Es sind diese zwei Wörter (vielleicht zu übersetzen mit »Teenager-Ödland«) aus einem berühmten Song (»Baba O’ Riley«) der Beatkapelle »The Who«, die einem permanent durch den Kopf schwirren beim Lesen des Buches »Gittersee« von Charlotte Gneuß. Die Entstehungszeit des Rocksongs und die hauptsächlich erzählte Zeit im Roman passen etwa zusammen. Es ist ein einziges Ödland, das hier dargestellt wird. Auch wenn Gittersee ein Stadtviertel von Dresden ist. Auch wenn es so etwas wie Aufmüpfigkeit in den Siebzigerjahren der DDR zu registrieren gilt.
Es gibt eine »Mängelliste« und kritische Rufe zu diesem Buch: Das sei alles nicht selbst erlebt, da sei manches ungenau dargestellt, einiges schlichtweg falsch. Stimmt leider. Eine nicht in der DDR aufgewachsene und sozialisierte Autorin könne nicht über jenes Land und das Leben darin schreiben, wird dekretiert. Solches ist zu bestreiten. Wo bliebe die Literatur, wenn derartige Bedingungen maßgebend wären? Dann dürfte die Zahl der Mittelalterromane rapide sinken …
Das Problem dieses Romans ist, dass er in manchen Passagen schlecht geschrieben und voller sprachlicher Unzulänglichkeiten ist. Schlecht geschrieben nenne ich die den Text unnötig aufblähenden Traumschilderungen – wie auch die durch keinerlei Ironie versalzene Kleinmädchenperspektive mancher Passagen mit dem vielen »süß«, »alles gut« und den Betrachtungen über »Höschen«, aufgehängte »Schlüppis« und den Schilderungen der Selbstbefriedigungsaktionen der Protagonistin Karin. Und sollten alle die am Ende mit Dank bedachten Personen und Institutionen nicht die Sprach- und sonstigen Fehler (die nun nichts mit Fehlern in der »DDR-Darstellung« zu tun haben) bemerkt haben? Die »rote Abenddämmerung der Wintersonne«, ein Ton, der die Protagonistin »erschrak«, Tauben, die ein Siegerdenkmal »verkacken«? Und dies ist nur eine kleine Auswahl, die aber übertroffen wird von dem vielleicht für werbewirksam gehaltenen Satz auf dem Rückendeckel, dass das Herz der Autorin der einsame Jäger sei.
Jedoch: Dieser Roman hat auch seine Stärken. Dazu gehört unzweifelhaft die Ödland-Schilderung der DDR in den Siebzigerjahren: Das karge Stadtviertel, die fade Schule, die kaputten Familien, das Schnapstrinken, die leeren Rituale, in summa die Perspektivlosigkeit eines ganzen Landes, wo nur die Flucht in den Westen oder ein Umzug nach Berlin so etwas wie Erlösung zu versprechen scheinen – und nicht zuletzt die Schilderung des Sicherheitsbedürfnisses jenes bereits ziemlich angeschlagen wirkenden Landes. Denn die sechzehnjährige Karin gerät ins Visier und in die Fänge des Staatssicherheitsdienstes. Sie lebt in einer äußerlich intakt wirkenden Familie, mit Oma, Vater, Mutter und kleiner Schwester, deren Hüterin sie ist. Der Vater aber ist ein erfolgloser Škoda-Reparateur und Trinker, die Mutter ist auf einer Art Selbstfindungstrip (sie verlässt später die Familie), an der Figur der Oma hat Charlotte Gneuß trefflich das unterschwellig weiter wabernde und auch in der DDR nie offen aufgearbeitete Nazitum vorgeführt.
Ein Teenager von 16, den baldigen Schulabschluss vor Augen, muss verliebt sein. Und das ist Karin. Sie liebt Paul, den Bergsteiger, den Künstler ohne Studienplatzzusage und Schachtarbeiter bei der Wismut. Er bricht eines Tages zu einem Ausflug auf, von dem er nicht zurückkommt, sprich, er ist »abgehauen«, »ist in den Westen gemacht«. Die Folge für Karin ist die Stasi vor der Tür.
Der Klappentext des Buches behauptet: »Karins fragile Welt gerät aus den Fugen.« Dies ist zu stark trompetet. Denn es ist ja gerade ein Hauptgewinn der Lektüre, dass man erlebt, wie die unzweifelhaft brüchige Welt der Karin, ihrer Freunde und Freundinnen, ihrer Familie ganz gut vom »Sicherheitskitt« gehalten wird. Denn solange sich Karin mit dem Stasi-Mann Wickwalz trifft, bleibt, bis auf die unaufhaltbare Trennung ihrer Eltern, zunächst für sie äußerlich alles im Lot. Wickwalz ist von allen Figuren des Buches am besten getroffen: Freundlich, väterlich, verständnisvoll – und doch Verführer, Aushorcher, Intrigant, gnadenloser Verfolger jeglichen Feindes des Sozialismus. Und wenn, gewiss zu Recht, behauptet wird, Charlotte Gneuß habe die DDR nicht überall richtig dargestellt, so lebt sie in diesem Wickwalz doch wieder auf. Wie Karin mit ihm verfährt, als sie sich der grenzenlosen Perfidie, Tücke und Kaltherzigkeit des Mannes ganz bewusstwird, das mag eine literarische Lösung sein. Mit dem Leben in jenem Land DDR, dessen Welt eben nicht »einzurichten« war, wenn man den Gedanken der aus den Fugen geratenen Welt zu Ende denkt, hat das Ende Wickwalz’ und des Romanes wohl weniger zu tun. Und dies auch, wenn der Klappentext die Frage stellt, ob Unschuld möglich sei. Wie sollte die aussehen in einer Welt wie der geschilderten? Im Ödland Gittersee. Im ganzen Ödland?
Charlotte Gneuß, Gittersee. Roman. S. Fischer Verlag 2023, 231 S., 22 €.