis zum Schwarzen Meer in einen antirussischen Cordon sanitaire zu verwandeln sucht, sind vorhanden. Belarus wäre nur der Schlussstein.
Ja, es ist fatal, so wichtig und bedeutsam innere Widersprüche und Konflikte sind, die nach Reform und vielleicht Revolution schreien: Es geht immer um ideologische, nationalistische, geopolitische Konfliktlinien, die jegliche sozialen und politischen Aufbrüche, so notwendig sie sein mögen, überformen.
Letzter Diktator und/oder letzter sorgender Vater Staat
Belarus hat, vor allem dank Langzeitpräsident Lukaschenko, knapp drei Jahrzehnte lang unter den postsozialistischen Republiken der ehemaligen Sowjetunion und Osteuropas einen Sonderweg eingeschlagen. Im Unterschied zu anderen Nachfolgestaaten kam es nicht zur Machtübernahme durch Oligarchen, das heißt frühkapitalistische Privatisierungsgewinnler. Und selbst der Präsident genoss Achtung, weil er lange glaubhaft soziale Politik verkörperte. Ein Sonderweg, der trotz autoritärer, auch repressiver Züge lange für große Teile der belorussischen Gesellschaft einen im Vergleich zu ihren nahen westlichen Nachbarn akzeptablen Lebensstandard und wirtschaftlichen Erfolg einbrachte. Die alten verstaatlichten Wirtschaftsstrukturen in Industrie und Landwirtschaft blieben weitgehend unangetastet, das soziale Sicherungssystem erinnerte wie die staatlichen Insignien an die lange Sowjetzeit. Erst als Belarus im letzten Jahrzehnt von der Weltwirtschaftskrise erfasst wurde und der engste Partner, Russland, Mitte der 2010er Jahre selbst in eine anhaltende Rezession, vor allem im Gefolge der westlichen Sanktionspolitik, geriet, brachten beginnende soziale Verwerfungen das scheinbare Erfolgsmodell ins Wanken.
Das Land ist stark abhängig vom Außenhandel, was der reale Platz im postsowjetischen und internationalen Handelsgeflecht widerspiegelt. Im Jahr 2018 kamen über 58 Prozent der Importe aus Russland, das selbst über 38 Prozent der belorussischen Exporte aufnahm (BRD: 4,7 beziehungsweise 4,3 Prozent). Vertraglich ist Minsk mit Russland politisch wie militärisch verbunden, wenn auch die Schaukelpolitik Lukaschenkos zwischen Moskau und dem Westen dieses Verhältnis belastet hat.
Belarus erinnert an die treusorgende, paternalistische Gesellschaft des Realsozialismus. Soziale Sicherheit wird gewährleistet, aber der Staat, der Präsident, entscheidet über das Schicksal. Solange alles funktioniert, eine Verbesserung der Lebenssituation zu spüren ist, so lange werden viele das akzeptieren. Die Krisen des vergangenen Jahrzehnts haben aber diese Konstruktion erschüttert, das notgedrungene Hinwenden zu Leistungen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF) haben die Kopie des sowjetischen Systems ausgehöhlt. Privatisierungen greifen Raum, die Krisenfolgen sind auch sozial spürbar geworden, die Verunsicherung nimmt zu. Und das politische System hat keine demokratischen Strukturen entwickelt, die diese Unzufriedenheit positiv wenden.
In dieser Situation gewannen oppositionelle Kräfte, die seit Jahren den autokratischen Führungsstil, die Einschränkung demokratischer Freiheiten und die Anwendung repressiver Maßnahmen kritisiert und mit Protesten bekämpft haben, in diesem Jahr erstmals Breitenwirkung. Die bekannten Köpfe dieser Opposition sind Intellektuelle, Geschäftsleute, die ein anderes Belarus anstreben. Für sie ist die Forderung nach Neuwahlen nur der Einstieg in tiefergehende politische Veränderungen und andere, moderne, das heißt prokapitalistische Wirtschafts- und Eigentumsstrukturen. Das Einfordern von Freiheiten, das vergessen die meisten, die das Wort auf den Lippen führen, heißt auch Freiheit des Kapitals, der Arbeitskräfte, des Marktes – und dies ist identisch mit der Öffnung in Richtung Westen.
Auch wenn diese Kräfte bislang nicht vordergründig die Alternative russischer oder (west-)europäischer Weg aufmachen – wie in der Ukraine oder zuvor in Georgien –, so impliziert ihr Vorgehen doch mittelfristig eine solche Entscheidungssituation.
Das linke Dilemma
Linke in Belarus müssen sich entscheiden: Wollen sie das bestehende System stützen – wie es die im Parlament vertretene Kommunistische Partei lange getan hat –, oder wollen sie wie diverse linke Gruppen – so die »Marxisten von Belarus« oder »Gerechte Welt« – eine demokratische Reformierung anstreben und die Risiken einer tiefen Veränderung in Kauf nehmen. Wie schon bei anderen solchen Aufbrüchen sollte auch die westliche Linke, auch die Partei Die Linke, verstört sein. Selbstverständlich befürwortet sie mehr Demokratie, verabscheut Wahlmanipulation und staatliche Repression. Insofern bekennt sie sich zu den Oppositionellen und wünschen deren Erfolg. Wie aber bei vielen anderen solcher Bewegungen in jüngerer Vergangenheit, zumindest seit der »Wende« 1989/90, überblickt sie oft nicht die Risiken der Entwicklung. Zu wenig begreift sie den fatalen Weg, der von vermeintlich demokratischen Veränderungen zu einer Westöffnung mit der in dem Fall zwangsläufigen Ablösung einer staatskapitalistischen Ordnung durch eine privatkapitalistische führen wird. Den Belorussen eröffnen sich so die »Vorzüge« des kapitalistischen Marktes mit seinen Chancen für Wenige, mit seinen Anlagemöglichkeiten für das westliche Kapital und den Risiken und dem Abstieg für Viele.
Ja, solche Bewegungen, vermeintliche Revolutionen, agieren nicht im luftleeren Raum. Der Glaube, dass es im Osten nur um die Vollendung einer bürgerlich-demokratischen Revolution gehe, lässt die Fahne der Demokratie und Menschenrechte hochhalten, übersieht aber den politischen, sozialen, wirtschaftlichen Preis. Genauso illusionär sind die Vorstellungen von einer Revolution, in der basisdemokratische Strukturen, nicht zuletzt in den Betrieben, den Arbeitern zu Selbstbestimmung und Macht verhelfen würden. Die heutige Oppositionsbewegung ist – wie auch kaum anders möglich – heterogen. Eine radikale, entschlossene und organisierte Kraft für ein demokratisch erneuertes Belarus ist nicht zu erkennen, geschweige denn für eine Arbeiterbewegung, die ihre Betriebe und Sozialstandards verteidigen kann.
Die westlichen Linken stehen vor der Herausforderung, ihre politischen Verwandten in Minsk vor Verfolgung und Gefängnis solidarisch zu bewahren. Die größere Herausforderung ist allerdings, zu begreifen, dass die Vorgänge in Belarus Teil einer Auseinandersetzung sind, in der mit zweierlei Maß gemessen wird. EU, Bundesrepublik, Polen, die baltischen Republiken, die Ukraine suchen mit Geld, Medien, Nichtregierungsorganisationen, guten Worten und Sanktionen die Entwicklung in ihre Richtung zu beeinflussen. Einseitig wie immer und sicher nicht auf Demokratie und Menschenrechte, sondern auf Profite und bessere Ausgangsbedingungen für den Kampf gegen die eigensinnigen Russen (Chinesen, Venezolaner, Kubaner, Iraner, Syrer und so weiter) zielend.
Niemanden muss es wundern, wenn ein deutscher Außenminister die schärfsten Anklagen und Forderungen an Lukaschenkos Adresse bei einer Pressekonferenz mit dem Musterdemokraten Saudi-Arabien entwickelt, einer eisernen Diktatur, die nicht einmal ein gewähltes Parlament kennt.
Demokratische Forderungen sind berechtigt, aber die Belorussen müssen ihre Probleme selbst, im Dialog, meinethalben am Runden Tisch, gemeinsam lösen. Lukaschenko wird hier mittelfristig ersetzt werden müssen. Aber es bleibt die Frage, was bleibt, wer kommt. Linke haben schon zu viele dieser bunten Revolutionen – mit und ohne Skript von Geheimdiensten und PR-Agenturen des Westens – erleben müssen, um nicht zu wissen, wohin die Reise gehen soll und wie auch gutgemeinte Veränderungen in ihr Gegenteil umschlagen. Unisono wird behauptet, niemand wolle einen zweiten Maidan, denn die gewaltsamen kriegerischen Folgen, der aufgekommene reale Faschismus sind bekannt. Genauso wenig solle Moskau vor den Kopf gestoßen werden. Nur, wer hält sich daran, wer warnt, wer sucht einen Ausweg in der Opposition und an der Macht?
Es geht im großen Machtspiel nicht um Lukaschenko oder die belorussische Demokratie. Es geht um die Unwilligen der geschlossenen US- und ein wenig EU-dominierten kapitalistischen Weltordnung, die Moskau und Peking stören. Berlin, London, Washington wissen, was sie wollen.