Mittlerweile über dreißig Jahre ist es her, dass der Wuppertaler Dirk Krüger die Autorin Ruth Rewald wiederentdeckt und ihr seine Dissertation zum Thema Exil-Kinderliteratur gewidmet hat. Seit 1987 hat er drei ihrer Kinderbücher neu herausgegeben, mit denen sich dann Germanisten in Aufsätzen und Analysen beschäftigt haben. In dem Erfolgsroman »Das Exil der frechen Frauen« (2009) von Robert Cohen ist Ruth Rewald eine der drei Hauptfiguren. Umso befremdlicher, dass ausgerechnet in Berlin, wo sie geboren wurde und aufgewachsen ist, bis heute nichts, nicht einmal ein Stolperstein, an sie erinnert.
Als sozialistisch gesinnte Schriftstellerin jüdischer Herkunft hatte sie die Reichshauptstadt bereits ein Vierteljahr nach dem Machtantritt der Nazis verlassen; ihr Mann, Hans Schaul, der dort als jüdischer Rechtsanwalt nicht mehr praktizieren konnte, folgte ihr wenig später nach Paris. Im Exil haben sich beide mehr schlecht als recht durchgeschlagen, oft fehlte es am täglichen Brot. Dennoch gelang es Rewald, drei weitere Kinderbücher zu schreiben – nur das erste, »Janko, der Junge aus Mexiko« erschien 1934 als Buch und wurde sogar in einige andere Sprachen übersetzt.
Für »Tsao und Jing-Ling« (»Kinderleben in China«, 1936) fand sich kein Verleger, es wurde in einer Schweizer Gewerkschafts-Zeitschrift in Fortsetzungen veröffentlicht. Noch weniger Glück hatte Rewald mit ihrer dokumentarischen Erzählung über »Vier spanische Jungen« im Bürgerkrieg; als sie sie 1938 beendet hatte, war die Sache der Republikaner verloren und das Werk nicht mehr aktuell. Zugleich war die Situation für deutsche Exilschriftsteller noch prekärer geworden, der Zweite Weltkrieg stand vor der Tür.
Ruth Rewald und ihr Mann, die sich bereits 1934 um eine Emigration in die Vereinigten Staaten bemüht hatten, saßen in Frankreich fest. Hans Schaul wurde zunächst als Spanienkämpfer, dann als »feindlicher Ausländer« interniert und hatte 1944 das Glück, durch ein sowjetisches Visum aus einem Lager in Algerien zu entkommen. Er überlebte in der Sowjetunion. Seine Frau war inzwischen mit der 1937 geborenen Tochter Anja in den Tausend-Seelen-Ort Les Rosiers sur Loire westlich von Paris gelangt und hatte dort eine Bleibe gefunden.
Mit der Unterstützung freundlicher Nachbarn ging es beiden recht gut; brieflich hielt Ruth den Kontakt zu ihrem Mann aufrecht. Doch als im Juli 1942 die von deutschen und französischen Behörden organisierten Massenrazzien gegen Juden in Frankreich begannen, wurde auch sie festgenommen und nach Auschwitz deportiert. Danach gibt es kein Lebenszeichen mehr von ihr. Ihre Tochter Anja wurde zunächst von einer Nachbarin, dann von ihrer Grundschullehrerin betreut. Aber auf die Dauer konnte ihre Existenz den faschistischen Verfolgern nicht verborgen bleiben: das begabte kleine Mädchen wurde 1944 aus der Schule abgeholt und in Auschwitz ermordet.
Die von der Gestapo beschlagnahmten Unterlagen und Manuskripte Ruth Rewalds wurden bei Kriegsende von der Roten Armee aufgefunden, nach Moskau verbracht und später der DDR übergeben, wo sie im Staatsarchiv Potsdam allerdings bis 1987 weitgehend unbeachtet blieben.
In ihrer für etwa Zehnjährige gedachten Erzählung »Müllerstraße – Jungens von heute« (1932) schildert Ruth Rewald aus eigener Kenntnis die Situation von Arbeiterkindern im Wedding nach dem Beginn der Weltwirtschaftskrise. Einige Väter sind arbeitslos, selbst ein Sommerurlaub bei Verwandten wird unmöglich, und auch Ferienreisen, die das Bezirksamt finanziert, fallen weg. So sind fünf mehr oder weniger wilde Berliner Jungen im Sommer auf sich allein gestellt, ärgern sich über aufkommende Langeweile und geben sich nicht mehr mit den üblichen Ballspielen zufrieden. Schließlich kommt ihnen die Idee, illegal auf dem Dach eines der Mietshäuser an der Müllerstraße einen kleinen Garten einzurichten und ein Theaterstück einzustudieren – was natürlich mit verschiedenen Schwierigkeiten verbunden ist. Rewald erzählt humorvoll, wie diese Schwierigkeiten von den Kindern nach und nach gemeistert werden, wie sie mühsam das nötige Geld auftreiben und nebenbei den Direktor ihrer Schule für sich gewinnen. Am Ende wird ihr Stück, von ihnen selbst gesprochen, sogar im Rundfunk gesendet.
Die Erzählung »Müllerstraße« hatte verblüffenden Erfolg. In etwa siebzig Rezensionen wurde das Buch lobend erwähnt, und im Weihnachtsgeschäft 1932 verkaufte sich fast die gesamte Auflage von 7000 Exemplaren.
Ruth Rewald war es wichtig zu zeigen, wie Kinder sich selbst helfen können, wenn sie findig, kreativ und beherzt sind, und wenn sie zusammenhalten. Wobei sie stets auf die Hilfe einzelner Erwachsener zählen können.
Dieser Grundgedanke hat heute, wie damals Gültigkeit, vielleicht heute sogar noch mehr als damals, da Kindern und Jugendlichen jetzt in Deutschland mehr Möglichkeiten offenstehen und sie mit wenigen Mitteln mehr erreichen könnten. Nicht immer nur auf fertige Lösungen »von oben« zu warten, sondern sich selbst einzubringen, sich zu organisieren und Chancen aktiv einzufordern, das ist durchaus ein sinnvoller Ansatz, der sich in schwierigen Zeiten bewährt.
Dem Verlag Walter Frey in Berlin-Wedding ist zu danken, dass dieses sympathische Kinderbuch 2023 wiederaufgelegt wurde und kürzlich eine zweite Auflage erleben konnte. Die ausdrucksvollen Schwarzweißillustrationen von Kurt Tiedemann stammen aus der Erstausgabe.
Im rund vierzigseitigen Nachwort informiert Dirk Krüger ausführlich über Leben und Werk der lange vergessenen Ruth Rewald, die in Frankreich bereits öffentlich betrauert und gewürdigt wurde.
Wird man ihrer nun endlich auch in ihrer Heimatstadt Berlin gedenken? »Gibt es bald eine Straße und/oder eine Schule, die ihren Namen tragen werden?« fragt Krüger polemisch. Eine Frage, die ungeduldig auf Antwort wartet.
Ruth Rewald: Müllerstraße – Jungens von heute. Ein Jugendroman aus dem Wedding von 1932. Mit Nachwort von Dirk Krüger zu Ruth Rewalds Leben und Werk, Verlag Walter Frey, Berlin, 2. Auflage 2024, 173 S., Illustrationen von Kurt Tiedemann, 15 €.