Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Sympathische Narren

Mari­ti­me Sym­bo­le sind bei Chri­stoph Hein nicht neu. 1990 erschien eine kur­ze Erzäh­lung von ihm, die bei den man­nig­fal­ti­gen Publi­ka­tio­nen des Schrift­stel­lers seit­dem (fast) ver­ges­sen ist: »Kein See­weg nach Indi­en«. Hein beschreibt hier ein Unter­neh­men von See­leu­ten, die sich auf die Suche nach dem Para­dies bege­ben. Man ist lan­ge erfolg­los unter­wegs. Als auch der Kapi­tän nicht mehr glaubt, das Ziel errei­chen zu kön­nen, bricht auf den Schif­fen der Auf­stand los. Die Offi­zie­re wer­den abge­setzt, die Schif­fe keh­ren zurück auf das alte Fest­land. Auch Schrei­ber waren auf den Boo­ten. »Wenn einer kam und sie (die Schrei­ber, C.B.) frag­te, ob es nicht eine ver­lo­re­ne Zeit war, die Fahrt auf den Nar­ren­schif­fen, dann lächel­ten sie und sag­ten, wir wur­den gebraucht auf den Schif­fen, und wir haben eine Erfah­rung gemacht. Wir sind also rei­cher gewor­den. Denn alles, was man braucht, zum Leben und zum Schrei­ben, sind Lie­be und Erfahrungen.«

Jahr­zehn­te spä­ter schreibt der »Schrei­ber« Chri­stoph Hein ein 750 Sei­ten lan­ges Buch und nennt es »Das Nar­ren­schiff«. Dies­mal sind die »See­leu­te« kon­kret, ja, sogar teil­wei­se authen­tisch, und die in der Erzäh­lung erwähn­ten Schiffs­auf­stän­de haben tat­säch­li­che histo­ri­sche Ereig­nis­se aus der DDR und der Welt zum Hin­ter­grund: die Grün­dung der DDR, der 17. Juni 1953, der Tod Sta­lins, der XX. Par­tei­tag der UdSSR, die Ungarn-Ereig­nis­se 1956, der Mau­er­bau, das 11. Ple­num, die Ablö­sung Ulb­richts durch Hon­ecker u.a.m. (nur die Bier­mann-Affä­re fehlt!). Die Prot­ago­ni­sten sind kei­ne klei­nen Funk­tio­nä­re des Staa­tes – ein Wirt­schafts­pro­fes­sor, der 1945 aus dem sowje­ti­schen Exil nach Deutsch­land zurück­kehr­te und Mit­glied des Polit­bü­ros der SED wur­de, ein Shake­speare-Spe­zia­list aus west­li­chem Exil, ein durch das Natio­nal­ko­mi­tee »Frei­es Deutsch­land« geläu­ter­ter Nazi. Sie haben rela­tiv wich­ti­ge Funk­tio­nen inne, hal­ten (bis auf ein­mal, und das rächt sich!) treu zum jewei­li­gen Kurs der Par­tei und ver­hal­ten sich ruhig, wenn sie mit der Regie­rung nicht über­ein­stim­men, denn ein Abwei­chen könn­te ihrer Posi­ti­on scha­den. Sie träu­men kaum noch von den sozia­li­sti­schen Zie­len, denn die Feh­ler der Poli­tik wer­den immer offen­sicht­li­cher. Nur im ver­trau­ten Kreis – und selbst da ist Vor­sicht gebo­ten – wird dar­über gespro­chen. Den »Schiff­bruch« erle­ben die mei­sten nicht mehr. Ihre Kin­der, die die Träu­me der Eltern nicht teil­ten, müs­sen sich nach der Wen­de zurechtfinden.

Chri­stoph Hein behan­delt die­se »Nar­ren« respekt­voll und – aus­ge­nom­men den Sta­li­ni­sten Goretz­ka – nicht ohne Sym­pa­thie. Oft benutzt er die Mei­nun­gen sei­ner Prot­ago­ni­sten, um die jewei­li­gen Ereig­nis­se von ver­schie­de­nen Sei­ten inter­pre­tie­ren zu las­sen. Gleich­zei­tig ist er Chro­nist – sach­lich und sach­kun­dig auf den ver­schie­den­sten Gebie­ten sind die Bege­ben­hei­ten beschrie­ben. Es ist ein Beleg für einen groß­ar­ti­gen Schrift­stel­ler, trotz der Bekannt­heit der auf­ge­reih­ten Situa­tio­nen den Text span­nend zu hal­ten. Chri­stoph Heins Behaup­tung, im Gegen­satz zu den Histo­ri­kern wären schon immer die Roman­ciers für die Geschichts­schrei­bung zustän­dig gewe­sen, bestä­tigt das neue Buch, ein Gesell­schafts­ro­man, wie er nur sel­ten gelingt.

Chri­stoph Hein: Das Nar­ren­schiff, Suhr­kamp Ver­lag 2025, 750 S., 28 €.