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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Tiger ohne Katze im Sack?

Johann-Gün­ther König Tiger ohne Kat­ze im Sack?

 

Seit dem 31. Janu­ar ist das Ver­ei­nig­te König­reich (UK) kein Mit­glieds­staat der EU mehr. Seit­dem läuft das soge­nann­te Rück­nah­me­ab­kom­men, das eine Über­gangs­frist bis zum 31. Dezem­ber vor­sieht, damit die Abkom­men für die zukünf­ti­gen Bezie­hun­gen aus­ver­han­delt wer­den kön­nen. Obwohl nicht zuletzt die Coro­na-Pan­de­mie eine erheb­li­che Ver­hand­lungs­ver­zö­ge­rung erzwun­gen hat, bean­trag­te die Regie­rung in Lon­don bis zum 30. Juni kei­ne Ver­län­ge­rung der Über­gangs­frist. Somit steht seit dem 1. Juli fest, denn so for­dert es ein von John­sons Regie­rung erlas­se­nes Gesetz, dass die Ver­hand­lun­gen mit der EU spä­te­stens zu Sil­ve­ster abge­schlos­sen sein müs­sen. Soll­ten sich die EU- und UK-Gran­den bis dahin nicht auf ein umfas­sen­des oder meh­re­re Teil­ab­kom­men geei­nigt haben, wür­den ab dem 1. Janu­ar 2021 Null Uhr wie auch immer gear­te­te Zöl­le und Zoll­kon­trol­len wirk­sam wer­den, wäre die unter­schwel­lig immer im Spiel gehal­te­ne Dro­hung mit einem No-Deal-Brexit wahr gewor­den. Aber gemach. Noch läuft die Über­gangs­pha­se, läuft im schwer von der Coro­na-Pan­de­mie heim­ge­such­ten bri­ti­schen All­tag nach wie vor so gut wie alles in den gewöhn­li­chen uni­ons­eu­ro­päi­schen Bah­nen wei­ter, weil der gemein­sa­me Bin­nen­markt samt Zoll­uni­on bis zum 31. Dezem­ber fortbesteht.

Die seit dem Febru­ar statt­fin­den­den Ver­hand­lun­gen der ver­blie­be­nen 27 EU-Mit­glieds­staa­ten mit dem abtrün­ni­gen bri­ti­schen Welt­reich von anno dazu­mal über ein allen dien­li­ches Han­dels- und Part­ner­schafts­ab­kom­men sind bis­lang weder ziel­stre­big noch viel­ver­spre­chend über die Büh­ne – bezie­hungs­wei­se coro­nabe­dingt die Video­platt­form – gegan­gen. Wäh­rend die von Michel Bar­nier ange­führ­ten Uni­ons­eu­ro­pä­er eine strik­te Akzep­tanz der ein­schlä­gi­gen EU-Regu­lie­run­gen und vor allem gleich­blei­ben­de Wett­be­werbs­be­din­gun­gen (das viel­be­schwo­re­ne level play­ing field) erwar­ten, will die von David Frost ange­führ­te bri­ti­sche Unter­händ­ler­schar eine Wunsch­li­ste durch­set­zen, die diver­se EU-Regu­lie­run­gen aus­zu­he­beln gedenkt, sprich auf ein Rosi­nen­picken hin­aus­läuft. Wenn es nach dem 46 Sei­ten umfas­sen­den Ver­hand­lungs­man­dat der EU geht, kann das nicht gut aus­ge­hen, denn das betont die Bedeu­tung eines fai­ren und über­prüf­ba­ren Wett­be­werbs und besteht auf der Bei­be­hal­tung gemein­sa­mer hoher Stan­dards für staat­li­che Bei­hil­fen und Unter­neh­men, Arbeits- und Sozi­al­nor­men, die Umwelt und den Kli­ma­schutz et cetera.

Bis Mit­te August ste­hen vie­le The­men­kom­ple­xe auf der Ver­hand­lungs­agen­da, dar­un­ter Wett­be­werbs- und Han­dels­re­geln, Finanz­märk­te, Ener­gie und Trans­port, Bedin­gun­gen der Teil­nah­me an EU-Pro­gram­men für Wis­sen­schaft und For­schung und nicht zuletzt die Mit­nah­me­mög­lich­keit von Sozi­al­lei­stun­gen sowohl von EU-Bür­ge­rin­nen und -Bür­gern ins König­reich als auch von Bri­tish Citi­zens in EU-Mitgliedsstaaten.

Zu den gro­ßen Knack­punk­ten gehö­ren die Fische­rei­rech­te. Die bri­ti­schen Unter­händ­ler wol­len den Traw­lern aus EU-Mit­glieds­staa­ten die Ein­fahrt in die Fisch­grün­de des König­reichs nur gemäß jähr­lich neu zu ver­han­deln­der Ver­ein­ba­run­gen geneh­mi­gen, die uni­ons­eu­ro­päi­schen Unter­händ­ler leh­nen das jedoch ab, weil die Fische­rei­wirt­schaft dann kei­ne Pla­nungs­si­cher­heit mehr habe. Des Wei­te­ren die Sicher­heits­zu­sam­men­ar­beit: Die Bri­ten wol­len auch künf­tig auf Daten von Aus­wei­sen, Per­so­nen und Fahr­zeu­gen Zugriff haben, nach denen in der EU gefahn­det wird. Die­se Rech­te gewährt Brüs­sel jedoch nur Nicht­mit­glieds­staa­ten, die wie Island, Liech­ten­stein, Nor­we­gen und die Schweiz Teil des Schen­gen­raums sind. Das Ver­ei­nig­te König­reich will mit dem frei­zü­gi­gen Schen­gen­raum aber nichts zu tun haben. Dar­über hin­aus das Arbeits- und Umwelt­recht: Zwar beto­nen die bri­ti­schen Unter­händ­ler, man wol­le das erreich­te Schutz­ni­veau bei­be­hal­ten, sie leh­nen die »auto­ma­ti­sche« Über­nah­me neu beschlos­se­ner EU-Stan­dards jedoch ab. Ähn­lich unbe­frie­di­gend ver­läuft für die EU-Dele­ga­ti­on die Aus­ein­an­der­set­zung über Staats­hil­fen. Lon­don stimmt zwar einem im zwei­jäh­ri­gen Rhyth­mus erfol­gen­den Aus­tausch über jeweils gewähr­te Hil­fen und Kon­sul­ta­tio­nen dar­über zu, nicht aber einer Streit­schlich­tung. Ganz zu schwei­gen von der von den Uni­ons­eu­ro­pä­ern wei­ter­hin erwar­te­ten »Unter­wer­fung« unter den Euro­päi­schen Gerichts­hof – in den Wor­ten von EU-Chef­un­ter­händ­ler Michel Bar­nier: »Rech­te muss man durch­set­zen kön­nen.« Für die auf Unab­hän­gig­keit pochen­den Bri­ten wie­der­um ver­bie­tet sich ab 2021 nach­ge­ra­de die Aner­ken­nung der EuGH-Gesetz­ge­bung. »Nie­mals wer­den wir unse­re Sou­ve­rä­ni­tät weg­ver­han­deln«, bekräf­tig­te jüngst der UK-Chef­un­ter­händ­ler, über­zeug­te Brexi­te­er und Ken­ner der Uni­ons­me­cha­nis­men David Frost. Da im Auf­ga­lopp zum Brexit-Refe­ren­dum vor vier Jah­ren den Bri­tin­nen und Bri­ten das Wie­der­her­stel­len der vol­len Sou­ve­rä­ni­tät fest zuge­sagt wor­den ist, dürf­te jeder Ver­such der Uni­ons-Unter­händ­ler, dem Ver­ei­nig­ten König­reich wei­ter­hin eine Sou­ve­rä­ni­täts­tei­lung nach EU-Art zu dik­tie­ren, zum Schei­tern ver­ur­teilt sein.

Und wie wei­ter? Wird das Ver­ei­nig­te König­reich vom 1. Janu­ar 2021 an eine abso­lut unab­hän­gi­ge Han­dels­na­ti­on sein? Abwar­ten und Tee trin­ken. Im Juli soll über die gra­vie­ren­den Streit­punk­te jeden­falls inten­siv ver­han­delt wer­den. David McAl­li­ster, sei­nes Zei­chens Brexit-Beauf­trag­ter des EU-Par­la­ments, froh­lockt, ein »wirk­lich umfas­sen­des und maß­ge­schnei­der­tes Abkom­men mit unse­rem engen Part­ner, NATO-Ver­bün­de­ten und Nach­barn« sei bis zum Jah­res­en­de durch­aus mög­lich. Jedoch, so betont er, »kann und wird es kein Rosi­nen­picken geben«. EU-Rats­prä­si­dent Charles Michel prä­zi­siert, die EU sei zwar wie von Boris John­son ver­langt bereit, »einen Tiger in den Tank zu tun«, aber gewiss nicht wil­lens, »die Kat­ze im Sack zu kau­fen«. Und er betont: »Fai­re Wett­be­werbs­be­din­gun­gen sind essen­zi­ell.« Übri­gens ließ im Juni der Auto­mo­bil­kon­zern Nis­san, der in Nord­eng­land rund 7000 Mit­ar­bei­ter beschäf­tigt und der größ­te Her­stel­ler auf der Insel ist, durch sei­nen Betriebs­chef Ashwa­ni Gupta vor­sichts­hal­ber wis­sen, das Werk wür­de sich nicht rech­nen, »wenn wir kein Han­dels­ab­kom­men mit den glei­chen Zöl­len wie bis­her bekom­men«. Pro­gno­sen über den Ver­lauf der Ver­hand­lun­gen zu einem Frei­han­dels­ab­kom­men sind gegen­wär­tig müßig. Gut mög­lich, dass es zu einer Rah­men­ver­ein­ba­rung kommt, die einen Flicken­tep­pich von ver­ein­bar­ten sowie noch zu klä­ren­den Ein­zel­re­ge­lun­gen bün­delt und von der Regie­rung als Deal geprie­sen wer­den kann, bei dem die EU selbst­ver­ständ­lich ein­ge­knickt ist und die Bri­ten ihre neue Sou­ve­rä­ni­tät durch­ge­setzt haben.

Wie dem auch sei, wäh­rend sich Bri­ten und Uni­ons­eu­ro­pä­er an den Ver­hand­lungs­ti­schen wort­reich und spitz­fin­dig duel­lie­ren, treibt Boris John­son mit sei­nem kom­pro­miss- und skru­pel­lo­sen Chef­be­ra­ter Domi­nic Cum­mings in Lon­don die Umge­stal­tung des Regie­rungs­ap­pa­rats vor­an, um gezielt brexi­sti­sche Macht in der Dow­ning Street zu bün­deln. Nach­dem Cum­mings im Febru­ar Schatz­kanz­ler Sajid Javid aus dem Amt gedrängt hat­te, gelang es ihm im Juni, den höch­sten Beam­ten im Außen­mi­ni­ste­ri­um, Simon McDo­nald, sowie den natio­na­len Sicher­heits­be­ra­ter und Kabi­netts­chef, Sir Mark Sedwill, zur Auf­ga­be ihrer Ämter im Herbst zu bewe­gen. Die Rol­le des natio­na­len Sicher­heits­be­ra­ters soll und wird im Sep­tem­ber nun kein Gerin­ge­rer als Cum­mings Freund David Frost über­neh­men. Zugleich wird ihm die Adels­wür­de ver­lie­hen. Der 1965 gebo­re­ne David Geor­ge Hamil­ton Frost lern­te in den 1990er Jah­ren bei einer Tätig­keit in der bri­ti­schen Ver­tre­tung in Brüs­sel die EU-Insti­tu­tio­nen aus­rei­chend ken­nen und kam dabei zu der Über­zeu­gung, es sei für sein Land bes­ser, nicht an die vie­len Vor­schrif­ten der EU gebun­den zu sein.

Domi­nic Cum­mings, der wäh­rend des strik­ten Lock­downs selbst meh­re­re Regeln brach, macht die Mini­ste­ri­al­be­am­tin­nen und -beam­ten für genau das ver­kork­ste Coro­na-Kri­sen­ma­nage­ment ver­ant­wort­lich, das vie­le im Lan­de mit Fug und Recht dem Regie­rungs­chef ankrei­den. Kaum zufäl­lig hat die Pan­de­mie im – noch – Ver­ei­nig­ten König­reich här­ter zuge­schla­gen als in den mei­sten ande­ren Län­dern. Zudem steckt das ehe­ma­li­ge Welt­reich in einer schwe­ren Rezes­si­on, wird die Wirt­schafts­lei­stung die­ses Jahr um mehr als zehn Pro­zent ein­bre­chen. Als im April das monat­li­che Brut­to­in­lands­pro­dukt (BIP) um 20,4 Pro­zent sank, war das der größ­te Rück­gang, den UK-Sta­ti­sti­ker jemals mit­tei­len muss­ten. Und was wür­de der vor 200 Jah­ren gebo­re­ne Fried­rich Engels zu den Vor­gän­gen in sei­ner Wahl­hei­mat sagen? Nun, 1844 mach­te er in einem Arti­kel für »The New Moral World« dar­auf aufmerksam:

»Wie die ›All­ge­mei­ne Zei­tung‹, die deut­sche ›Times‹, schreibt, begin­nen die Deut­schen zu ent­decken, daß sich im Stil der Roman­schrift­stel­le­rei wäh­rend der letz­ten zehn Jah­re eine voll­kom­me­ne Umwäl­zung voll­zo­gen hat; daß an die Stel­le von Köni­gen und Für­sten, die frü­her die Hel­den sol­cher Erzäh­lun­gen waren, jetzt die Armen getre­ten sind, die ver­ach­te­te Klas­se, deren gute und böse Schick­sa­le, Freu­den und Lei­den zum The­ma der Roman­hand­lung gemacht wer­den; sie kom­men end­lich dahin­ter, daß die­se neue Klas­se von Roman­schrift­stel­lern, wie zum Bei­spiel G. Sand, E. Sue und Boz, wirk­lich ein Zei­chen der Zeit ist.« (MEW, Bd. 1, 1976, S. 497) Neben Geor­ge Sand und dem heu­te fast ver­ges­se­nen Eugè­ne Sue pries Engels mit »Boz« einen Zeit­ge­nos­sen von ihm und Marx, der als einer der größ­ten Sozi­al­kri­ti­ker des 19. Jahr­hun­derts in die Geschich­te und Lite­ra­tur­ge­schich­te ein­ge­gan­gen ist. Die Rede ist von Charles Dickens (1812 – 1870), des­sen Geschich­ten und (Fortsetzungs-)Romane bis 1844 unter dem Pseud­onym Boz erschie­nen: »Sket­ches by Boz« (dt. Lon­do­ner Skiz­zen), »The Pick­wick Papers« (dt. Die Pick­wickier), »Oli­ver Twist« und »Mar­tin Chuz­zle­wit« (dt. Leben und Aben­teu­er des Mar­tin Chuszle­wit). Fried­rich Engels wuss­te nur zu genau, was der Dich­ter zu bie­ten hat­te: Die von Dickens span­nend und humor­voll geschil­der­ten Ver­hält­nis­se der armen Leu­te, der Kin­der­ar­beit und gene­rell der Bigot­te­rie des Vik­to­ria­nis­mus ent­spra­chen abso­lut sei­nen eige­nen Kri­tik­punk­ten gegen das eng­li­sche Wirt­schafts- und Sozi­al­sy­stem. Und was wür­de der vor 150 Jah­ren ver­stor­be­ne Charles Dickens über die Vor­gän­ge in sei­ner vom Brexit und der Coro­na-Pan­de­mie gebeu­tel­ten Hei­mat schrei­ben, in der gegen­wär­tig bereits um die 14 Mil­lio­nen Men­schen in Armut leben – mehr als eine Per­son von fünf – und dar­un­ter vier Mil­lio­nen Kin­der und zwei Mil­lio­nen Rent­ne­rin­nen und Rent­ner? Sicher­lich span­nen­de Geschich­ten, die die sozia­le Fra­ge nach­drück­lich in den Mit­tel­punkt rücken würden.