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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Terrae incognitae auf Erde und Mond

Die Befun­de der »Boden­kun­de« André Schin­kels aus dem Jahr 2017 (erschie­nen auch im Mit­tel­deut­schen Ver­lag) im Hin­ter­kopf, lässt es sich viel­leicht bes­ser wan­dern durch die unbe­kann­ten Gebie­te der Mond-Laby­rin­the. Aber wäh­rend das Mot­to des älte­ren Gedicht­ban­des noch auf die zu erwar­ten­den Dra­chen und Löwen – eigent­lich ist das logisch für sich auf dem Boden Befin­den­de – ver­weist, gilt es im neu­en Buch: »Ex ungue leo­nem», also den Löwen nach der Klaue zu malen oder ein­fa­cher: aus dem Detail aufs Gan­ze zu schlie­ßen. Das aber fällt schwer in die­sem Buch. Denn die Zahl lyri­scher Details ist Legi­on in die­sem Werk, die der For­men und Aus­drucks­wei­sen nicht min­der, den Leser erwar­tet eine Fülle!

Aber als vor­läu­fi­ge Dia­gno­se stell­te sich mir: Je lyri­scher, wenn man das so sagen darf, der Dich­ter wird, desto über­zeu­gen­der wirkt er. Oder expres­sis ver­bis: Kei­nes der pro­sa­haf­ten Gedich­te des Ban­des erreicht etwa die Inten­si­tät des »TAUFGEDICHT(ES) FÜR DANIELA STEIN«, das das Zeug für einen Gedicht­ohr­wurm (aller­dings im besten Sin­ne!) hat: »Daß du zur Ruhe kommst auf dei­nen Wegen, /​ Und blie­ben sie stei­nig; und daß du ruhig atmest, /​ Das ist mein Wunsch für dich.« Schö­ne­res kann man einem Täuf­ling wohl kaum sagen. Über­haupt bah­nen die schein­bar ein­fa­chen, schein­bar kon­ser­va­tiv gebau­ten (mit Kreuz­reim etwa) Gedich­te inten­si­ven Aus­sa­gen den Weg. Schön­stes Bei­spiel: »DER MILAN KREIST«. Ein gan­zes Leben ent­fal­tet sich in einem Bild: »Der Milan kreist, wir stehn in sei­nem Schim­mer /​ Aus Blut und Leben, falb und feder­wärts; – Sein Schrei gilt uns, wir hal­ten immer-Fort noch Aus­schau: nach dem Schmerz, /​ Der still und roh auf den Syn­ap­sen feu­ert …« Spra­che in ihrer höch­sten Wirk­sam­keit wird hier fast zele­briert. Über­haupt ist der mei­ster­haf­te, poin­tier­te Sprach­ge­brauch Schin­kels immer wie­der ein Grund zur Freu­de. Und dazu gehört bei ihm der Mut zum Archais­mus und zum Fremd­wort. Bei­de ent­fal­ten oft unge­wöhn­li­che, über­ra­schen­de Wir­kun­gen. Bei ihm gibt es noch, viel­leicht gar den neu­en Duden-Aus­ga­ben zum Trotz, den Bal­da­chin, den Bro­dem, das Unge­mach. Und wer sagt, dass die Hin­zu­zie­hung eines Fremd­wör­ter­bu­ches den Gedicht­ge­nuss stört? Denn die Erkun­dung des­sen, was so grif­fig »ter­rae inco­gni­tae« genannt wird, ist eben Arbeit, eine Sprach­ex­pe­di­ti­on. Und die führt durch vie­le Gefil­de, Neu­gier auf Unent­deck­tes soll­te der Leser die­ser Gedich­te mit­brin­gen. Aber man muss sich nicht vor dem Ver­lau­fen fürch­ten in Schin­kels ter­rae inco­gni­tae, er führt mit siche­rer lyri­scher Hand durch die Ter­ri­to­ri­en ver­sun­ke­ner Kon­ti­nen­te und Mondbuchten.

Die Topo­gra­fie eines Land­strichs, etwa im Ranis-Gedicht »Apfel und Szep­ter« (der Ort liegt in der Nähe des Stau­sees Hohen­war­te) führt sogleich hin­ein in eine ero­ti­sche Lage­be­schrei­bung, wo die »Wild­äp­fel dei­ner Brü­ste /​ Roll­ten«, die »Galee­ren der Schen­kel /​ Schwank­ten« und das »Szep­ter behend /​ Durch die Flur der Begier­de« geführt wird. Es scheint, als sei­en Lie­be, Ero­tik, Sexua­li­tät hier als Antrei­ber des Men­schen Spra­che gewor­den, gip­felnd in dem mei­ster­li­chen Gedicht »ARS AMATORIA«: »auf knien, die augen /​ fest auf dich gelegt, /​ die stim­me brü­chig – /​ tan­zen die wor­te, ihr /​ klang, der dir gefällt /​ okta­ven aus wär­me /​ und licht: also seh ich /​ dich an, die bit­te auf /​ den lip­pen lei­se, sanft.« Um den vol­len Wohl­ge­schmack die­ser Stro­phen genie­ßen zu kön­nen, muss man sie frei­lich so lesen, wie sie geschrie­ben sind: in ter­zi­nen­ar­ti­gen Stro­phen näm­lich. Dann ent­steht ein Gleit­flug der Spra­che, der eine im Grun­de sta­ti­sche Situa­ti­on beschreibt, die aber, gegen Ende des Ban­des, wo »ABSCHIED VON DEN PERSEÏDEN« genom­men wird, wie­der im Berüh­ren­wol­len der ter­rae inco­gni­tae eines Lei­bes mün­det – was frei­lich nicht »unge­fragt« gesche­hen soll.

Zu topo­gra­fi­schen Ermitt­lun­gen gehö­ren auch Nach­for­schun­gen, die das Selbst betref­fen, also vor allem des dich­te­ri­schen. Das geschieht hier in der Kon­fron­ta­ti­on mit zwei Lyri­kern: Wulf Kir­sten und Tho­mas Rosen­lö­cher näm­lich. Bei­de wohl auch als freund­schaft­li­che Vor­bil­der emp­fun­den. Kir­sten leuch­ten zu Ehren die Wäl­der, Rosen­lö­cher gilt eine grund­tie­fe Trau­er: »Daß du nun schla­fen mögest, /​ Wäh­rend dich Bäu­me durch­fahrn …« Jedoch gewinnt der Autor auch Tod und Ver­gäng­lich­keit eine etwas grim­mi­ge Hei­ter­keit ab, die den Leser zu beflü­geln ver­mag. Schö­ne Bei­spie­le sind »Für­sten­gruft« und beson­ders »Wie­lands Grab«: »Wo der geschäf­ti­ge Alte im Hag der zwei Musen /​ Sich aus­schläft,– beredt und gewitzt die übri­ge /​ Welt vor die Git­ter gesetzt …« Wer schon ein­mal an Wie­lands Grab an der Ilm gestan­den hat, wird den »Hag der zwei Musen« beson­ders zu schät­zen wissen.

Ein Vor­zug der Gedich­te Schin­kels ist, dass sie zwar sämt­lich Rei­sen ins Ich sind, aber den Leser auf eine Art mit­neh­men, die ihm Ent­deckun­gen des eige­nen Ich ermög­li­chen, indem er sich erkennt, gleich, ob er sich in der Nähe oder Fer­ne, auf der Erde oder dem Mond, befin­det. Ent­schei­dend ist, sich auf Schin­kels Gedich­te ein­zu­las­sen, mit ihnen zu rei­sen, zu flie­gen, aber auch zu gehen. Dann näm­lich offen­ba­ren sie sich, wer­den Eigen­tum, wie in dem schö­nen Gedicht ÜBER DEM FLUSS, das so endet: » Stil­le über dem Fluß. Ab /​ Hier beginnt, was du Haus /​ Nennst, wor­um du gerun­gen /​ Hast lan­ge: Nun ist es dein.«

Zu sol­chen Anver­wand­lun­gen gehö­ren auch gra­fi­sche oder musi­ka­li­sche Kunst­wer­ke, auf die in einer edi­to­ri­schen Notiz am Ende des Ban­des ver­wie­sen wird. Die­se soll­te man kei­nes­falls über­le­sen oder über­ge­hen, denn sie gibt wich­ti­ge Hin­wei­se auf die Künst­le­rin­nen und Künst­ler, die sich der Gedich­te ange­nom­men haben. Und sie schließt mit der Ankün­di­gung, dass der vier­te Band der lyri­schen Tetra­lo­gie Schin­kels sich den Gestir­nen wid­men wer­de. Da es zur­zeit vie­le Lyrik­bü­cher mit »Ster­nen­ti­teln« oder auch Lesun­gen mit dem Bezug auf Ster­ne gibt, darf man auf Schin­kels Rei­sen zum Gestirn beson­ders gespannt sein. Ob es ihm wie wei­land Faust ergeht, der ja auch auf­fuhr? Doch von jener Fahrt sind kei­ne Gedich­te über­lie­fert, Uner­forsch­tes und Unbe­kann­tes, auch Laby­rin­the gibt es dort »oben« in Hül­le und Fül­le, so dass vie­le neue Bot­schaf­ten zu erwar­ten sind.

André Schin­kel: Mond­la­by­rinth. Gedich­te, Mit­tel­deut­scher Ver­lag 2024, 160 S., 20 €.