Nach einem taz-Interview mit dem letzten US-Botschafter in der Sowjetunion, Jack Matlock, von 2014 ist der Konflikt in der Ukraine, der 2014 begann und 2022 eskalierte, in seiner Entstehungsgeschichte primär eine Folge von Provokationen des Westens. In dem Gespräch erklärte Matlock am 9.9.2014: »Als wir den Kalten Krieg beendet und politisch dabei geholfen haben, Osteuropa zu befreien, war klar, dass wir Russland für ein freies und vereintes Europa einbeziehen müssen. Wir wussten auch, wenn man ein Instrument des Kalten Krieges – die Nato – in dem Moment vor bewegt, wo die Barrieren fallen, schafft man neue Barrieren in Europa. Und genau das ist jetzt geschehen. Wenn wir Frieden wollen, dann sollten Russland, die Ukraine und die Länder Ost- und Westeuropas in einer einzigen Sicherheitsgemeinschaft sein.« Dieses Konzept entsprach und entspricht den Vereinbarungen in juristisch verbindlichen Verträgen und Charta-Texten zur europäischen Friedensordnung unter Einbezug aller damaligen Nato-Staaten und Russlands, wie es etwa die Charta von Paris aus dem Jahr 1990 vorschreibt. Zitat: »Nun ist die Zeit gekommen, in der sich die jahrzehntelang gehegten Hoffnungen und Erwartungen unserer Völker erfüllen: unerschütterliches Bekenntnis zu einer auf Menschenrechten und Grundfreiheiten beruhenden Demokratie, Wohlstand durch wirtschaftliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit und gleiche Sicherheit für alle unsere Länder. Die zehn Prinzipien der Schlussakte werden uns in diese im Zeichen hoher Aufgaben stehende Zukunft leiten, so wie sie uns in den vergangenen fünfzehn Jahren den Weg zu besseren Beziehungen gewiesen haben. Die volle Verwirklichung aller KSZE-Verpflichtungen muss die Grundlage für die Initiativen bilden, die wir nun ergreifen, um unseren Nationen ein Leben zu ermöglichen, das ihren Wünschen gerecht wird. (…) Nun, da die Teilung Europas zu Ende geht, werden wir unter uneingeschränkter gegenseitiger Achtung der Entscheidungsfreiheit eine neue Qualität in unseren Sicherheitsbeziehungen anstreben. Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden. Wir verpflichten uns daher, bei der Festigung von Vertrauen und Sicherheit untereinander sowie bei der Förderung der Rüstungskontrolle und Abrüstung zusammenzuarbeiten (…). Die beispiellose Reduzierung der Streitkräfte durch den Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa wird – gemeinsam mit neuen Ansätzen für Sicherheit und Zusammenarbeit innerhalb des KSZE-Prozesses – unser Verständnis von Sicherheit in Europa verändern und unseren Beziehungen eine neue Dimension verleihen. In diesem Zusammenhang (!) bekennen wir uns zum Recht der Staaten, ihre sicherheitspolitischen Dispositionen frei zu treffen.«
Wichtig ist, dass die Nato-Lobby erklärt, Russland und sein Vorgängerstaat Sowjetunion habe doch unterschrieben, dass jeder Staat die souveräne Entscheidung über seine Zugehörigkeit zu einer Sicherheits-, also Militärallianz hat. Geflissentlich blenden die Propagandisten des Krieges den Anfang des Satzes aus, in dem es heißt »In diesem Zusammenhang«. Und der Zusammenhang ist die Friedensordnung, die sich am gemeinsamen Haus Europa und der KSZE-Schlussakte über kollektive Sicherheit orientiert.
So wird die Öffentlichkeit mit Halbwahrheiten auf Eskalation und Krieg ausgerichtet, denn man verteidige ja die Souveränität eines jeden Staates gegen die imperialistischen Machtgelüste des Diktators im Kreml.
Dies zu kritisieren, stellt keine Unterstützung der Politik einer der im Krieg aktiven Seiten dar, es ist lediglich eine Information gegen die Desinformation des politischen Westens, der tagtäglich Russland vorwirft, Unwahrheiten zu verbreiten und so Wahlen zu beeinflussen und damit auch noch die Demokratie zu schwächen.
Jack Matlock erklärt zum Ende des Kalten Krieges vor ca. 35 Jahren: »Wir dürfen nicht vergessen, dass das Ende des Kalten Kriegs kein westlicher Sieg war. Wir haben das Ende des Kalten Kriegs verhandelt und es zu Bedingungen getan, die auch vorteilhaft für die Sowjetunion waren. Wir haben alle gewonnen. (…) In Wirklichkeit war es Gorbatschow, der den Kommunismus und die kommunistische Kontrolle der Sowjetunion zerstört hat. Nicht westlicher Druck. Wir haben den Kalten Krieg zwei oder drei Jahre vor dem Kollaps der Sowjetunion beendet.«
Auf die Frage, wie viel Nato-Expansion vertretbar sei, antwortete Jack Matlock: »Wir, also jene, die das Ende des Kalten Krieges verhandelt haben, haben immer gewarnt: Macht keine Sicherheitsangelegenheit daraus. Benutzt keine Kalter-Krieg-Allianz. Mitte der 1990er Jahre haben wir mit der ›Partnership for Peace‹ bei der Reformierung des Militärs in Osteuropa geholfen. Aber der Umbau der Wirtschaft war viel wichtiger. Wäre das getrennt von der Sicherheitsseite und von der Nato geschehen, wäre es akzeptabel gewesen. Und wäre es bei Polen, Tschechien und Ungarn geblieben, auch. Es war auch vertretbar in die drei baltischen Länder zu expandieren. Aber Rumänien und Bulgarien waren es nicht mehr. Keines dieser Länder war von Russland bedroht. Und dann begann die Eröffnung von Militärbasen, unter anderem in Polen – gegen nicht-existierende Raketen aus Iran. Für die Russen war das eine Provokation. 2008 entschied die Nato, die Ukraine auf eine Spur zur Mitgliedschaft zu setzen. Ein in seinem Inneren tief gespaltenes Land, direkt vor Russlands Tür. Das alles waren sehr dumme Schachzüge des Westens. Heute haben wir die Reaktion darauf.«
Zur Frage, wie die USA reagieren würden, wenn sich vor ihrer Tür ein vergleichbares Szenario entfalten würde, erklärte er: »Wenn China anfangen würde, eine Militärallianz mit Kanada und Mexiko zu organisieren, würden die USA das nicht tolerieren. (…) Wir würden das verhindern. Mit jedem Mittel, das wir haben. Jedes Land, das die Macht dazu hat, würde das tun.«
Auf die Frage »Bedeutet dies, dass Sie Putin nicht als Aggressor betrachten?«, antwortete er: »Ich entschuldige nicht, was er tut. Und ich billige es auch nicht. Aber ich sage, es war komplett vorhersehbar. Putin handelt so, wie jeder russische politische Verantwortliche unter diesen Umständen handeln würde. Der Umsturz in Kiew im vergangenen Februar hat Leute in den Sicherheitsapparat gebracht, die vehement antirussisch sind und die politisch so weit rechts stehen, dass man sie ohne Übertreibung Neonazis nennen kann. Die gewaltsame Übernahme von Regierungsgebäuden hat im Westen der Ukraine begonnen. Nicht im Osten.«
Frage: »Wollen Sie sagen, dass Putin die Krim ohne die Ereignisse vom 22. Februar 2014 – die Absetzung von Expräsident Wiktor Janukowytsch – nicht annektiert hätte?« Antwort: »Ich glaube nicht, dass er es ohne den Umsturz getan hätte. Auch nicht ohne die Frage der Nato-Mitgliedschaft. Und auch nicht, wenn er nicht sicher gewesen wäre, dass die Mehrheit der Leute dort von ihm genau das erwartete. Es geschah friedlich und nicht gegen den Willen der Bewohner.«
Frage: »Was sollte die US-Regierung stattdessen gegenüber Russland tun?« Antwort: »Stille Diplomatie.«
Frage: »Sie haben den Kalten Krieg erlebt. Haben Sie jetzt Sorge, dass sich in der Ukraine ein heißer Krieg entwickelt?« Antwort: »Ich glaube nicht, dass es ein Krieg wird. Einige von unseren politischen Verantwortlichen mögen mittelmäßig sein. Ihnen fehlen die Vision und der Sinn für die Realität der späten 1980er Jahre. Aber sie sind nicht verrückt.«
Hier irrte Jack Matlock mehrfach: Die Politik des Nato-Westens hat die Warnungen in den Wind geschlagen und eskaliert, bis der Konflikt in die kriegerische Katstrophe unserer Tage führte und die Verantwortung dafür propagandistisch Russland zugeschoben wird. Schlimmer noch: Die ökologisch, sozial und militärisch nicht zu verantwortende sprunghafte Intensivierung der Militarisierung begründet die Nato-Lobby mit der von Russland ausgehenden Gefahr. Sie macht dabei die wahren Gründe vergessen und warnt vor dem russischen Imperialismus, was den Rüstungskonzernen hohe Profite und jahrelang sichere Geschäfte verheißt, während die Gefahren immer weiter eskalieren.