Die Stadtbäume tragen Gold: Ihre Stämme sind mit glänzender Folie umwickelt. Dabei ist unklar, ob dieser Schmuck dem Mondfest oder dem zwei Tage später folgenden Nationalfeiertag am 1. Oktober gilt. Vielleicht beiden. Von nahezu jeder Zinne grüßt eine rote Fahne mit fünf gelben Sternen. Diese Botschaft ist eindeutig – Ortsbezeichnungen und Namen hingegen sind es nicht. Zumindest was die Schreibweisen betrifft. Die tibetischen und die chinesischen Schriftzeichen sind für unsereinen unleserlich, selten nur wird eine englische Transkription mitgeliefert. Allenfalls aus Bezeichnungen auf blauen Großtafeln mit Richtungspfeilen, die über gut ausgebauten und mit Leitplanken versehenen Pisten schweben, lassen sich Schlüsse ziehen, wo man sich eventuell gerade befinden könnte und wohin die Reise geht.
Mein Begleiter aus Beijing schreibt auf einen Zettel Xiang Cheng, im Internet finden sich später ein Dutzend Orte dieses Namens in ganz China, allerdings als ein Wort, also zusammengeschrieben. Und der Tibeter, den er auf der Straße anspricht, versteht erst die Frage nicht, und dann sagt er etwas, was nur mit viel Fantasie annähernd so klingt wie das, was auf dem Zettel steht. Auf alle Fälle sind wir im Südwesten der Volksrepublik, wo die Berge sehr, sehr hoch sind und manche bereits Schneekronen tragen.
Die Luft ist ziemlich dünn in drei- bis viertausend Metern, und auch sonst wirkt nicht nur die Natur ziemlich archaisch: Über die Autopisten und durch die Stadtstraßen ziehen gelassen Yaks und andere Rinder, die stören sich am brausenden Verkehr so wenig wie die Autofahrer am Vieh: Bei uns meldet der Verkehrsfunk ganz aufgeregt, wenn mal ein Ochse die Straße quert. Hier erregt das niemanden. Man nimmt den Fuß vom Gas und umrundet das gemütlich mitten auf dem Asphalt ruhende Rind.
Die Begegnung auf dem Markt des Ortes, dessen Namen ich also weder lesen, geschweige richtig schreiben kann, macht ein generelles Problem deutlich: Die Sprachen der vielen in der Region lebenden Nationalitäten (von den fast sechzig in ganz China) sind kaum miteinander kompatibel, Mandarin, das Chinesisch der dominierenden Han, ist denn das einzig verbindende Element – und das schon seit einigen Tausend Jahren. Aber diese Sprache wird nicht von allen beherrscht, und mitunter, wie ich am irritierten Blick des Freundes sehe, in einer kaum verständlichen Art und Weise gesprochen. Umso erstaunlicher, dass 1,4 Milliarden Menschen unter diesen Umständen zu derart kollektiven Leistungen in Wirtschaft und Wissenschaft fähig sind. Inzwischen scheint Englisch in China darum mehr als eine fakultative Übung zu sein.
Die Kreisstadt, so erfahren wir zwischen goldenen Baumstämmen, flatternden Fahnen und roten Losungen, zählt an die dreißigtausend Menschen, von denen die übergroße Mehrheit Tibeter sind. Erzählt uns eine Tibeterin, die sich mit ihrer Tochter die Fotografien anschaut, die im weiten Rund auf Staffeleien zu besichtigen sind. Sie sind das Resultat eines landesweiten Wettbewerbs, mit dem die Schönheit von Natur und Mensch in diesen autonomen Regionen gezeigt werden sollte. Es existieren das Autonome Gebiet Tibet sowie zehn Autonome Bezirke und zwei Autonome Kreise in den angrenzenden vier Provinzen. Zwei davon, Sechuan und Yunnan, durchqueren wir aktuell mit staunendem Gesicht. Was für eine irre Gegend, was für eine touristisch zwar erschlossene, aber im Ausland unbekannte Landschaft! Ich würde, hätte ich die Macht, Menschen aus dem Westen – allen voran Politiker und Journalisten – dorthin bringen lassen, damit sie nicht weiterhin wie Blinde über die Farbe redeten oder schrieben.
Die Menschen dort sind aufgeschlossen und zugänglich, selbst von der gegenüberliegenden Straßenseite wird der Langnase lachend gewunken oder eine Vokabel herübergerufen, die man im Unterricht gelernt hat. Die Frau um die Dreißig – inzwischen habe ich es aufgegeben, nach Namen zu fragen: ich würde sie ohnehin falsch notieren – erzählt, ihre Tochter gehe in die dritte Klasse, seit der ersten lerne sie drei Sprachen: Mandarin, Englisch und Tibetanisch (oder Tibetisch?). Neun von zehn Einwohnern des Autonomen Kreises sind Tibeter. Nicht nur in diesem Gespräch auf dem Markt wird offenbar, was in den meisten Begegnungen spürbar wird: Erstens sind diese Menschen ausnahmslos stolz auf ihre Herkunft und dass sie in China leben. (In Tibet selbst sind sie Tibeter unter Tibetern, außerhalb Tibets erfahren sie als Angehörige einer Minderheit eine größere Aufmerksamkeit.)
Zweitens haben viele Tibeter höheren Alters die Schule schon nach wenigen Jahren verlassen, wie es einst üblich war. Aber ihre Kinder studieren heute in großer Zahl. Bildung ist wichtig fürs Vorankommen und für die Kultur, wissen sie inzwischen alle. Und es gab und gibt hier sehr viele Kinder. Die Ein-Kind-Politik Beijings galt für nationale Minderheiten nämlich nicht. Insofern handelt es sich also um Unsinn, wenn behauptet wird, dass die Han-Chinesen die Minderheiten in deren angestammten Siedlungsgebiete gleichsam »überschwemmten«, um sie zu unterdrücken.
Die ausgestellten Fotos sind hochprofessionell und würden jedes Hochglanzmagazin im Westen schmücken. Der Erste Preis ging an ein Foto, dass eine tibetische Neubausiedlung in einem Talkessel zeigt, über den sich ein Regenbogen wölbt. Die Häuser sind schlüsselfertig und kosten, wie ich später erfahren werde, etwa eine Million Yuan, was umgerechnet etwa 135.000 Euro sind. Das klingt für die hier herrschenden Verhältnisse viel, ist es aber in Wirklichkeit nicht. Die Frau, die wir später auf dem Weg zum 4.292 Meter hohen Bergpass treffen, betreibt einen Kiosk und hat so ein Haus. Sie verkauft in ihrem windumtosten Bretterbüdchen regionale Produkte wie getrocknetes Fleisch, Öröm und Sar Tos – die Butter aus Yakmilch – oder Früchte des Waldes, darunter auch den Affenkopfpilz, der an Bäumen wächst und von ihrem Sohn in der Semesterpause gesammelt wird. Mein Freund aus Beijing, in seiner Freizeit ein begnadeter Koch, kauft sich davon gleich zwei Beutel. Allein gekocht oder gebraten, schmecke der Pilz fad, sagt er, aber köstlich, wenn er in einem Fleischsud gegart werde, und hält zum Beweis mir so ein weißes Ding unter die Nase, was ich zunächst für eine Schrippe gehalten hatte. Der Pilz riecht überhaupt nicht nach Pilz, soll aber gegen alle möglichen Krankheiten helfen, selbst gegen Demenz. Mein Freund grinst.
Die Kioskbetreiberin mit der dunklen, wettergegerbten Haut und dem Dutt am Hinterkopf, sagt selbstbewusst, sie sei reich, was keineswegs untypisch für Chinesen ist. Man fragt, was man verdient, und nennt offen die Höhe des eigenen Einkommens. Ob ich mehr als zehntausend Yuan im Monat bekäme? Zehntausend, das höre ich immer wieder, scheint bei den Chinesen die Wegscheide zwischen wohlhabend und reich zu sein. Sie habe etwas 200 Yaks, die tagsüber über die Berge ziehen und gemolken werden von dreieinhalb Mitarbeitern (die natürlich nicht so heißen, und vermutlich meint sie mit der halben Kraft sich selbst). Aus der sehr fetthaltigen Milch macht sie auch Käse, der hier Biaslag heißt. Ob ich mal kosten wolle?
Ich kaue noch immer an dem luftgetrockneten Stück Yak, das sie von einem größeren Muskelfaserstrang abgeschnitten und über dem offenen Holzfeuer für mich erwärmt hatte. Warum weht die Fahne auf ihrem sturmzerzausten Verkaufsstand, frage ich, um nicht auch noch den – gewiss schmackhaften – Käse kosten zu müssen. Weil ich Mitglied der Kommunistischen Partei bin, sagt sie erhobenen Hauptes und nickt einem von einem dringenden Bedürfnis getriebenen Manne zu, der ihr etwas zugerufen hatte. Jetzt weiß ich, was die grünen Plastikplanen für eine Funktion haben, hinter der der Autofahrer verschwindet.
Oben auf dem Pass, der Weißes Pferd heißt, ragt eine Säule mit übereinandergesetzten Ziffern in den trüben Himmel. Unzählige Fähnchen mit aufgedruckten Sprüchen knattern im Wind. Wenn ich’s richtig notiert habe, nennt man sie Windpferde deshalb, weil die farbigen Stoffstücke die Wünsche und Gebete durch die Kraft des nie versiegenden Windes in den Himmel tragen. Der Wind treibt auch die Unmenge der in der Gegend installierten Windräder, denn die Chinesen setzen zunehmend auf erneuerbare Energien und auch den Tibetern solche Geräte vor die Nase. Farbe wie Abfolge der industriell gefertigten Girlanden sind vom tibetischen Buddhismus festgelegt: Weiß folgt auf Blau, die stehen für Luft und für Himmel. Dann kommt Rot (Feuer), Grün (Wasser) und Gelb für Erde. Im fernen Bejing verwandte der Genosse Xi die Farben ebenfalls, weshalb sich ein Zitat nunmehr auf etlichen Plakatwänden und Straßenbögen findet. Klares Wasser und grüne Berge seien Berge von Silber und Gold, womit der Staats- und Parteichef auf den Nutzen von Umwelt und die Notwendigkeit ihres Schutzes hingewiesen hatte.
Auch finden sich auf den Fähnchen die Abbildungen von Göttervögeln, Drachen, Tigern und Schneelöwen, welche Weisheit, Kraft, Glück und Zuversicht verkörpern. Rings umher auf dem Plateau finden sich gestapelte Steintürmchen. Aber nicht nur hier sollen auf diese Weise die guten Geister gewürdigt und die bösen vertrieben werden. Wie unterscheidet man sie? Ich halte es mehr für technisches Können, Stein auf Stein zu setzen, bis es nicht mehr geht. Mikado sozusagen, denn man soll nicht ein neues Türmchen errichten, besagt die umlaufende buddhistische Weisheit, sondern bereits vorhandene fortbauen. Das hat, meine ich, mehr mit Kunst, denn mit Glauben zu tun. Und außerdem ist es einfacher, noch einen draufzusetzen, als von vorn zu beginnen.