Aus diversen Lesekanons ist Thomas Mann verschwunden: Zu schwierig sei der Autor, besonders für junge Menschen! In der literarischen Diskussion der Gegenwart wird man ihm nur selten begegnen. Dafür feiert er in Romanen Urständ, wenn auch nicht durchweg fröhliche. So kann man ihm in Till Sailers Roman »Haus mit der Madonna« begegnen (siehe Ossietzky 04/2024). Es ist im Roman eine Abbildung zu lesen, wie »man« sich den Großschriftsteller und seine Auftritte eben vorstellt.
In Inger-Maria Mahlkes Roman »Unsereins« haben wir es dagegen mit Thomy zu tun, genannt »der Pfau«. Der Roman spielt zwischen Januar 1890 und September 1906 in Lübeck, dem »kleinsten Staat des Deutschen Reiches«, wie die Autorin zu betonen nicht müde wird. Leser mit statistischen Gelüsten könnten sich daranmachen, zu zählen, wie oft diese Floskel benutzt wird.
Natürlich ist das Bild Lübecks durch Thomas Mann, besonders durch den Roman »Buddenbrooks«, beinahe zementiert worden, und es ist eine grandiose Idee, die Stadt sozusagen im Gegenlicht und mit ganz anderem Personal zu zeigen und diese Zementierung aufzubrechen. Dazu werden mehr als 40 Personen aufgeboten. Ohne das Personenverzeichnis wäre man verloren. Ich kann nicht umhin, den zu üppigen Personalbestand des Werkes als eine seiner größten Schwächen zu tadeln. Es ist ein hehres Ziel, die Schicksale so vieler Menschen und die Zeitläufte zu erzählen, aber das überfordert Autorin und Lesepublikum, weil nicht immer eine stringente Zusammenführung gelingt. Manche Schilderung wuchert.
Damit soll keineswegs gesagt werden, dass diese Schicksale nicht fesselnd erzählt werden, manche Lebensbilder sind in ihrer Kürze und grimmigen Lakonik geradezu atemberaubend. Etwa der Lebensabriss Cord Lindhorsts. Dessen Leben ist kurz, denn ihm macht die Syphilis den Garaus. Die Synonyme für die Krankheit beenden knallend die Schilderung eines Arztbesuchs in Episode 8 des Kapitels IX, »Gespenster. 1897«. Hier kommt die Autorin wahrlich dem Thomas-Mann-Ton nahe, jenem schon berüchtigten: »Mit dem Typhus ist es folgendermaßen bestellt«, mit dem die Beschreibung des Endes des kleinen Hanno Buddenbrook beginnt.
Der bedauernswerte Cord (ein Bedauern natürlich im Rahmen der gutbürgerlichen Diskretion und Etikette) ist einer der acht Sprösslinge der Familie Lindhorst – der erzählerischen »Zentrale« des Romans.
Das letzte Kind Friedrich und Marie Lindhorsts, Marthe, wird 1890 geboren, in dem der Roman beginnt, Reichskanzler Otto von Bismarck abtritt, die Sozialdemokraten stärkste politische Kraft werden. Friedrich Lindhorst ist Rechtsanwalt und Kommunalpolitiker, nicht immer erfolgreich, aber dass es mit einer Familie bergab gehen kann in Lübeck, das ist dem Thomas-Mann-Leser bekannt. Lindhorsts Frau Marie, die im Laufe der Jahre immer mehr in Depressionen und Manien versinkt und sich aus diesen Verstrickungen weder befreien kann noch will, ist die Tochter »des berühmtesten Dichters aller Zeiten«, bezogen freilich auf Lübeck, den bekanntermaßen »kleinsten Staat« etc. Warum dieser Mann nun im Roman »Keitel« heißt, statt ihn so zu nennen, wie er nun einmal hieß, nämlich Emanuel Geibel, das hat sich mir leider nicht erschlossen – zumal er in den Zitatnachweisen sowieso als derjenige auftauchen muss. Die damals in Lübeck offenbar übliche, miefige und abgeschmackte, an Gläubigkeit grenzende Verehrung des Lyrikers, dessen Verse heute weit mehr verschwunden sind als die Werke Manns, wird von Mahlke trefflich geschildert. Und wunderbare Ironie waltet dadurch, dass in dieser abgestandenen poetischen Luft die erste Lesung des nächsten »großen Sohnes der Stadt« zelebriert wird: »Thomy der Pfau« gibt, nebst schnöseligem Betragen, Auszüge aus seinen frühen Erzählungen »Das Wunderkind« und »Fiorina« zum Besten, wobei das Ende der Lesung von den Besuchern sozusagen herbeiapplaudiert wird: »Allgemeine Erleichterung, als es vorbei ist.« Doch wird es friedlich nicht bleiben, denn als der Roman erscheint, wird es zum Gesellschaftssport in Lübeck, eine Art »Who is who«-Spiel zu veranstalten, also: Wer ist wer im Roman? Uns erreicht eine Schärfe der Schilderung, die fast wundersam zu nennen ist und die zeigt, dass Literatur eben auch mit Mitteln der Schäbigkeit arbeitet, denn in Thomys Roman wird von Marie behauptet, sie sei eine geborene »Puttfarken«, also Dreckferkel. Es ist ja bekannt, dass Thomas Mann mit Figurennamen seine Personenerfindungen fast ebenso vernichtete, man denke nur an Christian Buddenbrooks spätere Frau Aline Puvogel. Auf beinahe leichte und doch intensive Weise lässt Inger-Maria Mahlke uns tief verwurzelten Antisemitismus erleben, denn Friedrich Lindhorst weiß, es ist »wegen der Reinheit des germanischen Pluuhtess«, wie er, einen Lübecker Senator zitiert. Wichtig für die Wirkung dieses Buches sind die Blicke, die es auf die »kleinen Leute« richtet, indem es ihre Geschichten ernsthaft erzählt, ohne besserwisserische oder herablassende Ironie. Besonders beeindruckend ist die Darstellung des Dienstmädchens Ida Stuermann, die verzweifelt versucht, den miesen Bedingungen ihres Berufs zu entkommen, indem sie heimlich, aber trotzig Stenografie und Schreibmaschine lernt. Der Ratsdiener Isenhagen und der Lohndiener Helms können wie andere auch ihr Glück nicht finden, es ist, als stehe ihnen immer die Welt, in der sie leben, im Wege. Nun gut, mag man sagen, 1890 bis 1906, das ist lange her. Stimmt, und vorzüglich wird uns jene fremd werdende Welt mit ihren schon seltsam anmutenden Vorschriften und Verhaltensweisen, ihren Einengungen und Hindernissen geschildert. Das wird auch mit der verwendeten Sprache erreicht, die sich der erzählten Zeit gut anpasst und dennoch nicht antiquiert wirkt. Mit mancher ganz gegenwärtig klingenden Floskel wird man sowieso in die Jetztzeit geholt. Und die subtilen und offenbaren Unterdrückungsmechanismen, die Häme, das Übergewicht von Macht, Geld, Trug und äußerem Schein – man kennt sie. Das ist die positive Wirkung der Begegnung mit einem Wiedergänger.
Inger-Maria Mahlke: Unsereins, Roman, Rowohlt Verlag, Hamburg 2023, 496 S., 26 €.
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Zum »Berufsbild« des Wiedergängers gehört die Verbreitung von Schrecken. Das tat auch Thomas Mann, man muss nicht extra betonen, wie subtil und beinahe nebensächlich er ihn in seinen Werken oft ausstreute. Aber das geschah nie mit den Mitteln der Schauer- oder Horrorliteratur. Dazu kommt es erst im schlesischen Ort Görbersdorf, einem im frühen 20. Jahrhundert bekannten Luftkurort. Und dazu bedarf es des Romans »Empusion« mit dem Untertitel »Eine natur(un)heilkundliche Schauergeschichte« der polnischen Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, der den Leser vor die Frage stellt, ob der Erhalt eines solchen Preises auch glänzende Werke zeitigt. Im Falle Thomas Mann natürlich unbedingt. Sein »Zauberberg« hat beim »Empusion« unverkennbar gewirkt.
Beim »Empusion«? Ja. Das Wort ist eine Neubildung, entstanden aus »Empuse« und »Symposion«. Während seit Platons Zeiten das Symposion als männliches Festgelage mit ausgiebigen Gesprächen und wichtiger sozialer Funktion geläufig ist, erreicht die Empuse keinen so hohen Bekanntheitswert. Es ist eine einfüßiger (daher auch der Name) Spuk, der in verschiedenen Gestalten, auch als schöne Frau, erscheint. In Goethes Faust II hat sie einen kurzen Auftritt, als »Mühmichen (Verkleinerung von »Muhme«) Empuse«. So richtig ernst wird sie also nicht genommen. Bei Olga Tokarczuk hingegen läuft sie zu großer Form auf, zur männerfressenden Horrorfigur.
Görbersdorf also als Ahnung (oder Nachempfindung) von Davos und Zauberberg im schlesischen Mittelgebirge. Die Hauptfigur, Mieczysław Wojnicz aus Lemberg, künftiger »Canalisationsbautechniker« und schwindsüchtig, nimmt im Jahre 1913 Quartier im Gästehaus des Wilhelm Opitz und vertraut sich den Therapien des allmächtig wirkenden Mediziners Semperweiß an, denn er möchte geheilt werden.
Wojnicz gerät im Gästehaus in eine muntere Runde von Tbc-Patienten: Ein Gymnasiallehrer, ein Philologe, ein Theosoph, ein begabter Malerstudent. Wer von ihnen Geheimpolizist ist, wird hier nicht verraten – das immer im November stattfindende Empusion, dem immer Männer zum Opfer fallen, hat das Interesse staatlicher Ermittler geweckt: »Jedes Jahr im Herbst (…) kommt jemand im Wald ums Leben, meistens ein Hirte oder ein Köhler. Ein Mensch, das heißt ein Mann. Jung oder in den besten Jahren. Und das Schrecklichste – man findet die blutigen Teile der zerfetzten Leiche im Wald verstreut.«
Den mit Philosophie, Soziologie, Kunstwissenschaft garnierten Schauerroman kennt man. Es nimmt also nicht wunder, dass die Männerrunde, man logiert ja im »Gästehaus für Herren«, beflügelt vom seltsamen Likörchen »Schwärmerei«, diskutiert und diskutiert. Aber worüber auch debattiert und manchmal palavert wird, am Ende landet man immer bei den Frauen. Und bei Befunden wie diesen: Das Frauengehirn sei anders gebaut als das der Männer, kleiner sowieso, Frauen könnten nicht logisch handeln, sie seien von Trieben gesteuert, soziale Schmarotzer und tauglich nur zum Gebären. Da ficht es, bis auf Wojnicz, weder die Gästerunde noch den Gästehausbetreiber an, dass Klara Opitz, die Ehefrau und Wirtin, sich aufhängt. Wobei unklar bleibt, ob nachgeholfen wurde. Weitere Ingredienzien des Schauerromans fehlen nicht: Nächtliche Geräusche auf dem Dachboden, Gebrüll aus dem Wald, ein seltsamer Stuhl mit Fixiervorrichtungen usw. usf.
Wirklich gut gelungen ist es der Autorin, dem Leser bewusst zu machen, dass die Tiraden nicht nur Abendunterhaltungen kranker, moribunder Herren sind, sondern sozusagen ein Konzentrat europäischer Geistesgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart. Und nicht wenige solcher Theorien spuken, um im Bild zu bleiben, noch heute durch manche Köpfe, Bücher oder Medien. Eine Wiedergängerei ganz anderer Art. Doch da man im Gästehaus nur darauf aus ist, misogyne Theorien auszuposaunen und bestätigt zu finden, erreichen diese Disputationen nicht das Niveau der gelehrten Herren Naphta und Settembrini im »Zauberberg«. Freilich entgeht man weder auf dem Zauberberg noch im Sanatorium Görbersdorf dem Sexus. Das bekommt auch Wojnicz zu spüren, der sich Annäherungsversuchen ausgesetzt sieht, dem sich manches im Kopfe wölkt und dem Brüste wachsen, dem die Herren Angebote vermitteln wollen oder machen, dem sie im Wald »Tuntschis« zeigen. Das sind aus Naturmaterialien gebildete, angeblich von Köhlern gemachte und ihrer »Erleichterung« dienende überdimensionierte »Sexpuppen«. Wahrscheinlich erwachen diese Tuntschis im schaurigen November als Empuse – die Erzählerstimmen bleiben gerade dort verschwommen – zum Leben, und sie gehen auf einen Mann los, von dem dann nicht viel übrigbleibt. Empusion eben! Und obwohl Wojnicz als Opfer auserkoren ist, weil der junge Maler Thilo unpassenderweise zu früh stirbt, kommt er davon. Das hat eben mit wachsenden Brüsten zu tun und der Unsicherheit des Arztes Semperweiß, der sich fragt, ob er einen Patienten oder eine Patientin vor sich hat.
Die Empusen verzichten freilich nicht auf ihr Jahresfest, einer der Herren muss dran glauben, und die Autorin ist so freundlich, uns die weiteren Schicksale der Romanfiguren mitzuteilen, auch das von Wojnicz in seinem von Klara Opitz geerbten Gewand.
Man bleibt zwischen Faszination und innerem Widerstand hängen, wenn man dieses Werk liest. Hat man einen kunstvollen Unterhaltungsroman vor sich oder ein unterhaltsames Werk mit Kunstanspruch? Oder einen Horrorreißer mit Augenzwinkern? Auf jeden Fall werden verquere Doktrinen und hasserfüllte Denkweisen vorgeführt, die sich heute in Sekundenschnelle überall verbreiten lassen und die mancher schon deshalb für wahr hält, weil sie auf Bildschirmen oder Displays zu lesen sind. Und das ist etwas, wovon 1913 in Görbersdorf niemand etwas ahnte, wenn man in geselliger Runde salbaderte. Und was wohl auch Thomas Mann und seine Disputanten Naphta und Settembrini nicht für möglich gehalten hätten, denn sie glaubten doch an Freiheit und Menschenrechte, daran, dass der Sieg über das Böse möglich sei. Aus Olga Tokarczuks Buch lassen sich solche Hoffnungen nicht ziehen.
Olga Tokarczuk: Empusion. Eine natur(un)kundliche Schauergeschichte, Kampa Verlag 2023, 384 S., 26 €.