Hinter dem Ausstellungseingang sitzt ein lebensgroßer Bär. Der Schreck, die Überraschung. Wie das? Es geht doch um ein ernsthaftes historisches Problem: den Anfang der Christianisierung diesseits der Alpen am Beispiel des Herzogtums Bayern.
In seinem Fragment »Die Christenheit oder Europa« beschrieb Novalis, wie Europa seine Gestalt als geistliches Haus allmählich, über Jahrhunderte hinweg, angenommen hat. Der Romantiker hebt glänzende Seiten vor allem der mittelalterlichen Epochen hervor. Sorgen bereiteten ihm jedoch schon damals, im Jahr 1799, sichtbare Zerfallsanzeichen. Dagegen entwirft er mögliche Wege in die Zukunft des christlichen Abendlandes, darunter auch einen, auf dem sich Europa gänzlich vom Christentum entfernt.
Das Kreuzigungs-Geschehen auf dem Kalvarienberg in Jerusalem gab den entscheidenden Anlass zur Evangelisierung des im AT verheißenen Messias. Frühe Höhepunkte setzten die Missionare und späteren Bischöfe Korbinian (um 670-724/30) und Bonifatius (673-774) in Bayern. Inzwischen zum Weltkulturerbe erhobene Exponate geleiten uns durch die Ausstellung, Darunter selten ausgeliehene Pretiosen wie der Tassilo-Liutpirc-Kelch (770-780) aus der Hofschule Tassilo III., der nur sechs Wochen am Ort sein durfte, danach von einer Kopie ersetzt wurde (Benediktinerstift Kremsmünster). Das ist ein liturgischer Spendenkelch, eine vergoldete »Treibarbeit«, mit der jede Mittelalter-Kunstgeschichte beginnt. Ebenfalls gezeigt werden Zimelien, berühmte Handschriften, u.a. das erste Gesetzbuch Bayerns, die Lex Baiuvariorum um 800/25, das Maibinger Evangeliar aus Echternach, Paulusbriefe, auch Gegenstände vom Missionars- und Alltagsleben des Adels, z. B. Lederstiefel von Bonifatius, der auf seinen Missionsreisen zusammengerechnet einmal um die Welt gelaufen sein soll. Neue Funde steuert die Bestattungs-Archäologie bei. Alles Zeugnisse der vor dem 8. Jahrhundert bereits erfolgreichen Glaubensbildung in Klöstern. Das waren die vier Bistümer Bayerns: Regensburg, Passau, Freising sowie Salzburg. Bischof Korbinian brachte diesen Prozess voran, auch in der klösterlichen Schreibkunst. Von Regensburg, ihrem Regierungssitz aus, förderten die Herzöge Odilo und Tassilos III. diese Entwicklung. Das Frankenreich hatte mit seinem zersplitterten Wanderkönigtum diesem Aufbruch im Klosterwesen und in der Hofhaltung noch lange nichts entgegenzustellen. Parallel zur florierenden Hofkunst in Bayern erhält auf politischer Ebene der Machtkampf fränkischer Könige, Pippin der Jüngere und Karl der Große, gegen die Herzöge von Bayern Auftrieb.
Es geht den Historikern in dieser Ausstellung weniger um geopolitische Bewegungen von 600 bis 800, sondern in ihren Beiträgen schärfen sie den Blick für das Handlungspersonal, soweit dieses aus Quellen überhaupt rekonstruierbar ist. Jedenfalls wird der steile Aufstieg Tassilos wie mit einem Stroboskop angestrahlt. Sein Weg in die Katastrophe kann nur an dem einen und anderen Punkt aufblitzen. Den Katalog hat Herwig Wolfram mit einer Biografie Tassilo III. ergänzt: »Höchster Fürst und niedrigster Mönch«.
Im Prozess von Ingelheim 788 werden der Herzog und seine gesamte Familie mit ihrem vollständigen Besitzstand brutal ausgelöscht. Bayern hört auf, als selbstständiges Herzogtum zu existieren. Wie kam es so weit? Was war passiert?
Karten beleuchten die »Völkerwanderung«, den undurchsichtigen Zerfall des Weströmischen Reichs, parallel dazu einen von Hoffnung gesteuerten Aufbau neuer Lebensverhältnisse in den alten Stammesgebieten. Franken, Bajuvarier, Ostgoten, Gallier und Alamannen u. a. lebten in römischen Provinzen, da galt das Römische Verwaltungs- und Rechtswesen mit Latein als Schriftsprache. Handel blühte auf, gewährleistet auf immer noch gepflasterten Transportstraßen, die nach dem Abzug der Römer 476-80 noch funktionierten. Regensburg hatte in seiner besten Zeit 9000 Söldner Besatzung. Literatur und Lebensstil verliehen der Christianisierung vom 4. bis 6. Jahrhundert Stil und Ausdruck. Doch die Glaubenswende hatte bereits im ersten Jahrhundert begonnen, auch unter römischen Soldaten. Eine der bekanntesten Geschichten ist die von Hl. Mauritius, dem Hauptmann der Thebäischen Legion in Gallien. 303 ist er wegen seines neuen Glaubens hingerichtet worden und mit ihm jeder zehnte Legionär. Deswegen spricht man vom Dezimieren. Zunächst wird nur innerhalb des Limes missioniert, der eine undurchdringbare Mauer war. Später betraten Missionare heidnisches Land. Das Missionswerk gestaltete sich wild und brutal.
Schon die Geburt Tassilos stand unter einem unglücklichen Stern. Odilo, sein Vater, Herzog von Bayern, musste fliehen wegen eines Aufstandes in der Bevölkerung gegen die neuen Grenzen, die mit den Bistümern gezogen wurden. Und zwar floh er zum »Hausmeier«, dem obersten Amtsträger des Frankenkönigs, Karl Martell. Dort verliebte er sich in dessen Tochter Hiltrud und heiratet sie, Tassilo wird geboren. Später wird diese Heirat als Angriff auf das königliche fränkische Familienrecht verurteilt und belastete das Leben Tassilos.
Unter Pippin d. J. legt der 12-Jährige 753 den Lehenseid ab, damit ist er lehensabhängig vom Frankenkönig. Auch als freier Mann untersteht er dem Mächtigeren, die gegenseitigen Pflichten sind streng geregelt. 763 verpflichtete König Pippin den 22jährigen Tassilo erneut zum Vasalleneid. Auf dem Sammelplatz in Nevers stellen sich zunächst alle Vasallen mit ihren Heeresteilen. Auf diesem Aufmarschplatz zum Feldzug gegen Aquitanien begegnete Tassilo erstmals seinem gleichaltrigen Verwandten und künftigen Rivalen Karl (dem Großen). Wegen Bedenken gegen diesen Krieg verweigerte Tassilo aber den Dienst zum Feldzug und zog sich mit seinem Heereszug wieder zurück nach Bayern.
Die Verweigerung einer militärischen Pflicht wird bis heute vom Kriegsgericht bestraft. Was Tassilo 763 als Heldentat angerechnet wurde, führte 25 Jahre später zu seinem Todesurteil im Ingelheimer Prozess. Der Prozess in Ingelheim 788 wird im Katalog als »Schauprozeß« bezeichnet. Ziel Karls (des Großen) war die vollständige Einverleibung des alten fränkischen Stammesherzogtums in sein Reich. Dennoch ist der Begriff Schauprozess insofern überstrapaziert, als dieser er erst in der Neuzeit mit den Stalin-Prozessen geprägt worden ist und nicht im frühen Mittelalter. Der Konflikt aus der Vasallenpflicht des bayerischen Adels und seiner Verweigerung gegenüber dem Frankenreich entzündete sich ständig neu. Die überlieferten Berichte sind unterschiedlich. Im Prozess wird das Todesurteil für Tassilo gefordert. Doch Karl zeigt menschliche Züge. Er spricht ein Gnadenurteil, demzufolge Tassilo als Mönch lebenslang in Klosterhaft bleiben muss. Bayern hört auf, als selbstständiges Herzogtum zu existieren.
Zuvor war Bayern von seinem ersten Bischof Korbinian (680-729) christianisiert worden. Für die Bewältigung dieser Aufgabe wird er zweimal zum Papst nach Rom bestellt. Eine derart lange Fußwanderung über die Alpenpässe kam nur mit einem Tross zustande. Dafür brauchte man Lasttiere für Gepäck, Verpflegung und heiliges Material. Pferde sind ungeeignet, Maultiere und Esel anpassungsfähiger. Wurden sie von wilden Tieren gerissen, dann wäre eine Reise zu Ende gewesen. Aber die Glaubensmittler waren im tätigen Leben auch starke Kämpfer. So ist mancher Bär gezähmt worden und diente anschließend als zuverlässiges Lasttier. So geschah es auf der zweiten Romreise, das Maultier Korbinians wurde nachts von einem Bären gerissen. Der Bär wurde zur Strafe gezähmt, die Wanderung konnte fortgesetzt werden, mit ihm als Gepäckträger. In Rom angekommen, ist dieser Bär dann frei gelassen worden. Dem Glaubensbild entsprach: Das Tier hat das Böse wieder gut gemacht.
So steht der Bär nicht nur an ihrem Anfang, durch die gesamte Ausstellung läuft er mit. Mensch und Tier waren damals eng miteinander verbunden, ja, zwingend aufeinander angewiesen. Doch hat sich Verhältnisses von Mensch und Tier über Jahrhunderte gewandelt. Hier begegnen wir in der Ausstellung sogar einem bekannten Braunbären, dem »Problembären« Bruno JJ1 (DNS-Name). Neben ihm läuft ein Video mit dem wackelnden Fadenkreuz eines Schützengewehrs. Das zeigt, wie dieser Bär müde am Boden schnüffelnd vor sich hin trottet. Plötzlich fällt er aus dem Film heraus. Dieser Jungbär ist am 26. Juni 2006 frühmorgens 4.50 Uhr auf der 1500 m hoch gelegenen Kümpfalm bei Bayrischzell erschossen worden, aus 150 m Entfernung. Doch weiß bis heute niemand, von wem.
Grund: Bär Bruno hatte einige Schafe und Ziegen geschlagen, Hühnerställe geräubert und Bienenstöcke ausgeschleckt. Dafür wurde der »sofortige Vollzug« der Tötung als »Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse« von der Bayerischen Staatsregierung verfügt. Noch nach Protesten aus der Jägerschaft, den Tierschutzvereinen, von Bärenfängern und aus der Öffentlichkeit ist die Abschuss-Genehmigung beibehalten worden. Die Tötung erfolgte durch ein Scharfschützen-Kommando. Wohl wegen Morddrohungen soll dessen Identität für immer Staatsgeheimnis bleiben. 170 Jahre lang gab es in Bayern keine Bären. Der vorletzte gesichtete Braunbär ist ebenfalls erschossen worden, nämlich am 24. Oktober 1835, damals mit der Begründung: »Ein Bär ist ein Schädling und gehört ausgerottet.« Im 21. Jahrhundert kam es nun mit Bruno zum Versuch seiner Renaturalisierung. In einem norditalienischen Naturpark aufgewachsen und ausgewildert, ist er über Alpenpässe hinweg in Bayern angelangt. Heute befindet sich der präparierte Bär (Bruno, 135x125x80 cm, Dermoplastik) im Münchner Museum Mensch und Natur. Italien beansprucht den Tierkadaver zurück. Der Fall ist beim Europäischen Gerichtshof anhängig.
Bayerische Landesausstellung vom Haus der Bayerischen Geschichte, bis 3. November im Diözesanmuseum in Freising. Katalog: Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 75, hg. von Dr. Michael Nadler.