Ob ich Winterreifen aufgezogen habe, erkundigte sich Saadi auf dem Beifahrersitz. Das war eine Frage, die zu stellen angesichts des Wetters durchaus berechtigt war. Wir fuhren durch eine Schneeregensuppe auf der Autobahn von Dresden nach Chemnitz, die Sicht reichte vielleicht fünfzig Meter, und ich fuhr vermutlich ein wenig zu schnell. Wir waren spät dran, denn der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko würde nicht mehr lange im Chemnitzer Rothaus e. V. beim »Verein zur Förderung politischer Kultur – Karl Chemnitz« verweilen, um 16.03 Uhr ging bereits sein Zug nach Aachen, wo er sein Wahlkreisbüro hat. Oleg Muzyka wollte ihm jedoch unbedingt persönlich sein soeben in deutscher Sprache erschienenes Buch übergeben, denn Hunko – inzwischen selbst wie der ukrainische Politemigrant Muzyka von Kiew mit Einreiseverbot belegt – engagierte sich sehr für die politisch Aufklärung und Behandlung des Massakers am 2. Mai 2014 in Odessa, das irreführend wie beschönigend als »Tragödie« durch die Medien geistert. (siehe Ossietzky 14/2018)
In Dresden hatten Muzyka und Isakov soeben im Gewerkschaftshaus am Schützenplatz das Buch vorgestellt. Nachdem eine Veranstaltung mit Muzyka am 16. November von einem anderen Veranstalter in Elbflorenz abgesagt wurde, weil diesem per Mail aus Kiew gedroht worden war (siehe Ossietzky 24/2018), hatte sie nun unter dem Dach des Dresdner Volkshauses stattgefunden. Der Raum war bis auf den letzten Sitz gefüllt, mehr als ein halbes Hundert Dresdner nahm mit sichtlicher Betroffenheit die Berichte des Überlebenden Muzyka zur Kenntnis. Wie stets hatte er auch den Dokumentarfilm gezeigt, an der Wand hingen die Fotos von einigen Opfern des faschistischen Mobs. Die anschließende lebhafte Diskussion landete dann sehr schnell in der Gegenwart, denn aktuell rollten schon wieder 400 Panzer und andere Militärfahrzeuge durch Sachsen, auf dem Truppenübungsplatz Oberlausitz sollten sie Station machen. Die US Army tauschte ihre an der »Ostflanke der NATO« eingesetzten Truppen, die man dort »zur Abschreckung« und als Reaktion auf die »russische Annexion der Krim« in Polen und in den baltischen Staaten stationiert hatte. Diese Truppenbewegung – Operation »Atlantic Resolve« geheißen – war ein Manöver in der Tat, ein Täuschungsmanöver, denn da man sich der Öffentlichkeit gegenüber verpflichtet hatte, in diesen Ländern nicht dauerhaft US-Militär zu stationieren, rotieren seither die Truppen aller neun Monate.
Wo ist die Friedensbewegung, fragten einige in der Diskussion. Warum schweigt sie zur Aufkündigung des INF-Vertrages? Ist sie nun endgültig tot?
Ein Ehepaar um die 80 berichtete über einen sehr speziellen Fall deutscher Russophobie: Ihm war durch einen großen Anbieter der Handyvertrag gekündigt worden mit der Vorhaltung, es bestünde der Verdacht der Spionage. Die beiden hatten regelmäßig mit ihren Verwandten in Russland telefoniert und nach dieser Unverschämtheit die Justiz eingeschaltet. In zwei Verfahren teilte das Gericht die Auffassung des Anbieters, was die beiden Rentner um die 700 Euro kostete. Sie telefonieren seither in einem anderen Netz.
Die lebhafte Debatte dauerte länger als geplant, danach signierten die Autoren Oleg Muzyka und Saadi Isakov Bücher, von den mitgebrachten dreißig Exemplaren mussten sie keines wieder einpacken. Und dann jagten wir durchs Gebirge nach Chemnitz.
Klar, sagte ich zu Saadi, ich habe Winterreifen drauf. Fürchtet er, aus der Bahn geworfen zu werden?
Nee, sagte Saadi, er komme aus einem anderen Grunde darauf zu sprechen. Er sei doch, wie ich wisse, zum Jahreswechsel bei seiner jüdischen Verwandtschaft erst in Kanada und dann in den USA gewesen. Dabei habe er folgende Beobachtung gemacht, als er sich einen Wagen mietete: In Kanada ist Winterbereifung gesetzlich vorgeschrieben, in den USA nicht. Was machen also kanadische Autovermieter in Grenznähe? Sie lassen ihre Autos in den USA zu und diese mit amerikanischen Kennzeichen über kanadische Straßen fahren. Kriminelles Pack, sagte Saadi.
Nee, sagte ich, das ganze Gesellschaftssystem ist kriminell, da wird der Einzelne zwangsläufig zum Kriminellen.
Na, sagte Saadi tadelnd, es gibt auch Ausnahmen, und stöpselte sich sein Headset in die Ohren.
Wir erwischten Hunko in Chemnitz noch.
Oleg Muzyka/Saadi Isakov: »Brennendes Gewissen. Der 2. Mai 2014 in Odessa und die Folgen. Fünf Jahre danach«, edition ost und LITINWEST Netanja/Israel, ISBN 978-3-947094-37-0, 146 Seiten, 15 €