Was uns täglich an gnadenlosen Massakern und brutalster Zerstörung in Gaza über die Bildschirme geliefert wird, übertrifft bei weitem das, was wir am 7. Oktober 2023 an Gewalt und schockierenden Grausamkeiten sehen mussten. Es ist aber nur die Explosion einer Gewalt, die seit weit über 55 Jahren ein Volk mit Armee und Siedlern in einer gnadenlosen Besatzung gefangen hält. Jahrzehntelang konnte die Regierung in Jerusalem der Unterstützung und Rückendeckung durch die USA und Deutschland sicher sein, kein Gerichtshof in Den Haag konnte intervenieren, und die UNO war machtlos. Das hat sich in den letzten Jahren geändert. Inzwischen ermitteln sowohl der Internationale Strafgerichtshof wie der Internationale Gerichtshof (IGH) wegen schwerer Kriegsverbrechen und Verstößen gegen das Völkerrecht gegen Israel.
Ende Dezember 2023 reichte nun Südafrika eine Klage gegen Israel mit dem Vorwurf des Völkermords beim Internationalen Gerichtshof ein und forderte die sofortige Einstellung der Waffengewalt. Dazu konnte sich das Richtergremium nicht entschließen, und der Vorwurf des Völkermordes wird erst in den folgenden Jahren das Gremium beschäftigen und kann lange dauern. Das Gericht räumte aber ein, dass ein Völkermord bei Fortdauer der Kampfhandlungen plausibel sei. Daher, so das Gericht, müsse Israel alle Maßnahmen ergreifen, um einen Völkermord in Gaza zu verhindern, und sicherstellen, dass sein Militär keine völkermörderischen Handlungen begeht. Es müsse die Aufstachelung und Anstiftung zum Völkermord verhindern und bestrafen. Außerdem müsse es die katastrophalen Lebensbedingungen im Gazastreifen beseitigen und humanitäre Hilfe zulassen.
Der palästinensische Außenminister Riyad al-Maliki begrüßte das Urteil als »eine wichtige Erinnerung daran, dass kein Staat über dem Gesetz steht«. Doch »erinnern« – was haben die Menschen in Gaza davon? Für sie hat Israel immer über dem Gesetz gestanden und nie auf Erinnerungen oder Mahnungen reagiert. Israel brauchte nicht zu reagieren und hat, wie wir täglich sehen können, nicht reagiert, weil die USA und auch Deutschland allen Regierungen in Jerusalem den Rücken freihielten. Netanjahu hat bis heute, trotz zunehmender Kritik, nie auf sein Ziel verzichtet, die Hamas zu vernichten. Der Preis, den die Menschen in Gaza bisher haben zahlen müssen, war dem Gericht bekannt. Es hat die detaillierten Fakten des Grauens, welche Südafrika in seiner Klage vorgelegt hat, nicht in Zweifel gezogen. Deshalb ist das Urteil enttäuschend für die Menschen in Gaza.
Schon zwei Tage nach der Entscheidung meldete Gaza wieder 200 Tote. Jeden Tag werden immer noch über 100 Tote gezählt und fast doppelt so viele Verletzte. Über 32.000 Tote, die unter den Trümmern verschütteten Leichen nicht mitgezählt, und über 74.000 Verletzte seit dem 7. Oktober 2023, und jeden Tag kommen mehr hinzu. Nichts hat sich seit der Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs geändert.
Am 25. März verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution 2728, die einen sofortigen Waffenstillstand im Gazastreifen »fordert«. Am selben Tag legte Francesca Albanese, die Sonderberichterstatterin für die Lage der Menschenrechte in den besetzten palästinensischen Gebieten, dem UN-Menschenrechtsrat einen 25-seitigen Bericht mit dem Titel »Anatomie eines Völkermords« vor. Albanese fand »vernünftige Gründe« für die Annahme, dass Israel im Gazastreifen einen Völkermord begeht. Sie empfahl den UN-Mitgliedsstaaten: »Sofort ein Waffenembargo gegen Israel zu verhängen, da es offensichtlich die vom IGH am 26. Januar 2024 angeordneten verbindlichen Maßnahmen nicht eingehalten hat, sowie andere wirtschaftliche und politische Maßnahmen zu ergreifen, die notwendig sind, um einen sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand zu gewährleisten und die Achtung des Völkerrechts wiederherzustellen, einschließlich Sanktionen.«
Israel erklärte in einer Pressemitteilung, dass es Albaneses Bericht »aufs Schärfste zurückweist« und nannte ihn »eine obszöne Verdrehung der Realität«.
Drei Tage später, am 28. März, wies der Internationale Gerichtshof Israel an, die »ungehinderte Bereitstellung« humanitärer Hilfe für den Gazastreifen zu gewährleisten, unter anderem durch die Öffnung weiterer Landübergänge, und sicherzustellen, dass sein Militär keine völkermörderischen Handlungen begeht, etwa durch die Behinderung dringend benötigter humanitärer Hilfe. Am 4. April kündigte Israel die Öffnung weiterer Grenzübergänge für Hilfslieferungen an, um – wörtlich – »den Krieg gegen die Hamas fortzuführen«.
Das Gericht konnte sich zu keiner Forderung nach einem Waffenstillstand entschließen, verwies aber auf die Verabschiedung der Resolution 2728 des Sicherheitsrates, in der es heißt: »Die Palästinenser im Gazastreifen erleiden ein entsetzliches Ausmaß an Hunger und Leid. Dies ist die höchste Zahl von Menschen, die jemals von katastrophalem Hunger betroffen waren, die das Integrierte Klassifizierungssystem für Ernährungssicherheit irgendwo und irgendwann erfasst hat. Dies ist eine von Menschen verursachte Katastrophe, und der Bericht macht deutlich, dass sie gestoppt werden kann.«
Sieben der 16 Richter am IGH hätten auch einen sofortigen Waffenstillstand angeordnet, wie ihn Südafrika in seinem Völkermordverfahren gegen Israel gefordert hatte. Die Stimmen reichten jedoch nicht aus, um diese vorläufige Maßnahme anzuordnen.
In der Zwischenzeit hat die Regierung Biden in aller Stille die Lieferung von Kampfjets und Bomben im Wert von Milliarden von Dollar an Israel genehmigt. Die Genehmigungen für Waffenlieferung haben sich in Deutschland seit dem 7. Oktober verzehnfacht. Unbeeindruckt hatte Israel schon unmittelbar nach dem Urteil am 26. Januar verkündet, dass die Armee in den Süden nach Rafah an der ägyptischen Grenze vorrücken werde, wo über 1,3 Mio. Menschen Zuflucht vor den Angriffen der israelischen Armee gesucht haben. Dort herrscht jetzt Panik.
Die mangelnde Versorgung der überlebenden Bevölkerung hat sich zu einer Hungerkatastrophe ausgeweitet. Hunger wird von Israel als Kriegswaffe eingesetzt. Von den 36 Krankenhäusern sind 24 zerstört, den letzten Kliniken fehlen Medikamente und Personal. Die Armee scheut sich nicht einmal, das Al-Schifa-Krankenhaus, das größte der noch verbliebenen Krankenhäuser, und internationale Hilfskonvois anzugreifen – das sind weitere schwere Kriegsverbrechen.
Die Schutzmächte Israels, USA und BRD, begnügen sich mit Mahnungen zur Mäßigung und Beachtung des humanitären Völkerrechts und werfen Care-Pakete von oben ab, damit der Krieg unten weitergehen kann. Was für eine Perversität der Politik – und unseren Medien fällt das offenbar gar nicht auf.
Die Anklage Südafrikas hat der internationalen Öffentlichkeit nicht nur das absolute politische und moralische Desaster eines Staates präsentiert, der seine ganze Legitimation selbst aus einem Völkermord, dem Holocaust, schöpft. Sie dokumentiert auch den Absturz all der politischen und moralischen Wertansprüche der Freunde Israels – insbesondere der USA und Deutschlands –, das Scheitern einer bedingungslosen Unterstützung bis in den moralischen Untergang. Der Schaden für das Ansehen in der nichteuropäischen Welt ist jetzt schon spürbar. Sie können sich von der Verantwortung für diese Katastrophe, sowohl für die palästinensische wie auch die israelische Gesellschaft, nicht freisprechen und machen sich der Unterstützung eines Völkermordes schuldig.
Es bleibt nur eine kleine Hoffnung: Der Prozess in Den Haag könnte eine notwendige politische Entwicklung fördern. Er hat jetzt noch viel deutlicher gemacht, dass der Frieden zwischen den Völkern nur durch die Beendigung der Besatzung, den Rückzug der israelischen Armee und der Siedler, die nicht in einem palästinensischen Staat leben wollen, und die Anerkennung eines palästinensischen Staates in klar definierten und gesicherten Grenzen erreicht werden kann. Wenn der IGH mit seiner Entscheidung und dem weiteren Verfahren diesem Ziel den Weg gebahnt hat, gebührt der Dank der Regierung Südafrikas, die mit ihrer Klage den Internationalen Gerichtshof eingeschaltet und die Öffentlichkeit aufgerüttelt hat.