»Die arabische Gefahr« – so lautet der reißerische Titel eines Buches, das derzeit in vielen Buchhandlungen stapelweise ausliegt. Anders, als der Titel nahelegt, geht es nicht um die Lage im Mittleren Osten, sondern um das Phänomen der Clankriminalität in Deutschland. Oder, besser gesagt, der sogenannten Clankriminalität. Denn schon der Begriff ist stigmatisierend und tendenziell rassistisch. Schließlich können nur Taten kriminell sein, aber nicht ganze Familien oder ethnische Gruppen. Genau das aber suggeriert eine sensationsheischende mediale Berichterstattung über »kriminelle arabische Großfamilien«, die Straftaten auf eine ethnische oder familiäre Herkunft zurückführt.
Im »Bundeslagebild Organisierte Kriminalität 2018« definiert das Bundeskriminalamt erstmals Clankriminalität als »Kriminalität von Mitgliedern ethnisch abgeschotteter Subkulturen«. Als Merkmale werden eine »starke Ausrichtung auf die zumeist patriarchalisch-hierarchisch geprägte Familienstruktur« sowie eine »mangelnde Integrationsbereitschaft mit Aspekten einer räumlichen Konzentration« genannt. Gemeint sind insbesondere Angehörige der ethnischen Gruppe der Mhallamiye libanesischer oder palästinensischer Herkunft. Hierbei handelt es sich um eine ursprünglich aus der Region um Mardin in der Südosttürkei in den 1920er bis 1940er Jahren aufgrund der Zwangstürkisierungspolitik des kemalistischen Staates in den Libanon migrierte arabischsprachige Volksgruppe. Im Libanon lebten die Angehörigen dieser Gruppe vielfach als Staatenlose marginalisiert am unteren Ende der Gesellschaft. Ab Mitte der 1970er Jahre kamen sie nach Angriffen rechter christlicher Milizen auf ihre Wohngebiete im Libanon als Bürgerkriegsflüchtlinge nach Deutschland. Doch hier wurden sie erneut ausgegrenzt. Weil ihre Staatsbürgerschaft vielfach ungeklärt war, bekamen sie kein Asyl, sondern wurden in eine Kettenduldung geschoben. Über Jahrzehnte mussten sie alle paar Monate ihre Duldung bei der Ausländerbehörde verlängern lassen und dabei immer mit der Angst leben, keine Verlängerung zu bekommen und in den Libanon abgeschoben zu werden. Eine normale Ausbildung oder eine Anstellung, um den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, war aufgrund der Duldung nur schwer zu erlangen, wenn nicht in vielen Fällen gar unmöglich. Und wo der deutsche Staat keine ausreichende soziale und Aufenthaltssicherheit gewährleisten wollte, wurde die Familie wie schon im Libanon zum primären sozialen Auffangbecken. Dass einige der Einwanderer aus dem Libanon in einer solchen Situation versuchen, auf andere Weise zu einem Einkommen zu gelangen und in die Kriminalität abgleiten, ist damit soziologisch nachvollziehbar und juristisch selbstverständlich zu verfolgen. Das Problem sogenannter Clankriminalität ist damit eindeutig hausgemacht und als Folge einer verfehlten Integrationspolitik der letzten vier Jahrzehnte anzusehen.
Wer einen der bekannten, weil von den Medien mit »Clankriminalität« in Verbindung gebrachten Nachnamen trägt, hat es in der Regel schwer bei der Wohnungs-, Ausbildungsplatz- und Arbeitssuche sowie bei Verkehrskontrollen der Polizei. Unbescholtene Familienmitglieder werden so in Sippenhaft für ihre auf die schiefe Bahn geratenen Angehörigen genommen und damit am Ende erst aufgrund von Perspektivlosigkeit in deren Arme getrieben. Zur öffentlichen Stigmatisierung und der Wahrnehmung als vermeintliche Gefahr tragen vor allem medial inszenierte Großrazzien gegen »Clankriminalität« in stark migrantisch geprägten Stadtbezirken wie Berlin-Neukölln aber auch im Ruhrgebiet bei.
Die Antwort des Berliner Senats auf eine parlamentarische Anfrage der Linken-Abgeordneten Niklas Schrader und Anne Helm zu den Razzien in Neukölln ist bezeichnend. Allein zwischen Mai und September kam es demnach zu 14 Großrazzien gegen vermeintliche Clankriminalität in Neukölln. Beteiligt waren insgesamt 772 zum Teil schwerbewaffnete Einsatzkräfte, darunter neben solchen von der Berliner Polizei auch solche von der Bundespolizei, dem Finanzamt, dem Ordnungsamt und dem Zoll, die zusammen auf fast 4400 Einsatzkräftestunden kamen. Kontrolliert wurden »insgesamt 978 Personen, 72 Lokale, 385 Kraftfahrzeuge und 22 sonstige Objekte«. Was aber kam bei diesen in der Regel von einem Aufgebot der vorher informierten Presse und von Lokalpolitikern begleiteten Razzien heraus? 197 Ordnungswidrigkeiten wie Verstöße gegen ordnungsgemäße Kassenführung oder das Nichtrauchergesetz, etwa weil sich unter 18-Jährige in den Raucherkneipen aufhielten. Lediglich 56 Mal ergab sich der Verdacht auf eine Straftat. Es handelte sich vor allem um Delikte wie geringen Drogenbesitz bei Besuchern von Bars, Beleidigung der rabiat vorgehenden Einsatzkräfte oder Fahren ohne Fahrerlaubnis. Nur in Ausnahmefällen wurden Waffen gefunden, und manchmal wurde unverzollter Tabak sichergestellt. Mehrfach wurde schließlich eine zu hohe Kohlenmonoxidkonzentration in Shisha-Bars gemessen. Das ist gesundheitsgefährdend, hat aber mit Organisierter Kriminalität ebenso wenig zu tun wie die anderen festgestellten Delikte. Das aber erwarten die politisch Verantwortlichen für diese Razzien, die es auch in Nordrhein-Westfalen und anderen Bundesländern gibt, anscheinend gar nicht. Als »Taktik der 100 Nadelstiche« bezeichnet der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU), auf den dieses Vorgehen zurückgeht, die koordinierten Kontrollen und Razzien durch Polizei, Zoll und Finanzämter in Geschäftsräumen und Bars. Ziel ist es laut Reul, »einfach Unruhe in dieses Publikum zu bringen«.
Politiker wie Reul oder der Neuköllner Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) inszenieren sich mit solchen Machtdemonstrationen gegenüber der medial aufgehetzten Öffentlichkeit als »Saubermänner«. Doch für die migrantischen Besitzer der immer wieder von schwerbewaffneten Polizisten vor laufenden Fernsehkameras gestürmten Lokale und Läden ist das Vorgehen, das ihre Kunden abschreckt, existenzgefährdend. Und für ihre damit unter Generalverdacht gestellten Besucher, die wie Schwerverbrecher behandelt werden, ist es schlicht diskriminierend.
An dieser Stelle soll nicht verhehlt werden, dass Organisierte Kriminalität in Deutschland alljährlich große Schäden anrichtet. Und auch einige Mitglieder sogenannter Clanfamilien haben sich vieler, zum Teil schwerster Straftaten schuldig gemacht. Hier ist es notwendig, mit allen rechtsstaatlichen Mitteln vorzugehen und die Kriminellen dort zu treffen, wo es ihnen auch weh tut – nämlich bei ihren Finanzen. Doch als Nadelstiche verharmloste Rundumschläge mit der Brechstange sind mit Sicherheit der falsche Weg.
Und wenn wir schon von der von »Clankriminalität« sprechen wollen, dann sollten wir auch einmal über deutsche Familienclans sprechen, die durch Kolonialkriege, Kriegsproduktion und durch die Ausbeutung von Zwangsarbeit reich wurden. Sprechen wir beispielsweise einmal über den Hohenzollern-Clan, der die Dreistigkeit besitzt, nun seine aufgrund seiner Kollaboration mit den Nazis enteigneten Schlösser zurückzufordern.