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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Tödliche Halbwahrheiten

Nach einem taz-Inter­view mit dem letz­ten US-Bot­schaf­ter in der Sowjet­uni­on, Jack Mat­lock, von 2014 ist der Kon­flikt in der Ukrai­ne, der 2014 begann und 2022 eska­lier­te, in sei­ner Ent­ste­hungs­ge­schich­te pri­mär eine Fol­ge von Pro­vo­ka­tio­nen des Westens. In dem Gespräch erklär­te Mat­lock am 9.9.2014: »Als wir den Kal­ten Krieg been­det und poli­tisch dabei gehol­fen haben, Ost­eu­ro­pa zu befrei­en, war klar, dass wir Russ­land für ein frei­es und ver­ein­tes Euro­pa ein­be­zie­hen müs­sen. Wir wuss­ten auch, wenn man ein Instru­ment des Kal­ten Krie­ges – die Nato – in dem Moment vor bewegt, wo die Bar­rie­ren fal­len, schafft man neue Bar­rie­ren in Euro­pa. Und genau das ist jetzt gesche­hen. Wenn wir Frie­den wol­len, dann soll­ten Russ­land, die Ukrai­ne und die Län­der Ost- und West­eu­ro­pas in einer ein­zi­gen Sicher­heits­ge­mein­schaft sein.« Die­ses Kon­zept ent­sprach und ent­spricht den Ver­ein­ba­run­gen in juri­stisch ver­bind­li­chen Ver­trä­gen und Char­ta-Tex­ten zur euro­päi­schen Frie­dens­ord­nung unter Ein­be­zug aller dama­li­gen Nato-Staa­ten und Russ­lands, wie es etwa die Char­ta von Paris aus dem Jahr 1990 vor­schreibt. Zitat: »Nun ist die Zeit gekom­men, in der sich die jahr­zehn­te­lang geheg­ten Hoff­nun­gen und Erwar­tun­gen unse­rer Völ­ker erfül­len: uner­schüt­ter­li­ches Bekennt­nis zu einer auf Men­schen­rech­ten und Grund­frei­hei­ten beru­hen­den Demo­kra­tie, Wohl­stand durch wirt­schaft­li­che Frei­heit und sozia­le Gerech­tig­keit und glei­che Sicher­heit für alle unse­re Län­der. Die zehn Prin­zi­pi­en der Schluss­ak­te wer­den uns in die­se im Zei­chen hoher Auf­ga­ben ste­hen­de Zukunft lei­ten, so wie sie uns in den ver­gan­ge­nen fünf­zehn Jah­ren den Weg zu bes­se­ren Bezie­hun­gen gewie­sen haben. Die vol­le Ver­wirk­li­chung aller KSZE-Ver­pflich­tun­gen muss die Grund­la­ge für die Initia­ti­ven bil­den, die wir nun ergrei­fen, um unse­ren Natio­nen ein Leben zu ermög­li­chen, das ihren Wün­schen gerecht wird. (…) Nun, da die Tei­lung Euro­pas zu Ende geht, wer­den wir unter unein­ge­schränk­ter gegen­sei­ti­ger Ach­tung der Ent­schei­dungs­frei­heit eine neue Qua­li­tät in unse­ren Sicher­heits­be­zie­hun­gen anstre­ben. Sicher­heit ist unteil­bar, und die Sicher­heit jedes Teil­neh­mer­staa­tes ist untrenn­bar mit der aller ande­ren ver­bun­den. Wir ver­pflich­ten uns daher, bei der Festi­gung von Ver­trau­en und Sicher­heit unter­ein­an­der sowie bei der För­de­rung der Rüstungs­kon­trol­le und Abrü­stung zusam­men­zu­ar­bei­ten (…). Die bei­spiel­lo­se Redu­zie­rung der Streit­kräf­te durch den Ver­trag über Kon­ven­tio­nel­le Streit­kräf­te in Euro­pa wird – gemein­sam mit neu­en Ansät­zen für Sicher­heit und Zusam­men­ar­beit inner­halb des KSZE-Pro­zes­ses – unser Ver­ständ­nis von Sicher­heit in Euro­pa ver­än­dern und unse­ren Bezie­hun­gen eine neue Dimen­si­on ver­lei­hen. In die­sem Zusam­men­hang (!) beken­nen wir uns zum Recht der Staa­ten, ihre sicher­heits­po­li­ti­schen Dis­po­si­tio­nen frei zu treffen.«

Wich­tig ist, dass die Nato-Lob­by erklärt, Russ­land und sein Vor­gän­ger­staat Sowjet­uni­on habe doch unter­schrie­ben, dass jeder Staat die sou­ve­rä­ne Ent­schei­dung über sei­ne Zuge­hö­rig­keit zu einer Sicher­heits-, also Mili­tär­al­li­anz hat. Geflis­sent­lich blen­den die Pro­pa­gan­di­sten des Krie­ges den Anfang des Sat­zes aus, in dem es heißt »In die­sem Zusam­men­hang«. Und der Zusam­men­hang ist die Frie­dens­ord­nung, die sich am gemein­sa­men Haus Euro­pa und der KSZE-Schluss­ak­te über kol­lek­ti­ve Sicher­heit orientiert.

So wird die Öffent­lich­keit mit Halb­wahr­hei­ten auf Eska­la­ti­on und Krieg aus­ge­rich­tet, denn man ver­tei­di­ge ja die Sou­ve­rä­ni­tät eines jeden Staa­tes gegen die impe­ria­li­sti­schen Macht­ge­lü­ste des Dik­ta­tors im Kreml.

Dies zu kri­ti­sie­ren, stellt kei­ne Unter­stüt­zung der Poli­tik einer der im Krieg akti­ven Sei­ten dar, es ist ledig­lich eine Infor­ma­ti­on gegen die Des­in­for­ma­ti­on des poli­ti­schen Westens, der tag­täg­lich Russ­land vor­wirft, Unwahr­hei­ten zu ver­brei­ten und so Wah­len zu beein­flus­sen und damit auch noch die Demo­kra­tie zu schwächen.

Jack Mat­lock erklärt zum Ende des Kal­ten Krie­ges vor ca. 35 Jah­ren: »Wir dür­fen nicht ver­ges­sen, dass das Ende des Kal­ten Kriegs kein west­li­cher Sieg war. Wir haben das Ende des Kal­ten Kriegs ver­han­delt und es zu Bedin­gun­gen getan, die auch vor­teil­haft für die Sowjet­uni­on waren. Wir haben alle gewon­nen. (…) In Wirk­lich­keit war es Gor­bat­schow, der den Kom­mu­nis­mus und die kom­mu­ni­sti­sche Kon­trol­le der Sowjet­uni­on zer­stört hat. Nicht west­li­cher Druck. Wir haben den Kal­ten Krieg zwei oder drei Jah­re vor dem Kol­laps der Sowjet­uni­on beendet.«

Auf die Fra­ge, wie viel Nato-Expan­si­on ver­tret­bar sei, ant­wor­te­te Jack Mat­lock: »Wir, also jene, die das Ende des Kal­ten Krie­ges ver­han­delt haben, haben immer gewarnt: Macht kei­ne Sicher­heits­an­ge­le­gen­heit dar­aus. Benutzt kei­ne Kal­ter-Krieg-Alli­anz. Mit­te der 1990er Jah­re haben wir mit der ›Part­ner­ship for Peace‹ bei der Refor­mie­rung des Mili­tärs in Ost­eu­ro­pa gehol­fen. Aber der Umbau der Wirt­schaft war viel wich­ti­ger. Wäre das getrennt von der Sicher­heits­sei­te und von der Nato gesche­hen, wäre es akzep­ta­bel gewe­sen. Und wäre es bei Polen, Tsche­chi­en und Ungarn geblie­ben, auch. Es war auch ver­tret­bar in die drei bal­ti­schen Län­der zu expan­die­ren. Aber Rumä­ni­en und Bul­ga­ri­en waren es nicht mehr. Kei­nes die­ser Län­der war von Russ­land bedroht. Und dann begann die Eröff­nung von Mili­tär­ba­sen, unter ande­rem in Polen – gegen nicht-exi­stie­ren­de Rake­ten aus Iran. Für die Rus­sen war das eine Pro­vo­ka­ti­on. 2008 ent­schied die Nato, die Ukrai­ne auf eine Spur zur Mit­glied­schaft zu set­zen. Ein in sei­nem Inne­ren tief gespal­te­nes Land, direkt vor Russ­lands Tür. Das alles waren sehr dum­me Schach­zü­ge des Westens. Heu­te haben wir die Reak­ti­on darauf.«

Zur Fra­ge, wie die USA reagie­ren wür­den, wenn sich vor ihrer Tür ein ver­gleich­ba­res Sze­na­rio ent­fal­ten wür­de, erklär­te er: »Wenn Chi­na anfan­gen wür­de, eine Mili­tär­al­li­anz mit Kana­da und Mexi­ko zu orga­ni­sie­ren, wür­den die USA das nicht tole­rie­ren. (…) Wir wür­den das ver­hin­dern. Mit jedem Mit­tel, das wir haben. Jedes Land, das die Macht dazu hat, wür­de das tun.«

Auf die Fra­ge »Bedeu­tet dies, dass Sie Putin nicht als Aggres­sor betrach­ten?«, ant­wor­te­te er: »Ich ent­schul­di­ge nicht, was er tut. Und ich bil­li­ge es auch nicht. Aber ich sage, es war kom­plett vor­her­seh­bar. Putin han­delt so, wie jeder rus­si­sche poli­ti­sche Ver­ant­wort­li­che unter die­sen Umstän­den han­deln wür­de. Der Umsturz in Kiew im ver­gan­ge­nen Febru­ar hat Leu­te in den Sicher­heits­ap­pa­rat gebracht, die vehe­ment anti­rus­sisch sind und die poli­tisch so weit rechts ste­hen, dass man sie ohne Über­trei­bung Neo­na­zis nen­nen kann. Die gewalt­sa­me Über­nah­me von Regie­rungs­ge­bäu­den hat im Westen der Ukrai­ne begon­nen. Nicht im Osten.«

Fra­ge: »Wol­len Sie sagen, dass Putin die Krim ohne die Ereig­nis­se vom 22. Febru­ar 2014 – die Abset­zung von Exprä­si­dent Wik­tor Janu­ko­wytsch – nicht annek­tiert hät­te?« Ant­wort: »Ich glau­be nicht, dass er es ohne den Umsturz getan hät­te. Auch nicht ohne die Fra­ge der Nato-Mit­glied­schaft. Und auch nicht, wenn er nicht sicher gewe­sen wäre, dass die Mehr­heit der Leu­te dort von ihm genau das erwar­te­te. Es geschah fried­lich und nicht gegen den Wil­len der Bewohner.«

Fra­ge: »Was soll­te die US-Regie­rung statt­des­sen gegen­über Russ­land tun?« Ant­wort: »Stil­le Diplomatie.«

Fra­ge: »Sie haben den Kal­ten Krieg erlebt. Haben Sie jetzt Sor­ge, dass sich in der Ukrai­ne ein hei­ßer Krieg ent­wickelt?« Ant­wort: »Ich glau­be nicht, dass es ein Krieg wird. Eini­ge von unse­ren poli­ti­schen Ver­ant­wort­li­chen mögen mit­tel­mä­ßig sein. Ihnen feh­len die Visi­on und der Sinn für die Rea­li­tät der spä­ten 1980er Jah­re. Aber sie sind nicht verrückt.«

Hier irr­te Jack Mat­lock mehr­fach: Die Poli­tik des Nato-Westens hat die War­nun­gen in den Wind geschla­gen und eska­liert, bis der Kon­flikt in die krie­ge­ri­sche Kat­stro­phe unse­rer Tage führ­te und die Ver­ant­wor­tung dafür pro­pa­gan­di­stisch Russ­land zuge­scho­ben wird. Schlim­mer noch: Die öko­lo­gisch, sozi­al und mili­tä­risch nicht zu ver­ant­wor­ten­de sprung­haf­te Inten­si­vie­rung der Mili­ta­ri­sie­rung begrün­det die Nato-Lob­by mit der von Russ­land aus­ge­hen­den Gefahr. Sie macht dabei die wah­ren Grün­de ver­ges­sen und warnt vor dem rus­si­schen Impe­ria­lis­mus, was den Rüstungs­kon­zer­nen hohe Pro­fi­te und jah­re­lang siche­re Geschäf­te ver­heißt, wäh­rend die Gefah­ren immer wei­ter eskalieren.