Nach den Rebellionen in Ägypten, Tunesien und Libyen gehören die früheren Despoten Hosni Mubarak, Zine Ben Ali und Muammar al-Gaddafi seit mehr als 10 Jahren der Vergangenheit an. Auch in Syrien regte sich damals Widerstand, der in einem bis heute andauernden Bürgerkrieg mündete. Mehr als ein halbes Jahrhundert währte die Überwachungs-, Unterdrückungs- und Vernichtungsmaschinerie der Assad-Diktatur. Erst jetzt kam es zum finalen Sturz des Regimes und Baschar al-Assads. Als Folge dieser Umwälzungen muss ein Nationenbildungsprozess durchlaufen werden.
Damit eine Nation Potenzial hat, sollten Michael Keating, einem Politikwissenschaftler der Universität Aberdeen, zufolge folgende Bedingungen erfüllt sein: Sie muss international wettbewerbsfähig sein, die soziale Integration fördern und aufrechterhalten sowie ein legitimiertes System installieren, sodass sie imstande ist, politische Aufgaben und Herausforderungen in einer akzeptablen Weise zu lösen.
Syrien steht ein holpriger und schwieriger Neustart bevor, unabhängig von den vielfältigen und einflussnehmenden internationalen Interessen. Ungewiss ist, was die HTS-Rebellen, deren Vergangenheit im militanten Islamismus liegt, für Ziele verfolgen. Der Rebellenführer Al-Dscholani zeigt sich derweil gemäßigt und bestrebt, einen geordneten Regierungsübergang umzusetzen. Im syrischen Fernsehen sprach sich der mittlerweile durch Mohammed al-Baschir ausgetauschte Ministerpräsident al-Dschalali für freie Wahlen in Syrien aus, damit die Menschen über die neue Führung entscheiden können. Auch im Rahmen von Außenministerin Baerbocks Acht-Punkte-Plans wird von freien Wahlen als erstrebenswertes Zukunftsszenario gesprochen.
Sollte es tatsächlich zu freien Wahlen und gar zu einem Demokratisierungsprozess kommen, muss Demokratie nach über fünfzig Jahren der Diktatur zunächst gelernt werden. Minimalbedingungen, um von einer Demokratie überhaupt zu sprechen, sind die Gewährleistung von allgemeinen, freien und gleichen Wahlen, die regelmäßig stattfinden und eine gleichberechtigte Mitwirkung aller Staatsbürgerinnen und Staatsbürger bei der Wahl beziehungsweise Abwahl des politischen Personals ermöglichen, die freie Meinungsäußerung und die Wahrnehmung von Interessen mit gesicherten Rechten der politischen Selbstorganisation und Opposition sowie die in der Verfassung gesicherte Existenz der zentralen politischen Institutionen in einem Staat – hohe Anforderungen für eine derart gebeutelte und im Fadenkreuz unterschiedlicher Akteursinteressen stehende Bürgerschaft.
Die Einbindung großer Teile der Bevölkerung ist für einen Nationenbildungs- und Demokratisierungsprozess entscheidend, birgt jedoch die Gefahr, dass unterschiedliche Werte und Interessen zutage treten, die nicht unter einen Hut zu bekommen sind. In Syrien leben unterschiedliche ethnische Gruppen, die unter Assad keine Möglichkeit hatten, politisch zu partizipieren. Das Ende repressiver Regime hat in der Vergangenheit andernorts bereits zu einer Zunahme ethnischer Bestrebungen geführt. So hat das Ende der Franco-Diktatur in Spanien den Ethnonationalismus im spanischen Baskenland maßgeblich katalysiert.
Durch den Bürgerkrieg und die internationalen Sanktionen ist die syrische Wirtschaft weitestgehend zusammengebrochen. Die Infrastruktur im Land muss wiederaufgebaut werden, die Arbeitslosenzahlen sind hoch und die Erdölvorkommen bald erschöpft. Die wirtschaftlichen Perspektiven erscheinen katastrophal, und die humanitäre Lange besonders in Idlib ist schwierig.
Eine ebenso große Herausforderung stellt die Sicherstellung und Förderung der sozialen Integration dar – ohne die Angst vor einem Verlust ethnisch-kultureller Identitäten zu schüren. In Syrien leben neben den mehrheitlich sunnitischen Muslimen zahlreiche Minderheiten. Der Umgang mit den Themen Minderheitenschutz und -partizipation dürfte ein entscheidender Faktor auf dem Weg Syriens sein, um die Legitimierung des Nationenbildungsprozesses zu gewährleisten. Wenn es gelingt, die unterschiedlichen Interessengruppen ausreichend zu integrieren, wäre ein großer Schritt in Richtung friedliches Zusammenleben getan.