Da steht er nun auf einem Fels, sechzehn Meter hoch und fünfundzwanzig Meter lang bis zur Schwanzspitze, und in der tiefstehenden Sonne glänzt die Bronze matt. Das Hinterteil reckt er demonstrativ dem Ussuri zu. Das gegenüberliegende Ufer ist bereits Russland, aber dort ist kein Mensch zu sehen. Diesseits ist auch nicht viel los, was gewiss dem kalten Wind geschuldet ist, der hier unablässig von Nord bläst. Heute stürmt es besonders. Deshalb stoppt auch der Kahnverleih unten am Ufer, man darf nicht wie sonst bis zur Mitte des Flusses fahren, der auf unserer Seite Muling He heißt. Das Wasser strömt mal dahin und mal dorthin, es mäandert durch die Wälder, es gibt Nebengewässer und Arme, die Inseln umfließen. Um die kleine dort, Zhenbao Dao geheißen, keinen Quadratkilometer groß, führten die beiden Anrainer 1969 Krieg: als gäbe es nicht schon genug unbewohntes Land auf beiden Seiten.
Der Tiger aus gediegenem Blech ist geschlechtslos, bemerken wir, als wir zwischen seinen Hinterbeinen stehen. Aber er soll der größte der Welt sein. Das steht nirgends, nicht einmal im Internet. Wikipedia kennt zwar die weitläufige Siedlung Hulin und dass dies transkribiert so viel wie Tigerwald oder Tigerkopf heiße, aber viel mehr weiß die größte Enzyklopädie der Welt über diesen abgelegen Ort in der Provinz Heilongjiang nicht mitzuteilen. Die deutsche Umschreibung erklärt allerdings, warum hier dieser gewaltige Tiger thront, und ich stelle mir vor, die Marketingabteilung von Schweinfurt oder die von Darmstadt käme auf eine ähnlich verwegene Idee.
Die Katze auf dem Fels thront nicht nur oberhalb des Grenzflusses, den die ganze Welt kennt, sondern auch über einem Wiesendreieck, das gesäumt wird von den zwölf Tieren, die den chinesischen Jahreskreis bilden: Ratte, Schwein, Hase, Schlange und so weiter. Sie hocken, jedes Tier für sich, auf einem schwarzen Marmorsockel und heben die Nasen keck in den Aprilwind, der die umstehenden Lärchen in Schieflage bringt. Nirgendwo ist ein Baum zu sehen, der gerade in den Himmel wächst. Sie sind alle noch kahl, obgleich doch anderenorts tiefster Frühling herrscht. Eis türmt sich noch am Ufer. Die Vegetationsperiode dauert hier von Ende Mai bis September, sagen die Chinesen, die vor ihre winzigen Häuser Plastikplanen gespannt haben, damit der Wind nicht durch die Ritzen zieht. Das Leben im nordöstlichsten Zipfel des Landes ist hart, die Einkommen sind mit die niedrigsten im ganzen Land.
In Hulin, und das ist der Grund der Reise, wurde die letzte Schlacht des Zweiten Weltkrieges in Asien geschlagen. Und nachdem wir in Beijing den Ort besucht hatten, wo die ersten Schüsse gefallen waren, wollten wir auch diesen hier sehen, wo die letzten fielen. Chinas Geschichtsschreibung addiert die sieben Jahre zuvor begonnene japanische Okkupation der Mandschurei und nachfolgende Kriegsverbrechen hinzu, weshalb aus Sicht der Chinesen der Krieg vierzehn Jahre dauerte. In dieser Zeit verloren etwa 35 Millionen Landsleute ihr Leben, was die Empörung erklärt, dass diese Zeit etwa in japanischen Schulbüchern verharmlosend »Zwischenfall« genannt wird. Im Deutschen Bundestag sprach mal einer von »Vogelschiss«, als es um deutsche Kriegsverbrechen ging. Eine Achse Berlin-Rom-Tokio und einen Antikominternpakt hatte es wohl auch nie gegeben.
Vor den Toren Beijings war es am 7. Juli 1937 zwischen den japanischen Aggressionstruppen an der Lugou-Brücke – den Europäern als Marco-Polo-Brücke bekannt – zu einem nächtlichen Scharmützel gekommen. Die Führung der Kommunistischen Partei rief anderntags alle Chinesen zum Widerstand gegen die japanischen Besatzer auf. Er endete schließlich acht Jahre später hier, in der Festung Hutou, die die Japaner hatten errichten lassen. Erst von chinesischen Freiwilligen, dann von Zwangsarbeitern, schließlich von Kriegsgefangenen. Sie hauten unter barbarischen Bedingungen die größte Festungsanlage Asiens in den Fels. Gedacht als Ausgangspunkt zur Eroberung Sibiriens.
Die Sowjetarmee kämpfte sich im August ’45 durch die unterirdischen Gänge. Noch elf Tage nach der kaiserlichen Kapitulation wurde hier geschossen. Die etwa anderthalbtausend japanischen Soldaten wollten nicht glauben, dass der Krieg vorüber sei und ihr Kaiser kapituliert habe. Am Ende streckten noch 53 die Waffen – mehr waren dazu nicht in der Lage, sie waren tot. Auch etwa zweitausend Rotarmisten bezahlten den Irrsinn mit ihrem Leben.
In dem Geflecht der Gänge, düster und kalt, kann man noch die Einschusslöcher an den Wänden sehen und mit den Händen spüren. Im modernen Museum, das man vor einigen Jahren oberirdisch hinzugefügt hat, kann man die Geschichte der Festungsanlagen studieren. Im Internet ist das (noch) nicht möglich: Die Chinesen, ansonsten technikaffin wie kaum ein anderes Volk, tun sich damit schwer, ihre Geschichte ins Netz zu stellen, was wir auch andernorts feststellen konnten.
Auf den dreisprachigen Tafeln (chinesisch, russisch, englisch) erfährt man denn auch, dass die Sowjetsoldaten alle Waffen und Geschütze mit sich führten, als sie abzogen. Die Sowjetunion wusste bei Kriegsende nicht, wie sich die Beziehungen zum chinesischen Nachbarn künftig gestalten würden. Und Kanonen, die weg sind, können bekanntlich auch nicht mehr schießen. Die Rotarmisten ließen aber einen Obelisk auf dem höchsten Punkt der Festungsanlage zurück, auf der eine Platte mit kyrillischen Lettern Stalin rühmt, den »Generalissimus der Sowjetunion«, und an die tapferen Kameraden der 1. Fernostfront erinnert, die Stadt und Festung Hutou von der japanischer Besatzung befreiten.
Bis hierher ist auch die aktuelle Kunde gedrungen, dass die Japaner die Region erneut bedrohen. Die im dünnen dunkelblauen Hosenanzug bibbernde Chinesin, die länger als beabsichtigt mit uns durch die tropfnassen Gänge gezogen war (wann kommt man schon hierher?), verlieh ihrer Entrüstung vernehmlich Ausdruck. Zweihundert Kilometer südlich von hier liegt Wladiwostok an der Ussuribucht, und diese wiederum mündet ins Japanischen Meer, in das die strahlenden Abwässer des Atomkraftwerkes von Fukushima fließen sollen. Das empört die Chinesen wie die Koreaner und andere Anrainer. Tokio hat sie alle nicht gefragt, sondern einfach mit der Tatsache konfrontiert: Wir machen das! Diese herrische Haltung erinnere sehr an die Kolonisatoren-Attitüde, mit der die Japaner die Chinesen bis 1945 behandelt hatten. Sagt die Chinesin mit der großen Goldrandbrille – »Maruta«. Menschen, insbesondere Chinesen, waren keine Subjekte, sondern Objekte. Wie Holz, also maruta, mit dem die Japaner damals nach Gutdünken verfuhren.
Mehr als eine Million Tonnen kontaminiertes Wasser lagert in Tanks auf dem AKW-Gelände in Fukushima, denn seit 2011 werden die Reaktoren gekühlt. Jetzt habe man keinen Platz mehr für Tanks, erklärte der Energiekonzern TEPCO. Außerdem werde das Wasser gefiltert, gereinigt und verdünnt, ehe es über einen tausend Meter langen Tunnel ins Meer gepumpt werde. Natur und Umwelt nähmen keinen Schaden, beruhigt man. Doch wenn das Zeug erst einmal im Ozean ist und sich die Prognose als Irrtum erweist, ist es zu spät, der Geist aus der Flasche. Wer will dann noch Fisch aus diesen Gewässern?
Die Fischer und Bauern aus der japanischen Präfektur Fukushima bleiben seither auf ihren Waren sitzen, obwohl diese unbedenklich sind. Die zuständigen Stellen kaschieren die Herkunft, indem man die Erzeugnisse mit anderen mischt. Besonders die im Pacific Island Forum (PIF) zusammengeschlossenen sechzehn Inselstaaten intervenierten in Tokio. Die Gespräche mit Japan – inzwischen als vierte Kolonialmacht Ozeaniens bezeichnet – endeten ergebnislos. Man habe sie nicht gefragt, erklärten abschließend die Verhandlungsführer, als die USA, Großbritannien und Frankreich Atomwaffen auf ihren Inseln und Atollen testeten. Man fragte sie auch nicht, ob sie damit einverstanden wären, dass die von den Industriestaaten verursachte Erderwärmung für den Untergang ihrer Länder sorgen. Und nun ignoriert Tokio ihre Befürchtung, dass ihnen die Haupteinnahmequelle, der Fischfang, verloren gehen könnte. Die meisten Thunfische auf der Welt werden schließlich in dieser Region gefangen, es geht um mehrere Milliarden Dollar …
Wir steigen ins Auto und fahren zum Aussichtsturm, der den Naherholungspark am Rande von Hutou überragt. Es ist kurz vor vier, man lässt uns dennoch ein, obwohl gleich geschlossen wird. Von oben hat man einen fantastischen Rundblick in die Landschaft. In der Ferne rollt ein riesenlanger Güterzug auf dem Gleis der Transsibirischen Eisenbahn von Chabarowsk nach Wladiwostok. Eine andere Bahnstrecke gibt es dort nicht. Über allem wölbt sich das blaue Firmament. Alle und alles unter einem Himmel, sagen die Chinesen. Nichts gehört sich selbst, die Erde gehört allen. Folglich muss man auch gemeinsam für sie sorgen, sie beschützen und bewahren. Der Wind bewegt die Baumwipfel wie ein Kornfeld im Sommer. Der Ussuri strömt gemächlich dahin. Stundenlang könnte man hier stehen und staunen. Diese unendliche Weite. Und diese Stille … Irgendwann bemächtigt sich das Mitleid unser, der Wächter wartet, um abschließen zu können.
Unten ist niemand mehr. Der Mann ist schon nach Hause gegangen. Nun ja, wer verirrt sich schon um diese Zeit an diesem Ort? Und wozu?