Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Tiger in Fernost

Da steht er nun auf einem Fels, sech­zehn Meter hoch und fünf­und­zwan­zig Meter lang bis zur Schwanz­spit­ze, und in der tief­stehen­den Son­ne glänzt die Bron­ze matt. Das Hin­ter­teil reckt er demon­stra­tiv dem Uss­u­ri zu. Das gegen­über­lie­gen­de Ufer ist bereits Russ­land, aber dort ist kein Mensch zu sehen. Dies­seits ist auch nicht viel los, was gewiss dem kal­ten Wind geschul­det ist, der hier unab­läs­sig von Nord bläst. Heu­te stürmt es beson­ders. Des­halb stoppt auch der Kahn­ver­leih unten am Ufer, man darf nicht wie sonst bis zur Mit­te des Flus­ses fah­ren, der auf unse­rer Sei­te Muling He heißt. Das Was­ser strömt mal dahin und mal dort­hin, es mäan­dert durch die Wäl­der, es gibt Neben­ge­wäs­ser und Arme, die Inseln umflie­ßen. Um die klei­ne dort, Zhen­bao Dao gehei­ßen, kei­nen Qua­drat­ki­lo­me­ter groß, führ­ten die bei­den Anrai­ner 1969 Krieg: als gäbe es nicht schon genug unbe­wohn­tes Land auf bei­den Seiten.

Der Tiger aus gedie­ge­nem Blech ist geschlechts­los, bemer­ken wir, als wir zwi­schen sei­nen Hin­ter­bei­nen ste­hen. Aber er soll der größ­te der Welt sein. Das steht nir­gends, nicht ein­mal im Inter­net. Wiki­pe­dia kennt zwar die weit­läu­fi­ge Sied­lung Hul­in und dass dies tran­skri­biert so viel wie Tiger­wald oder Tiger­kopf hei­ße, aber viel mehr weiß die größ­te Enzy­klo­pä­die der Welt über die­sen abge­le­gen Ort in der Pro­vinz Hei­longjiang nicht mit­zu­tei­len. Die deut­sche Umschrei­bung erklärt aller­dings, war­um hier die­ser gewal­ti­ge Tiger thront, und ich stel­le mir vor, die Mar­ke­ting­ab­tei­lung von Schwein­furt oder die von Darm­stadt käme auf eine ähn­lich ver­we­ge­ne Idee.

Die Kat­ze auf dem Fels thront nicht nur ober­halb des Grenz­flus­ses, den die gan­ze Welt kennt, son­dern auch über einem Wie­sen­drei­eck, das gesäumt wird von den zwölf Tie­ren, die den chi­ne­si­schen Jah­res­kreis bil­den: Rat­te, Schwein, Hase, Schlan­ge und so wei­ter. Sie hocken, jedes Tier für sich, auf einem schwar­zen Mar­mor­sockel und heben die Nasen keck in den April­wind, der die umste­hen­den Lär­chen in Schief­la­ge bringt. Nir­gend­wo ist ein Baum zu sehen, der gera­de in den Him­mel wächst. Sie sind alle noch kahl, obgleich doch ande­ren­orts tief­ster Früh­ling herrscht. Eis türmt sich noch am Ufer. Die Vege­ta­ti­ons­pe­ri­ode dau­ert hier von Ende Mai bis Sep­tem­ber, sagen die Chi­ne­sen, die vor ihre win­zi­gen Häu­ser Pla­stik­pla­nen gespannt haben, damit der Wind nicht durch die Rit­zen zieht. Das Leben im nord­öst­lich­sten Zip­fel des Lan­des ist hart, die Ein­kom­men sind mit die nied­rig­sten im gan­zen Land.

In Hul­in, und das ist der Grund der Rei­se, wur­de die letz­te Schlacht des Zwei­ten Welt­krie­ges in Asi­en geschla­gen. Und nach­dem wir in Bei­jing den Ort besucht hat­ten, wo die ersten Schüs­se gefal­len waren, woll­ten wir auch die­sen hier sehen, wo die letz­ten fie­len. Chi­nas Geschichts­schrei­bung addiert die sie­ben Jah­re zuvor begon­ne­ne japa­ni­sche Okku­pa­ti­on der Man­dschu­rei und nach­fol­gen­de Kriegs­ver­bre­chen hin­zu, wes­halb aus Sicht der Chi­ne­sen der Krieg vier­zehn Jah­re dau­er­te. In die­ser Zeit ver­lo­ren etwa 35 Mil­lio­nen Lands­leu­te ihr Leben, was die Empö­rung erklärt, dass die­se Zeit etwa in japa­ni­schen Schul­bü­chern ver­harm­lo­send »Zwi­schen­fall« genannt wird. Im Deut­schen Bun­des­tag sprach mal einer von »Vogel­schiss«, als es um deut­sche Kriegs­ver­bre­chen ging. Eine Ach­se Ber­lin-Rom-Tokio und einen Anti­kom­in­tern­pakt hat­te es wohl auch nie gegeben.

Vor den Toren Bei­jings war es am 7. Juli 1937 zwi­schen den japa­ni­schen Aggres­si­ons­trup­pen an der Lugou-Brücke – den Euro­pä­ern als Mar­co-Polo-Brücke bekannt – zu einem nächt­li­chen Schar­müt­zel gekom­men. Die Füh­rung der Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei rief andern­tags alle Chi­ne­sen zum Wider­stand gegen die japa­ni­schen Besat­zer auf. Er ende­te schließ­lich acht Jah­re spä­ter hier, in der Festung Hut­ou, die die Japa­ner hat­ten errich­ten las­sen. Erst von chi­ne­si­schen Frei­wil­li­gen, dann von Zwangs­ar­bei­tern, schließ­lich von Kriegs­ge­fan­ge­nen. Sie hau­ten unter bar­ba­ri­schen Bedin­gun­gen die größ­te Festungs­an­la­ge Asi­ens in den Fels. Gedacht als Aus­gangs­punkt zur Erobe­rung Sibiriens.

Die Sowjet­ar­mee kämpf­te sich im August ’45 durch die unter­ir­di­schen Gän­ge. Noch elf Tage nach der kai­ser­li­chen Kapi­tu­la­ti­on wur­de hier geschos­sen. Die etwa andert­halb­tau­send japa­ni­schen Sol­da­ten woll­ten nicht glau­ben, dass der Krieg vor­über sei und ihr Kai­ser kapi­tu­liert habe. Am Ende streck­ten noch 53 die Waf­fen – mehr waren dazu nicht in der Lage, sie waren tot. Auch etwa zwei­tau­send Rot­ar­mi­sten bezahl­ten den Irr­sinn mit ihrem Leben.

In dem Geflecht der Gän­ge, düster und kalt, kann man noch die Ein­schuss­lö­cher an den Wän­den sehen und mit den Hän­den spü­ren. Im moder­nen Muse­um, das man vor eini­gen Jah­ren ober­ir­disch hin­zu­ge­fügt hat, kann man die Geschich­te der Festungs­an­la­gen stu­die­ren. Im Inter­net ist das (noch) nicht mög­lich: Die Chi­ne­sen, anson­sten tech­nik­af­fin wie kaum ein ande­res Volk, tun sich damit schwer, ihre Geschich­te ins Netz zu stel­len, was wir auch andern­orts fest­stel­len konnten.

Auf den drei­spra­chi­gen Tafeln (chi­ne­sisch, rus­sisch, eng­lisch) erfährt man denn auch, dass die Sowjet­sol­da­ten alle Waf­fen und Geschüt­ze mit sich führ­ten, als sie abzo­gen. Die Sowjet­uni­on wuss­te bei Kriegs­en­de nicht, wie sich die Bezie­hun­gen zum chi­ne­si­schen Nach­barn künf­tig gestal­ten wür­den. Und Kano­nen, die weg sind, kön­nen bekannt­lich auch nicht mehr schie­ßen. Die Rot­ar­mi­sten lie­ßen aber einen Obe­lisk auf dem höch­sten Punkt der Festungs­an­la­ge zurück, auf der eine Plat­te mit kyril­li­schen Let­tern Sta­lin rühmt, den »Gene­ra­lis­si­mus der Sowjet­uni­on«, und an die tap­fe­ren Kame­ra­den der 1. Fern­ost­front erin­nert, die Stadt und Festung Hut­ou von der japa­ni­scher Besat­zung befreiten.

Bis hier­her ist auch die aktu­el­le Kun­de gedrun­gen, dass die Japa­ner die Regi­on erneut bedro­hen. Die im dün­nen dun­kel­blau­en Hosen­an­zug bib­bern­de Chi­ne­sin, die län­ger als beab­sich­tigt mit uns durch die tropf­nas­sen Gän­ge gezo­gen war (wann kommt man schon hier­her?), ver­lieh ihrer Ent­rü­stung ver­nehm­lich Aus­druck. Zwei­hun­dert Kilo­me­ter süd­lich von hier liegt Wla­di­wo­stok an der Uss­u­ri­bucht, und die­se wie­der­um mün­det ins Japa­ni­schen Meer, in das die strah­len­den Abwäs­ser des Atom­kraft­wer­kes von Fuku­shi­ma flie­ßen sol­len. Das empört die Chi­ne­sen wie die Korea­ner und ande­re Anrai­ner. Tokio hat sie alle nicht gefragt, son­dern ein­fach mit der Tat­sa­che kon­fron­tiert: Wir machen das! Die­se her­ri­sche Hal­tung erin­ne­re sehr an die Kolo­ni­sa­to­ren-Atti­tü­de, mit der die Japa­ner die Chi­ne­sen bis 1945 behan­delt hat­ten. Sagt die Chi­ne­sin mit der gro­ßen Gold­rand­bril­le – »Maru­ta«. Men­schen, ins­be­son­de­re Chi­ne­sen, waren kei­ne Sub­jek­te, son­dern Objek­te. Wie Holz, also maru­ta, mit dem die Japa­ner damals nach Gut­dün­ken verfuhren.

Mehr als eine Mil­li­on Ton­nen kon­ta­mi­nier­tes Was­ser lagert in Tanks auf dem AKW-Gelän­de in Fuku­shi­ma, denn seit 2011 wer­den die Reak­to­ren gekühlt. Jetzt habe man kei­nen Platz mehr für Tanks, erklär­te der Ener­gie­kon­zern TEPCO. Außer­dem wer­de das Was­ser gefil­tert, gerei­nigt und ver­dünnt, ehe es über einen tau­send Meter lan­gen Tun­nel ins Meer gepumpt wer­de. Natur und Umwelt näh­men kei­nen Scha­den, beru­higt man. Doch wenn das Zeug erst ein­mal im Oze­an ist und sich die Pro­gno­se als Irr­tum erweist, ist es zu spät, der Geist aus der Fla­sche. Wer will dann noch Fisch aus die­sen Gewässern?

Die Fischer und Bau­ern aus der japa­ni­schen Prä­fek­tur Fuku­shi­ma blei­ben seit­her auf ihren Waren sit­zen, obwohl die­se unbe­denk­lich sind. Die zustän­di­gen Stel­len kaschie­ren die Her­kunft, indem man die Erzeug­nis­se mit ande­ren mischt. Beson­ders die im Paci­fic Island Forum (PIF) zusam­men­ge­schlos­se­nen sech­zehn Insel­staa­ten inter­ve­nier­ten in Tokio. Die Gesprä­che mit Japan – inzwi­schen als vier­te Kolo­ni­al­macht Ozea­ni­ens bezeich­net – ende­ten ergeb­nis­los. Man habe sie nicht gefragt, erklär­ten abschlie­ßend die Ver­hand­lungs­füh­rer, als die USA, Groß­bri­tan­ni­en und Frank­reich Atom­waf­fen auf ihren Inseln und Atol­len teste­ten. Man frag­te sie auch nicht, ob sie damit ein­ver­stan­den wären, dass die von den Indu­strie­staa­ten ver­ur­sach­te Erd­er­wär­mung für den Unter­gang ihrer Län­der sor­gen. Und nun igno­riert Tokio ihre Befürch­tung, dass ihnen die Haupt­ein­nah­me­quel­le, der Fisch­fang, ver­lo­ren gehen könn­te. Die mei­sten Thun­fi­sche auf der Welt wer­den schließ­lich in die­ser Regi­on gefan­gen, es geht um meh­re­re Mil­li­ar­den Dollar …

Wir stei­gen ins Auto und fah­ren zum Aus­sichts­turm, der den Nah­erho­lungs­park am Ran­de von Hut­ou über­ragt. Es ist kurz vor vier, man lässt uns den­noch ein, obwohl gleich geschlos­sen wird. Von oben hat man einen fan­ta­sti­schen Rund­blick in die Land­schaft. In der Fer­ne rollt ein rie­sen­lan­ger Güter­zug auf dem Gleis der Trans­si­bi­ri­schen Eisen­bahn von Cha­ba­rowsk nach Wla­di­wo­stok. Eine ande­re Bahn­strecke gibt es dort nicht. Über allem wölbt sich das blaue Fir­ma­ment. Alle und alles unter einem Him­mel, sagen die Chi­ne­sen. Nichts gehört sich selbst, die Erde gehört allen. Folg­lich muss man auch gemein­sam für sie sor­gen, sie beschüt­zen und bewah­ren. Der Wind bewegt die Baum­wip­fel wie ein Korn­feld im Som­mer. Der Uss­u­ri strömt gemäch­lich dahin. Stun­den­lang könn­te man hier ste­hen und stau­nen. Die­se unend­li­che Wei­te. Und die­se Stil­le … Irgend­wann bemäch­tigt sich das Mit­leid unser, der Wäch­ter war­tet, um abschlie­ßen zu können.

Unten ist nie­mand mehr. Der Mann ist schon nach Hau­se gegan­gen. Nun ja, wer ver­irrt sich schon um die­se Zeit an die­sem Ort? Und wozu?