Maritime Symbole sind bei Christoph Hein nicht neu. 1990 erschien eine kurze Erzählung von ihm, die bei den mannigfaltigen Publikationen des Schriftstellers seitdem (fast) vergessen ist: »Kein Seeweg nach Indien«. Hein beschreibt hier ein Unternehmen von Seeleuten, die sich auf die Suche nach dem Paradies begeben. Man ist lange erfolglos unterwegs. Als auch der Kapitän nicht mehr glaubt, das Ziel erreichen zu können, bricht auf den Schiffen der Aufstand los. Die Offiziere werden abgesetzt, die Schiffe kehren zurück auf das alte Festland. Auch Schreiber waren auf den Booten. »Wenn einer kam und sie (die Schreiber, C.B.) fragte, ob es nicht eine verlorene Zeit war, die Fahrt auf den Narrenschiffen, dann lächelten sie und sagten, wir wurden gebraucht auf den Schiffen, und wir haben eine Erfahrung gemacht. Wir sind also reicher geworden. Denn alles, was man braucht, zum Leben und zum Schreiben, sind Liebe und Erfahrungen.«
Jahrzehnte später schreibt der »Schreiber« Christoph Hein ein 750 Seiten langes Buch und nennt es »Das Narrenschiff«. Diesmal sind die »Seeleute« konkret, ja, sogar teilweise authentisch, und die in der Erzählung erwähnten Schiffsaufstände haben tatsächliche historische Ereignisse aus der DDR und der Welt zum Hintergrund: die Gründung der DDR, der 17. Juni 1953, der Tod Stalins, der XX. Parteitag der UdSSR, die Ungarn-Ereignisse 1956, der Mauerbau, das 11. Plenum, die Ablösung Ulbrichts durch Honecker u.a.m. (nur die Biermann-Affäre fehlt!). Die Protagonisten sind keine kleinen Funktionäre des Staates – ein Wirtschaftsprofessor, der 1945 aus dem sowjetischen Exil nach Deutschland zurückkehrte und Mitglied des Politbüros der SED wurde, ein Shakespeare-Spezialist aus westlichem Exil, ein durch das Nationalkomitee »Freies Deutschland« geläuterter Nazi. Sie haben relativ wichtige Funktionen inne, halten (bis auf einmal, und das rächt sich!) treu zum jeweiligen Kurs der Partei und verhalten sich ruhig, wenn sie mit der Regierung nicht übereinstimmen, denn ein Abweichen könnte ihrer Position schaden. Sie träumen kaum noch von den sozialistischen Zielen, denn die Fehler der Politik werden immer offensichtlicher. Nur im vertrauten Kreis – und selbst da ist Vorsicht geboten – wird darüber gesprochen. Den »Schiffbruch« erleben die meisten nicht mehr. Ihre Kinder, die die Träume der Eltern nicht teilten, müssen sich nach der Wende zurechtfinden.
Christoph Hein behandelt diese »Narren« respektvoll und – ausgenommen den Stalinisten Goretzka – nicht ohne Sympathie. Oft benutzt er die Meinungen seiner Protagonisten, um die jeweiligen Ereignisse von verschiedenen Seiten interpretieren zu lassen. Gleichzeitig ist er Chronist – sachlich und sachkundig auf den verschiedensten Gebieten sind die Begebenheiten beschrieben. Es ist ein Beleg für einen großartigen Schriftsteller, trotz der Bekanntheit der aufgereihten Situationen den Text spannend zu halten. Christoph Heins Behauptung, im Gegensatz zu den Historikern wären schon immer die Romanciers für die Geschichtsschreibung zuständig gewesen, bestätigt das neue Buch, ein Gesellschaftsroman, wie er nur selten gelingt.
Christoph Hein: Das Narrenschiff, Suhrkamp Verlag 2025, 750 S., 28 €.