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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Täuschung und Ehrlichkeit

»Im Krieg stirbt die Wahr­heit zuerst.« Die­ser ein­gän­gi­ge Befund liegt in man­cher Hin­sicht falsch. Er unter­stellt, dass es Gewalt in Zei­ten, in denen und weil in ihnen nicht geschos­sen wird, nicht gäbe. Zwar ist sicher rich­tig, dass Krieg­füh­ren das Ein­tre­ten des Schlimmst­mög­li­chen ist, aber ein Mist­hau­fen wird dadurch nicht klei­ner, dass man einen grö­ße­ren neben ihn setzt; will sagen: Soge­nann­te »Frie­dens­zei­ten« sind, wenn man Frie­den als Abwe­sen­heit von Gewalt defi­niert, wesent­lich fried­lo­se Zei­ten, die staat­li­che Res­sorts dafür nut­zen, krie­ge­ri­schem Hand­lungs­be­darf, im Jar­gon: »Wehr­haf­tig­keits­er­for­der­nis­sen«, nach­zu­kom­men, mit Pro­duk­ti­on und Beschaf­fung von Waf­fen nebst Befä­hi­gung der sie Bedie­nen­den sowie logi­stisch-infra­struk­tu­rel­len Maß­nah­men. Die Mög­lich­keit, im Bedarfs­fall erfolg­reich töten zu kön­nen, ist so emi­nent wich­tig, dass auch dem Bank­rott nahe­ste­hen­de und dem finan­zi­el­len Water­boar­ding des IWF unter­zo­ge­ne Staa­ten wie Grie­chen­land nicht auf den Bezug von Kriegs­schif­fen (ger­ne auch »Made in Ger­ma­ny«) ver­zich­ten möch­ten und dafür auch kre­di­tiert werden.

Krieg ist die Fort­set­zung der Poli­tik mit den in der Latenz­pha­se geschaf­fe­nen Mit­teln. So wie das Leben ein Hin­ster­ben zum Tod ist, so sind Frie­den und Krieg rea­li­ter ein Kon­ti­nu­um. Dem­entspre­chend gibt es auch kei­ne dem Frie­den eige­ne Wahr­heit, deren Tod erst mit als »Epo­chen­bruch« miss­ver­stan­de­nem Kriegs­be­ginn ein­setz­te. Wolf­gang Stre­eck äußert in einem lesens­wer­ten FR-Inter­view (25.02.2023), in Krie­gen wer­de immer gelo­gen, haupt­säch­lich der eige­nen Bevöl­ke­rung und der des Geg­ners gegen­über. »Das hat einen schlech­ten guten Grund: Es geht um Leben und Tod, ein Krieg ist kein Beicht­stuhl oder phi­lo­so­phi­sches Semi­nar. Sobald man im Krieg ist, geht es nicht mehr (?) um Wahr­heit, son­dern um ›Nar­ra­ti­ve‹: Wenn es dem eige­nen Sieg dient, muss und darf man lügen.« Die Lüge ist also, da auf ein­mal Krieg herrscht, ein Gebot poli­ti­scher Klug­heit, dem als »Zwang der Sache« nach­zu­kom­men ist.

Wenn Krieg zur Lüge zwin­ge, so die Annah­me, so blei­be umge­kehrt im Frie­den die Wahr­heit eine wahr­nehm­ba­re Opti­on. Die Wahr­heit ist aller­dings auch im Krieg nicht auto­ma­tisch in Bausch und Bogen sus­pen­diert. Wahr­heit kann das sein, wor­auf Lüge auf­baut. Z. B. kann die Wahr­heit, dass ein­zel­ne oder Bevöl­ke­rungs­grup­pen dis­kri­mi­niert, unter­drückt oder mit Krieg über­zo­gen wer­den, als Beleg – Fak­ten lügen, wie deren Checker ver­si­chern, ja nicht – in den Dienst einer Kriegs­recht­fer­ti­gung gestellt wer­den, mit der Begrün­dung, dass eine wer­te- und regel­ba­sier­te Welt­ord­nung nun ein­mal sein muss.

Das demon­stra­tiv Abwä­gen­de deut­scher poli­ti­scher Ver­laut­ba­run­gen ist eine spe­zi­el­le Manier, mehr nicht, die sich die Bereit­schaft gibt, falls Not an Mann und Frau ist, die eige­ne Exi­stenz auf­ga­ben­ge­mäß zur Dis­po­si­ti­on zu stel­len, per »nuklea­rer Teil­ha­be« u. ä. In der Sache und zu Stol­ten­bergs Stolz passt zwi­schen die ehr­li­cher for­mu­lie­ren­den Bünd­nis­ge­nos­sen und Zau­der­deutsch­land kein Blatt; die Lei­er, es gäbe noch irgend­et­was abzu­wä­gen, dient ledig­lich der Pfle­ge eines Images, auf das Deutsch­land noch ein biss­chen Wert legt. Von einem »Schlaf­wan­deln in den Krieg« kann jeden­falls nicht die Rede sein. Die im Duk­tus­ver­gleich mit Polen und Eng­land mit noch etwas weni­ger Schaum vor dem Mund aus­kom­men­den Aus­künf­te der deut­schen Regie­rung sind inhalt­lich abso­lut ehr­lich; viel­leicht wird Annalena-»Wir-führen-Krieg-gegen-Russland«-Baerbock somit auch am läng­sten wäh­ren? Das nach­fol­gen­de Gejam­mer, man habe es damals noch nicht wis­sen kön­nen, kann man sich jeden­falls schon jetzt spa­ren. Man kann es schon jetzt wis­sen – so man will. Das schließt nicht alles ein: Für nach­hal­ti­ge Ver­wei­ge­rung von Infor­ma­tio­nen, die sei­nen Sou­ve­rän nichts ange­hen, hat der Staat noch Geheim­nis­se und Ver­schluss­sa­chen, deren Aus­le­gung zukünf­ti­gen Histo­ri­kern, so es sie dann noch gibt, vor­be­hal­ten bleibt. Ver­laut­ba­rern wie Assan­ge gebührt für ihren Hoch­ver­rat denn auch die gan­ze lebens­be­dro­hen­de Wucht des Gesetzes.

Auch in Nicht­kriegs­zei­ten gibt es das Neben­ein­an­der von Wahr­heit & Auf­rich­tig­keit sowie von Lüge & Täu­schung. »Regel- und wer­te­ba­siert« ist zwar kei­ne Lüge im enge­ren Wort­sin­ne, aber objek­tiv eine von ihren Pro­po­nen­ten selbst geglaub­te täu­schen­de Begrün­dung von Zwecken, die sie ver­fol­gen. Was die Mit­tel die­ser Zwecke, also den Lie­fer­im­pe­ra­tiv, angeht, so neh­men sie, falls es passt, kein Blatt vor den Mund. Nota­be­ne: Der Begriff der Täu­schung wird nicht dadurch hin­fäl­lig, dass er zu den Lieb­lings­vo­ka­beln im rhe­to­ri­schen Werk­zeug­ka­sten der AfD zählt. Nur ein Bei­spiel: Wenn Mar­gret That­cher behaup­te­te, so etwas wie Gesell­schaft gäbe es nicht, so war sie selbst von ihrer objek­ti­ven Lüge über­zeugt und kam ohne Täu­schungs­ab­sicht aus. Nun gibt es natür­lich auch Fäl­le, in denen eine bewuss­te Täu­schungs­ab­sicht vor­liegt, wie z.B. beim satt­sam bekann­ten DDR-Klas­si­ker »Nie­mand beab­sich­tigt, eine Mau­er zu bau­en« oder wie bei Schrö­ders Agen­da 2010, die angeb­lich Eigen­in­itia­ti­ve för­dern soll­te, aber in Wahr­heit ein euro­pa­weit nied­rig­stes Lohn­ni­veau erzie­len soll­te, wie er voll Stolz deut­schen Indu­strie­ver­tre­tern berich­te­te. Einen Spit­zen­platz bewuss­ter Irre­füh­rung nimmt die Ver­si­che­rung des Westens noch in Vor­kriegs­zei­ten ein, die Nato wer­de sich nicht einen Fuß­breit nach Osten aus­deh­nen, mit der Russ­land nach allen Regeln der Kunst ver­la­den wur­de. Das Schö­ne an einer Lüge mit oder ohne Irre­füh­rungs­ab­sicht ist, dass sie nur so lan­ge zu hal­ten braucht, bis sich ihr Erfolg ein­ge­stellt hat.

Danach kann man Gesche­he­nes Gott sei Dank nicht mehr rück­gän­gig, sich selbst aber ehr­lich machen; zum prak­ti­schen Erfolg der Lüge­rei gesellt sich auch noch der mora­li­sche einer frei­wil­li­gen Selbst­of­fen­ba­rung. Eine der umfas­send­sten Täu­schun­gen schließ­lich ist das zu jed­we­der Zeit gel­ten­de Axi­om, das Bevöl­ke­rungs­wohl sei im All­ge­mein­wohl ver­wirk­licht. Die Lebens­not­wen­dig­kei­ten des erste­ren fin­den in letz­te­rem nur inso­weit Ein­gang, wie sie sich als pro­fi­ta­bles Mit­tel für das Wohl­erge­hen des Kapi­tals als staat­li­cher Macht­ba­sis ein- oder frei­set­zen las­sen. Um die Pfle­ge die­ses Zustands haben sich deut­sche Gewerk­schaf­ten schon längst ver­dient gemacht. Der klas­sen­kämp­fe­ri­sche Lack war schon vor Kriegs­be­ginn am Blät­tern und ist nun ab. Dafür gibt es eine neue Ehr­lich­keit: Die Gewerk­schaf­ten sind jetzt noch patrio­ti­scher – kei­ne Rede davon, wie in Ita­li­en Waf­fen­lie­fe­run­gen zu bestreiken!

Um den Begriff der Lüge nicht zu sehr zu stra­pa­zie­ren: Dass für Mei­nungs­for­mung zu Täu­schung eben­so vor dem Krieg wie in ihm gegrif­fen wird, belegt Hans-Peter Wald­richs luzi­der Text »Sal­to mor­ta­le« (Ossietzky 5/​23): Zu Coro­na­zei­ten spiel­te das staat­li­che Panik­or­che­ster groß und alter­na­tiv­los auf, und nun in der Kriegs­zeit wird »Lieb Vater­land, magst ruhig sein« into­niert. Wes­halb zum Teu­fel schert sich die poli­ti­sche Klas­se ums Ver­recken nicht ein­mal dar­um, dass sie bei einem »Nuke ’em«-Inferno auch dar­an glau­ben muss? Wie kommt sie zu dem Wahn­sinn, dass der Teu­fel so irre ratio­nal ist, dass für das Schaf­fen einer schö­nen neu­en Welt ohne ihn ledig­lich etwas Hel­den­mut und ordent­lich Gefasst­heit erfor­der­lich sind? Flan­kiert wird die­se kogni­ti­ve Ver­wahr­lo­sung von lach­haf­ten Hin­wei­sen dar­auf, dass es doch immer auch gegen Goli­aths sieg­rei­che Davids, also Viet­na­me­sen und Afgha­nen, gege­ben habe. Wahr­lich ein tol­ler Grund zur Beru­hi­gung. Was wird in Redak­tio­nen eigent­lich so geraucht? Der Stoff muss wirk­lich extra gut sein, extra­breit macht er jedenfalls.

Nun ist die Rede vom »Regel- und Wer­te­ba­sier­ten« zwar ein Erschwur­beln von Kriegs­recht­fer­ti­gung, aber als unab­läs­si­ges Man­tra vor­ge­tra­gen ent­fal­tet sie gewöh­nen­de Wir­kung. Mit­ge­dach­te, noch even­tu­el­le Zwei­fel signa­li­sie­ren­de Anfüh­rungs­zei­chen ver­schwin­den nach und nach, und all­mäh­lich wird aus einer Behaup­tung ein selbst­ver­ständ­li­cher Titel für etwas qua­si natur­haft Exi­sten­tes wie »echt Eiche« der deut­schen Schrank­wand. Hier noch etwas ergrün­den zu wol­len, wäre rei­ne Hirn­ver­brannt­heit; »datt isso, datt mus­so, unn getz mach de Kopp zu.«

Rich­ti­gem Mei­nen gebührt exklu­siv die Büh­ne; eine inhalt­li­che Befas­sung mit Abwei­chun­gen erüb­rigt sich ohne­dies; sie bedeu­te­te ja nur, Per­len vor »bera­tungs­re­si­sten­te« Säue zu wer­fen. Was die­se statt­des­sen ver­die­nen: Skan­da­li­sie­ren, Mar­gi­na­li­sie­ren, Aus­blen­den. Die­se Tech­ni­ken blüh­ten schon wäh­rend der Pan­de­mie auf (vgl. »Sal­to mor­ta­le«); #alles­dicht­ma­chen bei­spiels­wei­se wur­de als »Furz in der Later­ne« abge­mei­ert. Rich­ti­ges Mei­nen ist nicht »bera­tungs-«, son­dern »des­in­for­ma­ti­ons­re­si­stent«, unbe­irr­bar, und lässt sich weder ver­füh­ren noch bestechen. Chri­stoph Süß führt das wöchent­lich in quer selbst­iro­nisch, süf­fi­sant und mora­lisch kom­pro­miss­los vor. Zwar kom­men­tier­te er die »Manifest-für-den-Frieden«-Demo erst nach deren Statt­fin­den, aber die rich­ti­ge Mei­nung stand schon vor der Demo fest und brauch­te anläss­lich die­ser für einen ange­mes­se­nen Kom­men­tar nur noch zum zig­sten Mal recy­celt zu werden.

Die jeweils neu zu fül­len­de Blau­pau­se: Erstens Erfolg­lo­sig­keit des fal­schen Pro­tests; die Anti-Putin-Demos zogen viel mehr Leu­te auf die Stra­ße (ätschi­bät­schi!), waren macht­vol­ler und hat­ten wohl schon des­halb recht. Zwei­tens Kon­takt­schuld: Da sich auch Rech­te unter die Demo mischen kön­nen, egal wie sehr sich die­se um Distan­zie­rung von unwill­kom­me­nen Tritt­brett­fah­rern müht, muss es an Ent­schie­den­heit der Abwehr gefehlt haben. Drit­tens las­sen sich von jour­na­li­sti­schen Prak­ti­kern eige­ner Ver­schwö­rungs­theo­rie nach eini­gem Suchen in der Demo sicher ein paar Klotz­köp­fe aus­fin­dig machen, die das »Rechts­of­fe­ne« der Ver­an­stal­tung reprä­sen­tie­ren. Sol­chen Quer­ver­bin­dun­gen wur­de bei der guten Demo nicht nach­ge­stie­gen; wie­so auch? Vier­tens hät­te ange­sichts der Unter­wan­de­rungs­ge­fahr von rechts das ein­zig ver­nünf­ti­ge, siche­re Ver­hal­ten dar­in bestan­den, das Pro­te­stie­ren zu las­sen. Fünf­tens erweist das Unter­las­sen des Las­sens von hin­ten her­um noch­mals die töricht gefähr­li­che Ver­bohrt­heit der Kund­ge­ber. Dar­aus folgt sech­stens: Zu sol­chen Sub­jek­ten, loboesk aus­ge­drückt Lum­pen­pa­zi­fi­stin Wagen­knecht und Eman­zen­tus­se Schwar­zer, ist min­de­stens so sehr wie wäh­rend Coro­na ein gro­ßer sozia­ler Abstand zu wah­ren. So unge­fähr wird eine selbst­ge­rech­te Täu­schung erzeugt, die in einer für sie emp­fäng­li­chen Mei­nungs­mo­no­kul­tur als Gly­pho­sat des rich­ti­gen Mei­nens wirkt.

Es ist also nicht ver­kehrt, um des Funk­tio­nie­rens eige­nen Den­kens wil­len Wolf­gang Neuss‘ Rat zu fol­gen und Poli­ti­kern zunächst ein­mal nur so weit zu trau­en, wie man sei­ne Wasch­ma­schi­ne wer­fen kann