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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Theater auf dem Dach

Mitt­ler­wei­le über drei­ßig Jah­re ist es her, dass der Wup­per­ta­ler Dirk Krü­ger die Autorin Ruth Rewald wie­der­ent­deckt und ihr sei­ne Dis­ser­ta­ti­on zum The­ma Exil-Kin­der­li­te­ra­tur gewid­met hat. Seit 1987 hat er drei ihrer Kin­der­bü­cher neu her­aus­ge­ge­ben, mit denen sich dann Ger­ma­ni­sten in Auf­sät­zen und Ana­ly­sen beschäf­tigt haben. In dem Erfolgs­ro­man »Das Exil der fre­chen Frau­en« (2009) von Robert Cohen ist Ruth Rewald eine der drei Haupt­fi­gu­ren. Umso befremd­li­cher, dass aus­ge­rech­net in Ber­lin, wo sie gebo­ren wur­de und auf­ge­wach­sen ist, bis heu­te nichts, nicht ein­mal ein Stol­per­stein, an sie erinnert.

Als sozia­li­stisch gesinn­te Schrift­stel­le­rin jüdi­scher Her­kunft hat­te sie die Reichs­haupt­stadt bereits ein Vier­tel­jahr nach dem Macht­an­tritt der Nazis ver­las­sen; ihr Mann, Hans Schaul, der dort als jüdi­scher Rechts­an­walt nicht mehr prak­ti­zie­ren konn­te, folg­te ihr wenig spä­ter nach Paris. Im Exil haben sich bei­de mehr schlecht als recht durch­ge­schla­gen, oft fehl­te es am täg­li­chen Brot. Den­noch gelang es Rewald, drei wei­te­re Kin­der­bü­cher zu schrei­ben – nur das erste, »Jan­ko, der Jun­ge aus Mexi­ko« erschien 1934 als Buch und wur­de sogar in eini­ge ande­re Spra­chen übersetzt.

Für »Tsao und Jing-Ling« (»Kin­der­le­ben in Chi­na«, 1936) fand sich kein Ver­le­ger, es wur­de in einer Schwei­zer Gewerk­schafts-Zeit­schrift in Fort­set­zun­gen ver­öf­fent­licht. Noch weni­ger Glück hat­te Rewald mit ihrer doku­men­ta­ri­schen Erzäh­lung über »Vier spa­ni­sche Jun­gen« im Bür­ger­krieg; als sie sie 1938 been­det hat­te, war die Sache der Repu­bli­ka­ner ver­lo­ren und das Werk nicht mehr aktu­ell. Zugleich war die Situa­ti­on für deut­sche Exil­schrift­stel­ler noch pre­kä­rer gewor­den, der Zwei­te Welt­krieg stand vor der Tür.

Ruth Rewald und ihr Mann, die sich bereits 1934 um eine Emi­gra­ti­on in die Ver­ei­nig­ten Staa­ten bemüht hat­ten, saßen in Frank­reich fest. Hans Schaul wur­de zunächst als Spa­ni­en­kämp­fer, dann als »feind­li­cher Aus­län­der« inter­niert und hat­te 1944 das Glück, durch ein sowje­ti­sches Visum aus einem Lager in Alge­ri­en zu ent­kom­men. Er über­leb­te in der Sowjet­uni­on. Sei­ne Frau war inzwi­schen mit der 1937 gebo­re­nen Toch­ter Anja in den Tau­send-See­len-Ort Les Rosiers sur Loire west­lich von Paris gelangt und hat­te dort eine Blei­be gefunden.

Mit der Unter­stüt­zung freund­li­cher Nach­barn ging es bei­den recht gut; brief­lich hielt Ruth den Kon­takt zu ihrem Mann auf­recht. Doch als im Juli 1942 die von deut­schen und fran­zö­si­schen Behör­den orga­ni­sier­ten Mas­sen­raz­zi­en gegen Juden in Frank­reich began­nen, wur­de auch sie fest­ge­nom­men und nach Ausch­witz depor­tiert. Danach gibt es kein Lebens­zei­chen mehr von ihr. Ihre Toch­ter Anja wur­de zunächst von einer Nach­ba­rin, dann von ihrer Grund­schul­leh­re­rin betreut. Aber auf die Dau­er konn­te ihre Exi­stenz den faschi­sti­schen Ver­fol­gern nicht ver­bor­gen blei­ben: das begab­te klei­ne Mäd­chen wur­de 1944 aus der Schu­le abge­holt und in Ausch­witz ermordet.

Die von der Gesta­po beschlag­nahm­ten Unter­la­gen und Manu­skrip­te Ruth Rewalds wur­den bei Kriegs­en­de von der Roten Armee auf­ge­fun­den, nach Mos­kau ver­bracht und spä­ter der DDR über­ge­ben, wo sie im Staats­ar­chiv Pots­dam aller­dings bis 1987 weit­ge­hend unbe­ach­tet blieben.

In ihrer für etwa Zehn­jäh­ri­ge gedach­ten Erzäh­lung »Mül­lerstra­ße – Jun­gens von heu­te« (1932) schil­dert Ruth Rewald aus eige­ner Kennt­nis die Situa­ti­on von Arbei­ter­kin­dern im Wed­ding nach dem Beginn der Welt­wirt­schafts­kri­se. Eini­ge Väter sind arbeits­los, selbst ein Som­mer­ur­laub bei Ver­wand­ten wird unmög­lich, und auch Feri­en­rei­sen, die das Bezirks­amt finan­ziert, fal­len weg. So sind fünf mehr oder weni­ger wil­de Ber­li­ner Jun­gen im Som­mer auf sich allein gestellt, ärgern sich über auf­kom­men­de Lan­ge­wei­le und geben sich nicht mehr mit den übli­chen Ball­spie­len zufrie­den. Schließ­lich kommt ihnen die Idee, ille­gal auf dem Dach eines der Miets­häu­ser an der Mül­lerstra­ße einen klei­nen Gar­ten ein­zu­rich­ten und ein Thea­ter­stück ein­zu­stu­die­ren – was natür­lich mit ver­schie­de­nen Schwie­rig­kei­ten ver­bun­den ist. Rewald erzählt humor­voll, wie die­se Schwie­rig­kei­ten von den Kin­dern nach und nach gemei­stert wer­den, wie sie müh­sam das nöti­ge Geld auf­trei­ben und neben­bei den Direk­tor ihrer Schu­le für sich gewin­nen. Am Ende wird ihr Stück, von ihnen selbst gespro­chen, sogar im Rund­funk gesendet.

Die Erzäh­lung »Mül­lerstra­ße« hat­te ver­blüf­fen­den Erfolg. In etwa sieb­zig Rezen­sio­nen wur­de das Buch lobend erwähnt, und im Weih­nachts­ge­schäft 1932 ver­kauf­te sich fast die gesam­te Auf­la­ge von 7000 Exemplaren.

Ruth Rewald war es wich­tig zu zei­gen, wie Kin­der sich selbst hel­fen kön­nen, wenn sie fin­dig, krea­tiv und beherzt sind, und wenn sie zusam­men­hal­ten. Wobei sie stets auf die Hil­fe ein­zel­ner Erwach­se­ner zäh­len können.

Die­ser Grund­ge­dan­ke hat heu­te, wie damals Gül­tig­keit, viel­leicht heu­te sogar noch mehr als damals, da Kin­dern und Jugend­li­chen jetzt in Deutsch­land mehr Mög­lich­kei­ten offen­ste­hen und sie mit weni­gen Mit­teln mehr errei­chen könn­ten. Nicht immer nur auf fer­ti­ge Lösun­gen »von oben« zu war­ten, son­dern sich selbst ein­zu­brin­gen, sich zu orga­ni­sie­ren und Chan­cen aktiv ein­zu­for­dern, das ist durch­aus ein sinn­vol­ler Ansatz, der sich in schwie­ri­gen Zei­ten bewährt.

Dem Ver­lag Wal­ter Frey in Ber­lin-Wed­ding ist zu dan­ken, dass die­ses sym­pa­thi­sche Kin­der­buch 2023 wie­der­auf­ge­legt wur­de und kürz­lich eine zwei­te Auf­la­ge erle­ben konn­te. Die aus­drucks­vol­len Schwarz­weiß­il­lu­stra­tio­nen von Kurt Tie­de­mann stam­men aus der Erstausgabe.

Im rund vier­zig­sei­ti­gen Nach­wort infor­miert Dirk Krü­ger aus­führ­lich über Leben und Werk der lan­ge ver­ges­se­nen Ruth Rewald, die in Frank­reich bereits öffent­lich betrau­ert und gewür­digt wurde.

Wird man ihrer nun end­lich auch in ihrer Hei­mat­stadt Ber­lin geden­ken? »Gibt es bald eine Stra­ße und/​oder eine Schu­le, die ihren Namen tra­gen wer­den?« fragt Krü­ger pole­misch. Eine Fra­ge, die unge­dul­dig auf Ant­wort wartet.

Ruth Rewald: Mül­lerstra­ße – Jun­gens von heu­te. Ein Jugend­ro­man aus dem Wed­ding von 1932. Mit Nach­wort von Dirk Krü­ger zu Ruth Rewalds Leben und Werk, Ver­lag Wal­ter Frey, Ber­lin, 2. Auf­la­ge 2024, 173 S., Illu­stra­tio­nen von Kurt Tie­de­mann, 15 €.