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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Tassilo, Korbinian und der Bär

Hin­ter dem Aus­stel­lungs­ein­gang sitzt ein lebens­gro­ßer Bär. Der Schreck, die Über­ra­schung. Wie das? Es geht doch um ein ernst­haf­tes histo­ri­sches Pro­blem: den Anfang der Chri­stia­ni­sie­rung dies­seits der Alpen am Bei­spiel des Her­zog­tums Bayern.

In sei­nem Frag­ment »Die Chri­sten­heit oder Euro­pa« beschrieb Nova­lis, wie Euro­pa sei­ne Gestalt als geist­li­ches Haus all­mäh­lich, über Jahr­hun­der­te hin­weg, ange­nom­men hat. Der Roman­ti­ker hebt glän­zen­de Sei­ten vor allem der mit­tel­al­ter­li­chen Epo­chen her­vor. Sor­gen berei­te­ten ihm jedoch schon damals, im Jahr 1799, sicht­ba­re Zer­falls­an­zei­chen. Dage­gen ent­wirft er mög­li­che Wege in die Zukunft des christ­li­chen Abend­lan­des, dar­un­ter auch einen, auf dem sich Euro­pa gänz­lich vom Chri­sten­tum entfernt.

Das Kreu­zi­gungs-Gesche­hen auf dem Kal­va­ri­en­berg in Jeru­sa­lem gab den ent­schei­den­den Anlass zur Evan­ge­li­sie­rung des im AT ver­hei­ße­nen Mes­si­as. Frü­he Höhe­punk­te setz­ten die Mis­sio­na­re und spä­te­ren Bischö­fe Kor­bi­ni­an (um 670-724/30) und Boni­fa­ti­us (673-774) in Bay­ern. Inzwi­schen zum Welt­kul­tur­er­be erho­be­ne Expo­na­te gelei­ten uns durch die Aus­stel­lung, Dar­un­ter sel­ten aus­ge­lie­he­ne Pre­tio­sen wie der Tas­si­lo-Liut­pirc-Kelch (770-780) aus der Hof­schu­le Tas­si­lo III., der nur sechs Wochen am Ort sein durf­te, danach von einer Kopie ersetzt wur­de (Bene­dik­ti­ner­stift Krems­mün­ster). Das ist ein lit­ur­gi­scher Spen­den­kelch, eine ver­gol­de­te »Treib­ar­beit«, mit der jede Mit­tel­al­ter-Kunst­ge­schich­te beginnt. Eben­falls gezeigt wer­den Zime­li­en, berühm­te Hand­schrif­ten, u.a. das erste Gesetz­buch Bay­erns, die Lex Bai­uva­riorum um 800/​25, das Maib­in­ger Evan­ge­li­ar aus Ech­ter­nach, Pau­lus­brie­fe, auch Gegen­stän­de vom Mis­sio­nars- und All­tags­le­ben des Adels, z. B. Leder­stie­fel von Boni­fa­ti­us, der auf sei­nen Mis­si­ons­rei­sen zusam­men­ge­rech­net ein­mal um die Welt gelau­fen sein soll. Neue Fun­de steu­ert die Bestat­tungs-Archäo­lo­gie bei. Alles Zeug­nis­se der vor dem 8. Jahr­hun­dert bereits erfolg­rei­chen Glau­bens­bil­dung in Klö­stern. Das waren die vier Bis­tü­mer Bay­erns: Regens­burg, Pas­sau, Frei­sing sowie Salz­burg. Bischof Kor­bi­ni­an brach­te die­sen Pro­zess vor­an, auch in der klö­ster­li­chen Schreib­kunst. Von Regens­burg, ihrem Regie­rungs­sitz aus, för­der­ten die Her­zö­ge Odi­lo und Tas­si­los III. die­se Ent­wick­lung. Das Fran­ken­reich hat­te mit sei­nem zer­split­ter­ten Wan­der­kö­nig­tum die­sem Auf­bruch im Klo­ster­we­sen und in der Hof­hal­tung noch lan­ge nichts ent­ge­gen­zu­stel­len. Par­al­lel zur flo­rie­ren­den Hof­kunst in Bay­ern erhält auf poli­ti­scher Ebe­ne der Macht­kampf frän­ki­scher Köni­ge, Pip­pin der Jün­ge­re und Karl der Gro­ße, gegen die Her­zö­ge von Bay­ern Auftrieb.

Es geht den Histo­ri­kern in die­ser Aus­stel­lung weni­ger um geo­po­li­ti­sche Bewe­gun­gen von 600 bis 800, son­dern in ihren Bei­trä­gen schär­fen sie den Blick für das Hand­lungs­per­so­nal, soweit die­ses aus Quel­len über­haupt rekon­stru­ier­bar ist. Jeden­falls wird der stei­le Auf­stieg Tas­si­los wie mit einem Stro­bo­skop ange­strahlt. Sein Weg in die Kata­stro­phe kann nur an dem einen und ande­ren Punkt auf­blit­zen. Den Kata­log hat Her­wig Wolf­ram mit einer Bio­gra­fie Tas­si­lo III. ergänzt: »Höch­ster Fürst und nied­rig­ster Mönch«.

Im Pro­zess von Ingel­heim 788 wer­den der Her­zog und sei­ne gesam­te Fami­lie mit ihrem voll­stän­di­gen Besitz­stand bru­tal aus­ge­löscht. Bay­ern hört auf, als selbst­stän­di­ges Her­zog­tum zu exi­stie­ren. Wie kam es so weit? Was war passiert?

Kar­ten beleuch­ten die »Völ­ker­wan­de­rung«, den undurch­sich­ti­gen Zer­fall des West­rö­mi­schen Reichs, par­al­lel dazu einen von Hoff­nung gesteu­er­ten Auf­bau neu­er Lebens­ver­hält­nis­se in den alten Stam­mes­ge­bie­ten. Fran­ken, Baju­va­ri­er, Ost­go­ten, Gal­li­er und Ala­man­nen u. a. leb­ten in römi­schen Pro­vin­zen, da galt das Römi­sche Ver­wal­tungs- und Rechts­we­sen mit Latein als Schrift­spra­che. Han­del blüh­te auf, gewähr­lei­stet auf immer noch gepfla­ster­ten Trans­port­stra­ßen, die nach dem Abzug der Römer 476-80 noch funk­tio­nier­ten. Regens­burg hat­te in sei­ner besten Zeit 9000 Söld­ner Besat­zung. Lite­ra­tur und Lebens­stil ver­lie­hen der Chri­stia­ni­sie­rung vom 4. bis 6. Jahr­hun­dert Stil und Aus­druck. Doch die Glau­bens­wen­de hat­te bereits im ersten Jahr­hun­dert begon­nen, auch unter römi­schen Sol­da­ten. Eine der bekann­te­sten Geschich­ten ist die von Hl. Mau­ri­ti­us, dem Haupt­mann der The­bäi­schen Legi­on in Gal­li­en. 303 ist er wegen sei­nes neu­en Glau­bens hin­ge­rich­tet wor­den und mit ihm jeder zehn­te Legio­när. Des­we­gen spricht man vom Dezi­mie­ren. Zunächst wird nur inner­halb des Limes mis­sio­niert, der eine undurch­dring­ba­re Mau­er war. Spä­ter betra­ten Mis­sio­na­re heid­ni­sches Land. Das Mis­si­ons­werk gestal­te­te sich wild und brutal.

Schon die Geburt Tas­si­los stand unter einem unglück­li­chen Stern. Odi­lo, sein Vater, Her­zog von Bay­ern, muss­te flie­hen wegen eines Auf­stan­des in der Bevöl­ke­rung gegen die neu­en Gren­zen, die mit den Bis­tü­mern gezo­gen wur­den. Und zwar floh er zum »Haus­mei­er«, dem ober­sten Amts­trä­ger des Fran­ken­kö­nigs, Karl Mar­tell. Dort ver­lieb­te er sich in des­sen Toch­ter Hil­trud und hei­ra­tet sie, Tas­si­lo wird gebo­ren. Spä­ter wird die­se Hei­rat als Angriff auf das könig­li­che frän­ki­sche Fami­li­en­recht ver­ur­teilt und bela­ste­te das Leben Tassilos.

Unter Pip­pin d. J. legt der 12-Jäh­ri­ge 753 den Lehens­eid ab, damit ist er lehens­ab­hän­gig vom Fran­ken­kö­nig. Auch als frei­er Mann unter­steht er dem Mäch­ti­ge­ren, die gegen­sei­ti­gen Pflich­ten sind streng gere­gelt. 763 ver­pflich­te­te König Pip­pin den 22jährigen Tas­si­lo erneut zum Vasal­len­eid. Auf dem Sam­mel­platz in Nevers stel­len sich zunächst alle Vasal­len mit ihren Hee­res­tei­len. Auf die­sem Auf­marsch­platz zum Feld­zug gegen Aqui­ta­ni­en begeg­ne­te Tas­si­lo erst­mals sei­nem gleich­alt­ri­gen Ver­wand­ten und künf­ti­gen Riva­len Karl (dem Gro­ßen). Wegen Beden­ken gegen die­sen Krieg ver­wei­ger­te Tas­si­lo aber den Dienst zum Feld­zug und zog sich mit sei­nem Hee­res­zug wie­der zurück nach Bayern.

Die Ver­wei­ge­rung einer mili­tä­ri­schen Pflicht wird bis heu­te vom Kriegs­ge­richt bestraft. Was Tas­si­lo 763 als Hel­den­tat ange­rech­net wur­de, führ­te 25 Jah­re spä­ter zu sei­nem Todes­ur­teil im Ingel­hei­mer Pro­zess. Der Pro­zess in Ingel­heim 788 wird im Kata­log als »Schau­pro­zeß« bezeich­net. Ziel Karls (des Gro­ßen) war die voll­stän­di­ge Ein­ver­lei­bung des alten frän­ki­schen Stam­mes­her­zog­tums in sein Reich. Den­noch ist der Begriff Schau­pro­zess inso­fern über­stra­pa­ziert, als die­ser er erst in der Neu­zeit mit den Sta­lin-Pro­zes­sen geprägt wor­den ist und nicht im frü­hen Mit­tel­al­ter. Der Kon­flikt aus der Vasal­len­pflicht des baye­ri­schen Adels und sei­ner Ver­wei­ge­rung gegen­über dem Fran­ken­reich ent­zün­de­te sich stän­dig neu. Die über­lie­fer­ten Berich­te sind unter­schied­lich. Im Pro­zess wird das Todes­ur­teil für Tas­si­lo gefor­dert. Doch Karl zeigt mensch­li­che Züge. Er spricht ein Gna­den­ur­teil, dem­zu­fol­ge Tas­si­lo als Mönch lebens­lang in Klo­ster­haft blei­ben muss. Bay­ern hört auf, als selbst­stän­di­ges Her­zog­tum zu existieren.

Zuvor war Bay­ern von sei­nem ersten Bischof Kor­bi­ni­an (680-729) chri­stia­ni­siert wor­den. Für die Bewäl­ti­gung die­ser Auf­ga­be wird er zwei­mal zum Papst nach Rom bestellt. Eine der­art lan­ge Fuß­wan­de­rung über die Alpen­päs­se kam nur mit einem Tross zustan­de. Dafür brauch­te man Last­tie­re für Gepäck, Ver­pfle­gung und hei­li­ges Mate­ri­al. Pfer­de sind unge­eig­net, Maul­tie­re und Esel anpas­sungs­fä­hi­ger. Wur­den sie von wil­den Tie­ren geris­sen, dann wäre eine Rei­se zu Ende gewe­sen. Aber die Glau­bens­mit­t­ler waren im täti­gen Leben auch star­ke Kämp­fer. So ist man­cher Bär gezähmt wor­den und dien­te anschlie­ßend als zuver­läs­si­ges Last­tier. So geschah es auf der zwei­ten Rom­rei­se, das Maul­tier Kor­bi­ni­ans wur­de nachts von einem Bären geris­sen. Der Bär wur­de zur Stra­fe gezähmt, die Wan­de­rung konn­te fort­ge­setzt wer­den, mit ihm als Gepäck­trä­ger. In Rom ange­kom­men, ist die­ser Bär dann frei gelas­sen wor­den. Dem Glau­bens­bild ent­sprach: Das Tier hat das Böse wie­der gut gemacht.

So steht der Bär nicht nur an ihrem Anfang, durch die gesam­te Aus­stel­lung läuft er mit. Mensch und Tier waren damals eng mit­ein­an­der ver­bun­den, ja, zwin­gend auf­ein­an­der ange­wie­sen. Doch hat sich Ver­hält­nis­ses von Mensch und Tier über Jahr­hun­der­te gewan­delt. Hier begeg­nen wir in der Aus­stel­lung sogar einem bekann­ten Braun­bä­ren, dem »Pro­blem­bä­ren« Bru­no JJ1 (DNS-Name). Neben ihm läuft ein Video mit dem wackeln­den Faden­kreuz eines Schüt­zen­ge­wehrs. Das zeigt, wie die­ser Bär müde am Boden schnüf­felnd vor sich hin trot­tet. Plötz­lich fällt er aus dem Film her­aus. Die­ser Jung­bär ist am 26. Juni 2006 früh­mor­gens 4.50 Uhr auf der 1500 m hoch gele­ge­nen Kümp­falm bei Bay­risch­zell erschos­sen wor­den, aus 150 m Ent­fer­nung. Doch weiß bis heu­te nie­mand, von wem.

Grund: Bär Bru­no hat­te eini­ge Scha­fe und Zie­gen geschla­gen, Hüh­ner­stäl­le geräu­bert und Bie­nen­stöcke aus­ge­schleckt. Dafür wur­de der »sofor­ti­ge Voll­zug« der Tötung als »Not­stands­maß­nah­me im öffent­li­chen Inter­es­se« von der Baye­ri­schen Staats­re­gie­rung ver­fügt. Noch nach Pro­te­sten aus der Jäger­schaft, den Tier­schutz­ver­ei­nen, von Bären­fän­gern und aus der Öffent­lich­keit ist die Abschuss-Geneh­mi­gung bei­be­hal­ten wor­den. Die Tötung erfolg­te durch ein Scharf­schüt­zen-Kom­man­do. Wohl wegen Mord­dro­hun­gen soll des­sen Iden­ti­tät für immer Staats­ge­heim­nis blei­ben. 170 Jah­re lang gab es in Bay­ern kei­ne Bären. Der vor­letz­te gesich­te­te Braun­bär ist eben­falls erschos­sen wor­den, näm­lich am 24. Okto­ber 1835, damals mit der Begrün­dung: »Ein Bär ist ein Schäd­ling und gehört aus­ge­rot­tet.« Im 21. Jahr­hun­dert kam es nun mit Bru­no zum Ver­such sei­ner Rena­tu­ra­li­sie­rung. In einem nord­ita­lie­ni­schen Natur­park auf­ge­wach­sen und aus­ge­wil­dert, ist er über Alpen­päs­se hin­weg in Bay­ern ange­langt. Heu­te befin­det sich der prä­pa­rier­te Bär (Bru­no, 135x125x80 cm, Der­mo­pla­stik) im Münch­ner Muse­um Mensch und Natur. Ita­li­en bean­sprucht den Tier­ka­da­ver zurück. Der Fall ist beim Euro­päi­schen Gerichts­hof anhängig.

Baye­ri­sche Lan­des­aus­stel­lung vom Haus der Baye­ri­schen Geschich­te, bis 3. Novem­ber im Diö­ze­san­mu­se­um in Frei­sing. Kata­log: Ver­öf­fent­li­chun­gen zur Baye­ri­schen Geschich­te und Kul­tur 75, hg. von Dr. Micha­el Nadler.