Berlin 1923. »Unhaltbare Zustände« herrschen in der Reichshauptstadt. Mit diesen Worten prangern die Tageszeitungen unter anderem die Kriminalitätswelle an, in der auch ungewohnt brutale Schwerverbrecher Hochkonjunktur haben. Die Berliner Bevölkerung ist nicht einmal vor ihnen sicher, wenn die Delinquenten von der Kriminalpolizei hinter Schloss und Riegel gebracht wurden. Allein im Vorjahr haben es 50 dieser Inhaftierten geschafft, den Gefängnismauern zu entkommen. Dabei wurden noch nicht einmal diejenigen flüchtigen Verbrecher mitgezählt, die zur psychologischen Begutachtung in den einschlägigen »Irrenanstalten« wie Herzberge untergebracht waren.
Der Allergefährlichste dieser Schwerverbrecher, das ist zu dieser Zeit Willi Opitz, der von der Verbrecherwelt »Tango-Willi« genannt wird. Für den braven Bürger klingt das zunächst einmal harmlos. Vermutlich schwofte Willi gerne in den einschlägigen Kaschemmen und hatte ein Faible für Tango, man weiß es nicht so genau. Jedenfalls hatte die Berliner Verbrecherwelt ihm irgendwann diesen Namen verpasst, um ihn von den anderen dunklen Gestalten mit dem gleichen Vornamen zu unterscheiden. Und das war ein übliches Procedere, wie es zum Beispiel auch Kriminalkommissar Ernst Engelbrecht, der sich berufsbedingt hervorragend in diesem Milieu auskannte, in einem seiner Artikel beschrieb. Tatsächlich darf man sich von dem vermeintlich flotten Spitznamen nicht täuschen lassen, dahinter verbarg sich einer der gemeingefährlichsten Verbrecher Berlins, der die Reichshauptstadt je heimsuchte. Ein Mensch ohne jegliche Empathie, der somit auch keinerlei Hemmungen hatte, sofort seine Schusswaffe einzusetzen und den Tod anderer in Kauf zu nehmen. Der in gewisser Weise auch ein Spiegelbild der Gesellschaft war, die sich die Jahre zuvor stark verändert und in der Folge eben viele Menschen von jeglichem Skrupel befreit hatte. Ein Mensch jenseits aller Bürgerlichkeit, der nur zu gerne in den Schankwirtschaften des Nordostens herumlungerte, um sich dort dem Trunk zu ergeben und durch Falschspiel Geld zu ergaunern. Wenn er nicht gerade unterwegs zu einem Einbruch war.
Über die Gründe für eine derart zweifelhafte »Karriere« kann man im Nachhinein nur spekulieren, Eigenaussagen über Kindheit und Jugend des Schwerverbrechers fehlen. Doch die rudimentären Fragmente seines Lebenslaufes, die man unter anderem aus alten Zeitungsmeldungen zusammenfügen kann, bieten dennoch einen gewissen Einblick in die Berliner Verbrecherwelt der Frühphase der Weimarer Zeit, wenn auch nicht konkret in die Gedankenwelt dieses ganz speziellen Mörders.
Willi Opitz ist der Sohn des braven Charlottenburger Stellmachers Carl Opitz. Als »Stellmachergeselle« hat Carl, dessen Vater Eduard zuvor auch schon Stellmacher war, 1885 in Charlottenburg das Dienstmädchen Henriette Wenzel geheiratet. 1889 kommt Sohn Willi Carl zur Welt und wird in der Luisenkirche getauft. Wie genau nun Willi auf die schiefe Bahn geriet, kann nicht mehr rekonstruiert werden. Ähnliche Lebensläufe aus demselben Milieu, wie zum Beispiel der des legendären Berliner Ein- und Ausbrechers Emil Strauß, lassen vermuten, dass auch bei ihm kleinere Diebstähle der Anfang vom Ende waren. Gleichgesinnte und Gestrandete finden schnell zusammen, profitieren voneinander, eine kleine kriminelle Vereinigung bildet sich, die in Berlin auf fruchtbaren Boden trifft, nämlich eine große und perfekt organisierte Unterwelt, die sich zunehmend auch internationalisiert und ihre Fühler auch in andere deutsche Großstädte ausstreckt.
Um 1910 füllt Opitz bereits die Tageszeitungen mit Meldungen über seine Straftaten, die er zu dieser Zeit zum Beispiel auch schon mal in Bremen begeht, wo er zusammen mit Komplizen in ein Haus einbricht. Doch die Eindringlinge werden durch einen aufmerksamen Schutzmann gestört und suchen das Weite. Opitz kehrt in den heimeligen Schoß seiner ihm nur zu vertrauten Berliner Verbrecherwelt zurück. Jenseits aller Normen und der Bürgerlichkeit, die er für immer hinter sich gelassen hat. Deren Rituale er jedoch aufgreifen muss, wenn es zum Beispiel darum geht, zu heiraten. Dann muss er auf dem Standesamt den braven »Händler« Karl Opitz mimen, der in der Frankfurter Allee 33 seinen vermeintlich ehrbaren Geschäften nachgeht, um – so geschehen am 29. September 1917 – die Wirtschafterin Anna Killat zu heiraten, die im selben Haus wohnt. Als Trauzeugen fungieren ein Dentist und ein Kaufmann, aber waren sie das wirklich?
Wir treffen Opitz 1919 wieder. Da ist er erst 30 Jahre alt, aber schon längst ein professioneller Ein- und Ausbrecher, dessen Leben nur noch aus einer schnellen Abfolge von Einbrüchen, Verhaftungen, Gefängnisstrafen und Ausbrüchen besteht. Wohnungen, Geschäfte und Villen, nichts ist in Berlin und andernorts sicher vor ihm. Bis das Ganze letzten Endes auch eine tödliche Dynamik entwickelt, moralische Grenzen und Empathie, wenn es sie denn überhaupt gegeben hat, völlig verschwinden. Opitz ist nun ein äußerst gefährlicher Schwerverbrecher, der bereit ist, sofort zu schießen, sobald er sich bedroht fühlt. Und er verschwendet keine Gedanken an seine Opfer im Dunkeln der Nacht, wenn er sich in den Kaschemmen und Budiken verlustiert, in seinem Milieu, wo »Kriminale«, die Polizei, sofort erkannt werden und somit andere schnell blitzschnell gewarnt werden können. Ein Gestrandeter, der weiß, wo er hingehört, in die Welt der Verbrecher, wo sofort wieder neue Pläne geschmiedet und »Annoncen« eingeholt werden, womit Gelegenheiten für besonders leichte Einbrüche gemeint waren. Doch ein stark impulsiv veranlagter gewaltbereiter Krimineller ist stets auch in Gefahr, selber zum Opfer zu werden, und im Kugelhagel der Polizei sein Leben auszuhauchen. Das ist sein ganz persönliches »Berufsrisiko«.
Dann geht das Krisengeschüttelte Jahr 1919 langsam zur Neige. Im Kabarett »Schwarzer Kater« in der Friedrichstraße wird in der Nacht zum 19. Dezember heftig gezecht, die Sperrstunde geflissentlich ignoriert. Die Stadt schläft nie. Opitz, der kräftig mitgefeiert hat, verlässt mit zwei weiteren Personen das Lokal, um in eine vor der Tür wartende Kraftdroschke einzusteigen. Der Nachtwächter des Etablissements ruft dem Fahrer zu, dass der Wagen aber schon bestellt sei. Sofort zückt Opitz die Waffe und fordert den Mann auf, ihn und seine zwei Begleiter mitzunehmen. Der weigert sich, Opitz schießt auf ihn und dann auch auf den Pförtner, der dem Fahrer zu Hilfe eilt. Doch umsonst, der Mann stirbt, und auch der Pförtner wird es nicht überleben. Zwei Tote hat Opitz also auf dem Gewissen, und das nur, weil er keine Fahrgelegenheit bekommen sollte. Und wieder gelingt dem Mörder die Flucht, dann kann er Ende Januar 1920 endlich im Kaiser-Café festgenommen werden. Neuneinhalb Jahre lautet das Strafmaß durch das Schwurgericht des Landgerichts III, dem er sich jedoch im Mai 1921 – wie könnte es anders sein? – erneut durch Flucht entzieht. Korruptes Personal hat ihm dabei geholfen, diesmal war es ein bestochener Gefangenenaufseher.
Doch noch immer ist reichlich kriminelle Energie vorhanden, die die Gefängnisaufenthalte keinesfalls ersticken können. Als nächstes trifft es einen Eisenbahnbeamten und dessen Boten, die Lohngelder von über 110.000 Mark transportieren sollen, die Opitz ihnen im Sommer 1921 mit vorgehaltener Waffe raubt. Er entkommt zunächst unbehelligt mit der Beute, doch Tage später, als er nonchalant den Potsdamer Platz überqueren will, wird er von Zivilbeamten erkannt, gestellt und gen Polizeipräsidium gekarrt, wo er schon bald die Namen seiner Helfershelfer ausplaudert, um sich dadurch möglicherweise einen Vorteil zu verschaffen. Das Fazit vor Gericht, was die Kriminalakte Opitz’ betrifft: über 100 Einbrüche, zahlreiche Raubüberfälle und vier Morde, zwei davon hat er nicht in Berlin verübt. 1922 wird Opitz zu insgesamt 15 Jahren Zuchthaus in der Strafanstalt Tegel verurteilt, die noch abzusitzende Haftzeit mit eingerechnet. Doch Opitz findet sich auch diesmal nicht mit seinem Schicksal ab, nur Wochen später schafft er es tatsächlich, über das Dach hinunter in den Hof und dann über die Ringmauer zu flüchten und zu entkommen. Peinlich für die Justiz, die dem Schwerverbrecher mal wieder die Gelegenheit dazu gegeben hat und die für die Integrität ihres Wachpersonals offensichtlich überhaupt nicht mehr garantieren kann. Fachkräftemangel anno 1922.
Doch dann wendet sich am 5. November 1922 das Blatt. Kriminalbeamten gelingt es, Opitz aufzuspüren. Der eröffnet sofort das Feuer, schießt aus zwei Revolvern gleichzeitig. Doch die gut ausgebildeten Beamten sind schneller, zwei Kugeln durchdringen den Kopf des Verbrechers. Da liegt er nun röchelnd auf dem kalten Boden der Kaschemme. Man bringt ihn noch in die Charité, doch dort stirbt er bei der Notoperation. Der »allergefährlichste Mörder und Räuber«, so betitelt von einer Berliner Tageszeitung, ist tot. Die Stadt atmet auf.
- Januar 1923: Mit einer reißerischen Schlagzeile wird der Verbrecher im Ausland heroisiert. Zunächst fällt der Blick im australischen The Telegraph auf die fett gedruckte Schlagzeile »Germany’s Master Criminal«. Dann erst liest man, dass dieser »berühmte« »Meisterverbrecher« von einem Beamten erschossen wurde. Andere Menschen verdienten sich Schlagzeilen durch hervorragende Leistungen zum Beispiel auf dem Gebiet der Wissenschaften, Willi Opitz durch seine Kaltblütigkeit. Spiegel der Zeit. Dem Abgrund entgegen.