»Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst.« Dieser eingängige Befund liegt in mancher Hinsicht falsch. Er unterstellt, dass es Gewalt in Zeiten, in denen und weil in ihnen nicht geschossen wird, nicht gäbe. Zwar ist sicher richtig, dass Kriegführen das Eintreten des Schlimmstmöglichen ist, aber ein Misthaufen wird dadurch nicht kleiner, dass man einen größeren neben ihn setzt; will sagen: Sogenannte »Friedenszeiten« sind, wenn man Frieden als Abwesenheit von Gewalt definiert, wesentlich friedlose Zeiten, die staatliche Ressorts dafür nutzen, kriegerischem Handlungsbedarf, im Jargon: »Wehrhaftigkeitserfordernissen«, nachzukommen, mit Produktion und Beschaffung von Waffen nebst Befähigung der sie Bedienenden sowie logistisch-infrastrukturellen Maßnahmen. Die Möglichkeit, im Bedarfsfall erfolgreich töten zu können, ist so eminent wichtig, dass auch dem Bankrott nahestehende und dem finanziellen Waterboarding des IWF unterzogene Staaten wie Griechenland nicht auf den Bezug von Kriegsschiffen (gerne auch »Made in Germany«) verzichten möchten und dafür auch kreditiert werden.
Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit den in der Latenzphase geschaffenen Mitteln. So wie das Leben ein Hinsterben zum Tod ist, so sind Frieden und Krieg realiter ein Kontinuum. Dementsprechend gibt es auch keine dem Frieden eigene Wahrheit, deren Tod erst mit als »Epochenbruch« missverstandenem Kriegsbeginn einsetzte. Wolfgang Streeck äußert in einem lesenswerten FR-Interview (25.02.2023), in Kriegen werde immer gelogen, hauptsächlich der eigenen Bevölkerung und der des Gegners gegenüber. »Das hat einen schlechten guten Grund: Es geht um Leben und Tod, ein Krieg ist kein Beichtstuhl oder philosophisches Seminar. Sobald man im Krieg ist, geht es nicht mehr (?) um Wahrheit, sondern um ›Narrative‹: Wenn es dem eigenen Sieg dient, muss und darf man lügen.« Die Lüge ist also, da auf einmal Krieg herrscht, ein Gebot politischer Klugheit, dem als »Zwang der Sache« nachzukommen ist.
Wenn Krieg zur Lüge zwinge, so die Annahme, so bleibe umgekehrt im Frieden die Wahrheit eine wahrnehmbare Option. Die Wahrheit ist allerdings auch im Krieg nicht automatisch in Bausch und Bogen suspendiert. Wahrheit kann das sein, worauf Lüge aufbaut. Z. B. kann die Wahrheit, dass einzelne oder Bevölkerungsgruppen diskriminiert, unterdrückt oder mit Krieg überzogen werden, als Beleg – Fakten lügen, wie deren Checker versichern, ja nicht – in den Dienst einer Kriegsrechtfertigung gestellt werden, mit der Begründung, dass eine werte- und regelbasierte Weltordnung nun einmal sein muss.
Das demonstrativ Abwägende deutscher politischer Verlautbarungen ist eine spezielle Manier, mehr nicht, die sich die Bereitschaft gibt, falls Not an Mann und Frau ist, die eigene Existenz aufgabengemäß zur Disposition zu stellen, per »nuklearer Teilhabe« u. ä. In der Sache und zu Stoltenbergs Stolz passt zwischen die ehrlicher formulierenden Bündnisgenossen und Zauderdeutschland kein Blatt; die Leier, es gäbe noch irgendetwas abzuwägen, dient lediglich der Pflege eines Images, auf das Deutschland noch ein bisschen Wert legt. Von einem »Schlafwandeln in den Krieg« kann jedenfalls nicht die Rede sein. Die im Duktusvergleich mit Polen und England mit noch etwas weniger Schaum vor dem Mund auskommenden Auskünfte der deutschen Regierung sind inhaltlich absolut ehrlich; vielleicht wird Annalena-»Wir-führen-Krieg-gegen-Russland«-Baerbock somit auch am längsten währen? Das nachfolgende Gejammer, man habe es damals noch nicht wissen können, kann man sich jedenfalls schon jetzt sparen. Man kann es schon jetzt wissen – so man will. Das schließt nicht alles ein: Für nachhaltige Verweigerung von Informationen, die seinen Souverän nichts angehen, hat der Staat noch Geheimnisse und Verschlusssachen, deren Auslegung zukünftigen Historikern, so es sie dann noch gibt, vorbehalten bleibt. Verlautbarern wie Assange gebührt für ihren Hochverrat denn auch die ganze lebensbedrohende Wucht des Gesetzes.
Auch in Nichtkriegszeiten gibt es das Nebeneinander von Wahrheit & Aufrichtigkeit sowie von Lüge & Täuschung. »Regel- und wertebasiert« ist zwar keine Lüge im engeren Wortsinne, aber objektiv eine von ihren Proponenten selbst geglaubte täuschende Begründung von Zwecken, die sie verfolgen. Was die Mittel dieser Zwecke, also den Lieferimperativ, angeht, so nehmen sie, falls es passt, kein Blatt vor den Mund. Notabene: Der Begriff der Täuschung wird nicht dadurch hinfällig, dass er zu den Lieblingsvokabeln im rhetorischen Werkzeugkasten der AfD zählt. Nur ein Beispiel: Wenn Margret Thatcher behauptete, so etwas wie Gesellschaft gäbe es nicht, so war sie selbst von ihrer objektiven Lüge überzeugt und kam ohne Täuschungsabsicht aus. Nun gibt es natürlich auch Fälle, in denen eine bewusste Täuschungsabsicht vorliegt, wie z.B. beim sattsam bekannten DDR-Klassiker »Niemand beabsichtigt, eine Mauer zu bauen« oder wie bei Schröders Agenda 2010, die angeblich Eigeninitiative fördern sollte, aber in Wahrheit ein europaweit niedrigstes Lohnniveau erzielen sollte, wie er voll Stolz deutschen Industrievertretern berichtete. Einen Spitzenplatz bewusster Irreführung nimmt die Versicherung des Westens noch in Vorkriegszeiten ein, die Nato werde sich nicht einen Fußbreit nach Osten ausdehnen, mit der Russland nach allen Regeln der Kunst verladen wurde. Das Schöne an einer Lüge mit oder ohne Irreführungsabsicht ist, dass sie nur so lange zu halten braucht, bis sich ihr Erfolg eingestellt hat.
Danach kann man Geschehenes Gott sei Dank nicht mehr rückgängig, sich selbst aber ehrlich machen; zum praktischen Erfolg der Lügerei gesellt sich auch noch der moralische einer freiwilligen Selbstoffenbarung. Eine der umfassendsten Täuschungen schließlich ist das zu jedweder Zeit geltende Axiom, das Bevölkerungswohl sei im Allgemeinwohl verwirklicht. Die Lebensnotwendigkeiten des ersteren finden in letzterem nur insoweit Eingang, wie sie sich als profitables Mittel für das Wohlergehen des Kapitals als staatlicher Machtbasis ein- oder freisetzen lassen. Um die Pflege dieses Zustands haben sich deutsche Gewerkschaften schon längst verdient gemacht. Der klassenkämpferische Lack war schon vor Kriegsbeginn am Blättern und ist nun ab. Dafür gibt es eine neue Ehrlichkeit: Die Gewerkschaften sind jetzt noch patriotischer – keine Rede davon, wie in Italien Waffenlieferungen zu bestreiken!
Um den Begriff der Lüge nicht zu sehr zu strapazieren: Dass für Meinungsformung zu Täuschung ebenso vor dem Krieg wie in ihm gegriffen wird, belegt Hans-Peter Waldrichs luzider Text »Salto mortale« (Ossietzky 5/23): Zu Coronazeiten spielte das staatliche Panikorchester groß und alternativlos auf, und nun in der Kriegszeit wird »Lieb Vaterland, magst ruhig sein« intoniert. Weshalb zum Teufel schert sich die politische Klasse ums Verrecken nicht einmal darum, dass sie bei einem »Nuke ’em«-Inferno auch daran glauben muss? Wie kommt sie zu dem Wahnsinn, dass der Teufel so irre rational ist, dass für das Schaffen einer schönen neuen Welt ohne ihn lediglich etwas Heldenmut und ordentlich Gefasstheit erforderlich sind? Flankiert wird diese kognitive Verwahrlosung von lachhaften Hinweisen darauf, dass es doch immer auch gegen Goliaths siegreiche Davids, also Vietnamesen und Afghanen, gegeben habe. Wahrlich ein toller Grund zur Beruhigung. Was wird in Redaktionen eigentlich so geraucht? Der Stoff muss wirklich extra gut sein, extrabreit macht er jedenfalls.
Nun ist die Rede vom »Regel- und Wertebasierten« zwar ein Erschwurbeln von Kriegsrechtfertigung, aber als unablässiges Mantra vorgetragen entfaltet sie gewöhnende Wirkung. Mitgedachte, noch eventuelle Zweifel signalisierende Anführungszeichen verschwinden nach und nach, und allmählich wird aus einer Behauptung ein selbstverständlicher Titel für etwas quasi naturhaft Existentes wie »echt Eiche« der deutschen Schrankwand. Hier noch etwas ergründen zu wollen, wäre reine Hirnverbranntheit; »datt isso, datt musso, unn getz mach de Kopp zu.«
Richtigem Meinen gebührt exklusiv die Bühne; eine inhaltliche Befassung mit Abweichungen erübrigt sich ohnedies; sie bedeutete ja nur, Perlen vor »beratungsresistente« Säue zu werfen. Was diese stattdessen verdienen: Skandalisieren, Marginalisieren, Ausblenden. Diese Techniken blühten schon während der Pandemie auf (vgl. »Salto mortale«); #allesdichtmachen beispielsweise wurde als »Furz in der Laterne« abgemeiert. Richtiges Meinen ist nicht »beratungs-«, sondern »desinformationsresistent«, unbeirrbar, und lässt sich weder verführen noch bestechen. Christoph Süß führt das wöchentlich in quer selbstironisch, süffisant und moralisch kompromisslos vor. Zwar kommentierte er die »Manifest-für-den-Frieden«-Demo erst nach deren Stattfinden, aber die richtige Meinung stand schon vor der Demo fest und brauchte anlässlich dieser für einen angemessenen Kommentar nur noch zum zigsten Mal recycelt zu werden.
Die jeweils neu zu füllende Blaupause: Erstens Erfolglosigkeit des falschen Protests; die Anti-Putin-Demos zogen viel mehr Leute auf die Straße (ätschibätschi!), waren machtvoller und hatten wohl schon deshalb recht. Zweitens Kontaktschuld: Da sich auch Rechte unter die Demo mischen können, egal wie sehr sich diese um Distanzierung von unwillkommenen Trittbrettfahrern müht, muss es an Entschiedenheit der Abwehr gefehlt haben. Drittens lassen sich von journalistischen Praktikern eigener Verschwörungstheorie nach einigem Suchen in der Demo sicher ein paar Klotzköpfe ausfindig machen, die das »Rechtsoffene« der Veranstaltung repräsentieren. Solchen Querverbindungen wurde bei der guten Demo nicht nachgestiegen; wieso auch? Viertens hätte angesichts der Unterwanderungsgefahr von rechts das einzig vernünftige, sichere Verhalten darin bestanden, das Protestieren zu lassen. Fünftens erweist das Unterlassen des Lassens von hinten herum nochmals die töricht gefährliche Verbohrtheit der Kundgeber. Daraus folgt sechstens: Zu solchen Subjekten, loboesk ausgedrückt Lumpenpazifistin Wagenknecht und Emanzentusse Schwarzer, ist mindestens so sehr wie während Corona ein großer sozialer Abstand zu wahren. So ungefähr wird eine selbstgerechte Täuschung erzeugt, die in einer für sie empfänglichen Meinungsmonokultur als Glyphosat des richtigen Meinens wirkt.
Es ist also nicht verkehrt, um des Funktionierens eigenen Denkens willen Wolfgang Neuss‘ Rat zu folgen und Politikern zunächst einmal nur so weit zu trauen, wie man seine Waschmaschine werfen kann