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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Syrien nach Assad

Nach den Rebel­lio­nen in Ägyp­ten, Tune­si­en und Liby­en gehö­ren die frü­he­ren Des­po­ten Hos­ni Muba­rak, Zine Ben Ali und Muammar al-Gad­da­fi seit mehr als 10 Jah­ren der Ver­gan­gen­heit an. Auch in Syri­en reg­te sich damals Wider­stand, der in einem bis heu­te andau­ern­den Bür­ger­krieg mün­de­te. Mehr als ein hal­bes Jahr­hun­dert währ­te die Über­wa­chungs-, Unter­drückungs- und Ver­nich­tungs­ma­schi­ne­rie der Assad-Dik­ta­tur. Erst jetzt kam es zum fina­len Sturz des Regimes und Baschar al-Assads. Als Fol­ge die­ser Umwäl­zun­gen muss ein Natio­nen­bil­dungs­pro­zess durch­lau­fen werden.

Damit eine Nati­on Poten­zi­al hat, soll­ten Micha­el Kea­ting, einem Poli­tik­wis­sen­schaft­ler der Uni­ver­si­tät Aber­deen, zufol­ge fol­gen­de Bedin­gun­gen erfüllt sein: Sie muss inter­na­tio­nal wett­be­werbs­fä­hig sein, die sozia­le Inte­gra­ti­on för­dern und auf­recht­erhal­ten sowie ein legi­ti­mier­tes System instal­lie­ren, sodass sie imstan­de ist, poli­ti­sche Auf­ga­ben und Her­aus­for­de­run­gen in einer akzep­ta­blen Wei­se zu lösen.

Syri­en steht ein holp­ri­ger und schwie­ri­ger Neu­start bevor, unab­hän­gig von den viel­fäl­ti­gen und ein­fluss­neh­men­den inter­na­tio­na­len Inter­es­sen. Unge­wiss ist, was die HTS-Rebel­len, deren Ver­gan­gen­heit im mili­tan­ten Isla­mis­mus liegt, für Zie­le ver­fol­gen. Der Rebel­len­füh­rer Al-Dscho­la­ni zeigt sich der­weil gemä­ßigt und bestrebt, einen geord­ne­ten Regie­rungs­über­gang umzu­set­zen. Im syri­schen Fern­se­hen sprach sich der mitt­ler­wei­le durch Moham­med al-Baschir aus­ge­tausch­te Mini­ster­prä­si­dent al-Dscha­la­li für freie Wah­len in Syri­en aus, damit die Men­schen über die neue Füh­rung ent­schei­den kön­nen. Auch im Rah­men von Außen­mi­ni­ste­rin Baer­bocks Acht-Punk­te-Plans wird von frei­en Wah­len als erstre­bens­wer­tes Zukunfts­sze­na­rio gesprochen.

Soll­te es tat­säch­lich zu frei­en Wah­len und gar zu einem Demo­kra­ti­sie­rungs­pro­zess kom­men, muss Demo­kra­tie nach über fünf­zig Jah­ren der Dik­ta­tur zunächst gelernt wer­den. Mini­mal­be­din­gun­gen, um von einer Demo­kra­tie über­haupt zu spre­chen, sind die Gewähr­lei­stung von all­ge­mei­nen, frei­en und glei­chen Wah­len, die regel­mä­ßig statt­fin­den und eine gleich­be­rech­tig­te Mit­wir­kung aller Staats­bür­ge­rin­nen und Staats­bür­ger bei der Wahl bezie­hungs­wei­se Abwahl des poli­ti­schen Per­so­nals ermög­li­chen, die freie Mei­nungs­äu­ße­rung und die Wahr­neh­mung von Inter­es­sen mit gesi­cher­ten Rech­ten der poli­ti­schen Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on und Oppo­si­ti­on sowie die in der Ver­fas­sung gesi­cher­te Exi­stenz der zen­tra­len poli­ti­schen Insti­tu­tio­nen in einem Staat – hohe Anfor­de­run­gen für eine der­art gebeu­tel­te und im Faden­kreuz unter­schied­li­cher Akteur­s­in­ter­es­sen ste­hen­de Bürgerschaft.

Die Ein­bin­dung gro­ßer Tei­le der Bevöl­ke­rung ist für einen Natio­nen­bil­dungs- und Demo­kra­ti­sie­rungs­pro­zess ent­schei­dend, birgt jedoch die Gefahr, dass unter­schied­li­che Wer­te und Inter­es­sen zuta­ge tre­ten, die nicht unter einen Hut zu bekom­men sind. In Syri­en leben unter­schied­li­che eth­ni­sche Grup­pen, die unter Assad kei­ne Mög­lich­keit hat­ten, poli­tisch zu par­ti­zi­pie­ren. Das Ende repres­si­ver Regime hat in der Ver­gan­gen­heit andern­orts bereits zu einer Zunah­me eth­ni­scher Bestre­bun­gen geführt. So hat das Ende der Fran­co-Dik­ta­tur in Spa­ni­en den Eth­no­na­tio­na­lis­mus im spa­ni­schen Bas­ken­land maß­geb­lich katalysiert.

Durch den Bür­ger­krieg und die inter­na­tio­na­len Sank­tio­nen ist die syri­sche Wirt­schaft wei­test­ge­hend zusam­men­ge­bro­chen. Die Infra­struk­tur im Land muss wie­der­auf­ge­baut wer­den, die Arbeits­lo­sen­zah­len sind hoch und die Erd­öl­vor­kom­men bald erschöpft. Die wirt­schaft­li­chen Per­spek­ti­ven erschei­nen kata­stro­phal, und die huma­ni­tä­re Lan­ge beson­ders in Idlib ist schwierig.

Eine eben­so gro­ße Her­aus­for­de­rung stellt die Sicher­stel­lung und För­de­rung der sozia­len Inte­gra­ti­on dar – ohne die Angst vor einem Ver­lust eth­nisch-kul­tu­rel­ler Iden­ti­tä­ten zu schü­ren. In Syri­en leben neben den mehr­heit­lich sun­ni­ti­schen Mus­li­men zahl­rei­che Min­der­hei­ten. Der Umgang mit den The­men Min­der­hei­ten­schutz und -par­ti­zi­pa­ti­on dürf­te ein ent­schei­den­der Fak­tor auf dem Weg Syri­ens sein, um die Legi­ti­mie­rung des Natio­nen­bil­dungs­pro­zes­ses zu gewähr­lei­sten. Wenn es gelingt, die unter­schied­li­chen Inter­es­sen­grup­pen aus­rei­chend zu inte­grie­ren, wäre ein gro­ßer Schritt in Rich­tung fried­li­ches Zusam­men­le­ben getan.