Die Befunde der »Bodenkunde« André Schinkels aus dem Jahr 2017 (erschienen auch im Mitteldeutschen Verlag) im Hinterkopf, lässt es sich vielleicht besser wandern durch die unbekannten Gebiete der Mond-Labyrinthe. Aber während das Motto des älteren Gedichtbandes noch auf die zu erwartenden Drachen und Löwen – eigentlich ist das logisch für sich auf dem Boden Befindende – verweist, gilt es im neuen Buch: »Ex ungue leonem», also den Löwen nach der Klaue zu malen oder einfacher: aus dem Detail aufs Ganze zu schließen. Das aber fällt schwer in diesem Buch. Denn die Zahl lyrischer Details ist Legion in diesem Werk, die der Formen und Ausdrucksweisen nicht minder, den Leser erwartet eine Fülle!
Aber als vorläufige Diagnose stellte sich mir: Je lyrischer, wenn man das so sagen darf, der Dichter wird, desto überzeugender wirkt er. Oder expressis verbis: Keines der prosahaften Gedichte des Bandes erreicht etwa die Intensität des »TAUFGEDICHT(ES) FÜR DANIELA STEIN«, das das Zeug für einen Gedichtohrwurm (allerdings im besten Sinne!) hat: »Daß du zur Ruhe kommst auf deinen Wegen, / Und blieben sie steinig; und daß du ruhig atmest, / Das ist mein Wunsch für dich.« Schöneres kann man einem Täufling wohl kaum sagen. Überhaupt bahnen die scheinbar einfachen, scheinbar konservativ gebauten (mit Kreuzreim etwa) Gedichte intensiven Aussagen den Weg. Schönstes Beispiel: »DER MILAN KREIST«. Ein ganzes Leben entfaltet sich in einem Bild: »Der Milan kreist, wir stehn in seinem Schimmer / Aus Blut und Leben, falb und federwärts; – Sein Schrei gilt uns, wir halten immer-Fort noch Ausschau: nach dem Schmerz, / Der still und roh auf den Synapsen feuert …« Sprache in ihrer höchsten Wirksamkeit wird hier fast zelebriert. Überhaupt ist der meisterhafte, pointierte Sprachgebrauch Schinkels immer wieder ein Grund zur Freude. Und dazu gehört bei ihm der Mut zum Archaismus und zum Fremdwort. Beide entfalten oft ungewöhnliche, überraschende Wirkungen. Bei ihm gibt es noch, vielleicht gar den neuen Duden-Ausgaben zum Trotz, den Baldachin, den Brodem, das Ungemach. Und wer sagt, dass die Hinzuziehung eines Fremdwörterbuches den Gedichtgenuss stört? Denn die Erkundung dessen, was so griffig »terrae incognitae« genannt wird, ist eben Arbeit, eine Sprachexpedition. Und die führt durch viele Gefilde, Neugier auf Unentdecktes sollte der Leser dieser Gedichte mitbringen. Aber man muss sich nicht vor dem Verlaufen fürchten in Schinkels terrae incognitae, er führt mit sicherer lyrischer Hand durch die Territorien versunkener Kontinente und Mondbuchten.
Die Topografie eines Landstrichs, etwa im Ranis-Gedicht »Apfel und Szepter« (der Ort liegt in der Nähe des Stausees Hohenwarte) führt sogleich hinein in eine erotische Lagebeschreibung, wo die »Wildäpfel deiner Brüste / Rollten«, die »Galeeren der Schenkel / Schwankten« und das »Szepter behend / Durch die Flur der Begierde« geführt wird. Es scheint, als seien Liebe, Erotik, Sexualität hier als Antreiber des Menschen Sprache geworden, gipfelnd in dem meisterlichen Gedicht »ARS AMATORIA«: »auf knien, die augen / fest auf dich gelegt, / die stimme brüchig – / tanzen die worte, ihr / klang, der dir gefällt / oktaven aus wärme / und licht: also seh ich / dich an, die bitte auf / den lippen leise, sanft.« Um den vollen Wohlgeschmack dieser Strophen genießen zu können, muss man sie freilich so lesen, wie sie geschrieben sind: in terzinenartigen Strophen nämlich. Dann entsteht ein Gleitflug der Sprache, der eine im Grunde statische Situation beschreibt, die aber, gegen Ende des Bandes, wo »ABSCHIED VON DEN PERSEÏDEN« genommen wird, wieder im Berührenwollen der terrae incognitae eines Leibes mündet – was freilich nicht »ungefragt« geschehen soll.
Zu topografischen Ermittlungen gehören auch Nachforschungen, die das Selbst betreffen, also vor allem des dichterischen. Das geschieht hier in der Konfrontation mit zwei Lyrikern: Wulf Kirsten und Thomas Rosenlöcher nämlich. Beide wohl auch als freundschaftliche Vorbilder empfunden. Kirsten leuchten zu Ehren die Wälder, Rosenlöcher gilt eine grundtiefe Trauer: »Daß du nun schlafen mögest, / Während dich Bäume durchfahrn …« Jedoch gewinnt der Autor auch Tod und Vergänglichkeit eine etwas grimmige Heiterkeit ab, die den Leser zu beflügeln vermag. Schöne Beispiele sind »Fürstengruft« und besonders »Wielands Grab«: »Wo der geschäftige Alte im Hag der zwei Musen / Sich ausschläft,– beredt und gewitzt die übrige / Welt vor die Gitter gesetzt …« Wer schon einmal an Wielands Grab an der Ilm gestanden hat, wird den »Hag der zwei Musen« besonders zu schätzen wissen.
Ein Vorzug der Gedichte Schinkels ist, dass sie zwar sämtlich Reisen ins Ich sind, aber den Leser auf eine Art mitnehmen, die ihm Entdeckungen des eigenen Ich ermöglichen, indem er sich erkennt, gleich, ob er sich in der Nähe oder Ferne, auf der Erde oder dem Mond, befindet. Entscheidend ist, sich auf Schinkels Gedichte einzulassen, mit ihnen zu reisen, zu fliegen, aber auch zu gehen. Dann nämlich offenbaren sie sich, werden Eigentum, wie in dem schönen Gedicht ÜBER DEM FLUSS, das so endet: » Stille über dem Fluß. Ab / Hier beginnt, was du Haus / Nennst, worum du gerungen / Hast lange: Nun ist es dein.«
Zu solchen Anverwandlungen gehören auch grafische oder musikalische Kunstwerke, auf die in einer editorischen Notiz am Ende des Bandes verwiesen wird. Diese sollte man keinesfalls überlesen oder übergehen, denn sie gibt wichtige Hinweise auf die Künstlerinnen und Künstler, die sich der Gedichte angenommen haben. Und sie schließt mit der Ankündigung, dass der vierte Band der lyrischen Tetralogie Schinkels sich den Gestirnen widmen werde. Da es zurzeit viele Lyrikbücher mit »Sternentiteln« oder auch Lesungen mit dem Bezug auf Sterne gibt, darf man auf Schinkels Reisen zum Gestirn besonders gespannt sein. Ob es ihm wie weiland Faust ergeht, der ja auch auffuhr? Doch von jener Fahrt sind keine Gedichte überliefert, Unerforschtes und Unbekanntes, auch Labyrinthe gibt es dort »oben« in Hülle und Fülle, so dass viele neue Botschaften zu erwarten sind.
André Schinkel: Mondlabyrinth. Gedichte, Mitteldeutscher Verlag 2024, 160 S., 20 €.