226 Jahre sind vergangen, seit Immanuel Kant 1795 seine Protestschrift »Zum ewigen Frieden« wider den Interventionskrieg der Monarchien Österreichs und Preußens gegen Frankreichs nachrevolutionäre bürgerliche Ordnung veröffentlichte. Kant zeigt in dem Traktat, dass der Frieden eine machbare Aufgabe für die Politik ist (Reclam Nr. 1501, Leipzig). Politiker haben Kants Alternativen bis heute jedoch mehrheitlich ignoriert.
Nach dem katastrophalen 2. Weltkrieg schuf die Weltgemeinschaft, im Rahmen der UNO immerhin einen Weltsicherheitsrat mit 5 ständigen Mitgliedern, ausgestattet mit Vetorechten, sowie weiteren wechselnden Mitgliedern. Er verhinderte bisher einen 3. Weltkrieg, ohne Einzelkriege vermeiden zu können. Als Zielstellung des 3. Weltkrieges gilt seit der Verkündung der Truman-Doktrin 1947 die Zurückdrängung einer neuen Gesellschaftsordnung – namentlich des Sozialismus, der unvermindert die Gleichheit und Brüderlichkeit auf seine Fahnen schreibt. Russland und die Volksrepublik China sind allerdings ständige Mitglieder des Sicherheitsrats. Und beide Länder treten für diplomatische Lösungen von internationalen Konflikten ein und verfolgen eine Politik der friedlichen Koexistenz.
2019 beklagte der Verhaltensforscher Dietrich Dörner das anhaltende törichte Verhalten der Machtpolitiker (Jahrestagung 2019 des Zentrums für empirische Evaluationsforschung am 10.5.2019 in Berlin). Torheiten, meint der Forscher, sind vermeidbare Dummheiten, die von der Politik jedoch ständig wiederholt werden. Und diese Fehler lassen sich allesamt »auf Grundreaktionen zurückführen«. Dazu zählen »Notfallreaktionen« auf scheinbare Angreifer, »Mutmacher«, um mögliche Gefahren abzuwehren, »Selbstüberschätzung« und »Drohgebärden«, das »Aussitzen«, das »Wunschdenken« sowie die »Eitelkeit« (vom Typ Boris Johnson und Annalena Baerbock). Es sind Verhaltensweisen, die auf die Biologie zurückgehen, wie Barbara Tuchmann in ihrem Buch »Die Torheit der Regierenden. Von Troja bis Vietnam« zeigt.
Am 10.12.2021 brachte die Berliner Zeitung einen Beitrag mit der Überschrift: »Die doppelte Gefahr der Selbstvernichtung«. Der Text beginnt mit einer wesentlichen Aussage: »Kriege fallen nicht vom Himmel. Ihre Ursachen liegen in internationalen Machtverhältnissen, wirtschaftlichen Interessen und expansiven Ideologien.«
Die Koalitionsvereinbarung der neuen Ampel-Regierung bestätigt den Befund leider erneut. Wie kann es sein, dass die SPD nach den Erfahrungen zweier Weltkriege nicht erkennt, wo der Kern der Kriegstreiberei liegt, worin der Sinn der Rüstungsindustrie besteht?
Wie passt es zusammen, dass die Natur liebenden Grünen Menschen in China oder Russland nicht für ebenso schützenswert erachten wie die eigenen Bürger und der Nato Beifall klatschen? Die Aussage der neuen Außenministerin bei ihrem ersten offiziellen Besuch in Brüssel, Russland würde »einen hohen politischen und wirtschaftlichen Preis für eine Verletzung der ukrainischen Staatlichkeit zahlen«, ist eine Drohgebärde und sicherlich alles andere als klug.
Wie soll es bewertet werden, dass die FDP als selbsternannte Schutzpartei des Mittelstandes, abhängige Handwerker, Kleinbetriebe, Dienstleister einer Kriegsgefahr aussetzt und die Politik der Nato unterstützt? Ihr Glaube an die großartige Freiheit ist richtig, nur vergessen sie, dass das Grundgesetz die Freiheit dort begrenzt, wo Dritte durch allzu freie Handlungen zu Schaden kommen. Die Freiheit des weißen Mannes hat in den Entwicklungsländern und in den USA für die Ureinwohner überwiegend Nachteile gebracht. Die Freiheit der Wissenschaft lässt die Entwicklung und den Einsatz ambivalenter Produkte zu – etwa Massenvernichtungswaffen oder Glyphosat.
Die Koalitionsvereinbarung der drei Parteien setzt Schwerpunkte, die eher auf ein Weiter-so gerichtet sind: Die Politik der Einkreisung Russlands und Chinas wird im Wesentlichen weitergeführt. Atomwaffen werden in Deutschland weiterhin einsatzbereit gelagert. Dem Rüstungsexport wird nicht wirksam Einhalt geboten. Klimaschutz macht an den Toren der Kasernen und der Militärflugplätze halt.
»Mehr Fortschritt wagen« ist ein gutes Motto für die Regierung des gespaltenen Landes, obwohl Fortschritt und Wachstum ambivalent für das Klima, für die Weltmeere, für den Frieden sind. »Mehr Frieden wagen« wäre ein besseres Motto gewesen. Fortschritt kommt nur wenigen zugute, Frieden allen. Thomas Mann stellte einst fest, dass es zu den Grundtorheiten der Zeit gehört, die Linken, die Humanisten und Friedensfreunde in die Ecke des Bösen zu stellen. Diese Torheit setzt sich bis heute fort.