»Sie töten und verwunden wahllos auf großer Fläche, wer sie abfeuert, muss nicht genau zielen; er kann sich sicher sein: Das Mordinstrument wird schon jemanden treffen. (…) Streubomben sind eine besonders heimtückische Waffe, sie bestehen aus einer Bombe oder einem Sprengsatz, der sich kurz über dem Ziel in Dutzende kleine Bomben zerlegt. Wer Terror gegen die Zivilbevölkerung verbreiten will, hat mit Streubomben die Waffe der Wahl gefunden. (…) Eine zusätzliche Tücke der Streumunition ist ihre Unzuverlässigkeit: Nie explodieren alle Cluster-Bomben; die übrigen bleiben im Gelände liegen und bilden eine verheerende Gefahr für alle, die versehentlich mit ihnen in Berührung kommen, ob spielende Kinder oder Bauern auf dem Feld.«
Ein Zitat aus der Süddeutschen Zeitung vom 13. Mai des vergangenen Jahres. Anlass für den SZ-Artikel: die nach Angaben von Human Rights Watch vom russischen Militär »im großen Maße« eingesetzte Streumunition. Der Einsatz von Streubomben durch die Ukraine wird in dem Artikel nur mit einem Satz erwähnt und auf diese Weise heruntergespielt: »In einigen Fällen haben auch die Ukrainer die russische Armee damit beschossen.« Und während sich der US-Einsatz von Streubomben 2003 im Irak angeblich nur präzise gegen militärische Ziele richtete, hätten die Russen, so die Süddeutsche, »die killing fields des syrischen Bürgerkrieges bereits als Testgelände für diese Waffe im Besonderen wie auch einer Kriegsführung des Schreckens im Allgemeinen genutzt«.
Abgesehen davon, dass Streubomben nicht zwischen militärischen und zivilen Zielen unterscheiden und deshalb auch nie punktgenau gegen ein bestimmtes Ziel eingesetzt werden können (und sollen), ist die Doppelmoral des SZ-Artikels unerträglich. Als ob es moralisch vertretbare und moralisch verwerfliche Einsätze von Streubomben, als ob es gute und böse Streumunition gäbe.
Streubomben sind immer grausame Mordinstrumente, die durch Bodenraketen oder aus dem Flugzeug abgeworfen werden. Bomben, die teils Hunderte Minibomben, sogenannte Bomblets, enthalten; die schon in der Luft explodieren und sich über riesige Flächen verteilen. Sie treffen, verwunden und töten wahllos. Die meisten Opfer stammen aus der Zivilbevölkerung.
Dass die USA nun angekündigt haben, Streubomben an die Ukraine zu liefern, ist abscheulich und erschreckend. Bis zu 3,7 Millionen Streubomben mit jeweils rund 80 Sprengkörpern könnte das Pentagon der Ukraine nach eigener Auskunft zur Verfügung stellen. Die von US-Präsident Joe Biden demonstrierte »Zuversicht«, von diesen insgesamt rund 300 Millionen Sprengköpfen würden lediglich »unter 2,35 Prozent« Blindgänger bleiben, ist eine zynische Verharmlosung, eine dreiste Irreführung. Selbst wenn die »2,35« Prozent stimmen würden, blieben noch knapp sieben Millionen Blindgänger, also zunächst nicht explodierte Sprengköpfe, die noch Jahre später auf Wegen, Wiesen und Feldern Gefahr bedeuten. Außerdem sind die »2,35 Prozent« das Ergebnis von Labortests, also an Orten ohne Bäume oder stürmisches Wetter oder weichen Boden. In den realen Kriegen, in denen die US-Streubomben in den letzten 20 Jahren zum Einsatz kamen, wie im Irak, in Libyen oder durch Saudi-Arabien im Jemen, lag die Blindgängerquote zwischen 20 und 40 Prozent.
Während des Vietnamkriegs warfen die USA bei Luftangriffen auf Ziele in Vietnam, Laos und Kambodscha großflächig Streubomben ab. Allein auf Laos regneten zwischen 1964 und 1973 über 270 Millionen Bomblets nieder, von denen Schätzungen zufolge 80 Millionen nicht explodierten. Laut Wikipedia wurden in Laos von 1964 bis 2008 mehr als 50.000 Zivilisten von Streumunition getötet oder verletzt, davon 20.000 nach dem Krieg. 23 Prozent der Opfer waren Kinder.
Auch in den völkerrechtswidrigen Angriffskriegen gegen Serbien und den Irak setzten die Nato-Mächte Streumunition ein. Nach einem Bericht von Human Rights Watch warfen die Vereinigten Staaten und Großbritannien über dem Irak fast 13.000 Streubomben mit geschätzt 1,8 bis 2 Millionen Submunitionen ab. Und nach Angaben der Internationale Kampagne für das Verbot von Landminen wurden im Afghanistankrieg zwischen 2001 und 2002 von den US-Streitkräften rund 1300 Einheiten Streumunition eingesetzt, bestückt mit einer Viertelmillion Bomblets. Aber auch die Streitkräfte der Taliban, so die Organisation Human Rights Watch, haben mit Raketenwerfern sowjetischer Bauart Streumunition abgeworfen. Nach Einschätzung der UN-Organisation Mine Action Programme (MAPA) ist Afghanistan neben Laos eines der weltweit am schwersten von Landminen und nicht detonierter Streumunition betroffenen Länder. Und um nicht selbst einseitig zu erscheinen: Streubomben wurden während des Kroatienkrieges von serbischer Seite eingesetzt, im Laufe des Libanon-Krieges von Israel und der Hisbollah, also von beiden kriegsführenden Parteien oder während des Georgienkrieges von russischer und von georgischer Seite. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben mindestens 21 Regierungen in mindestens 40 Ländern Streumunition eingesetzt. Doch es wird niemanden verwundern, dass »America first« auch beim Verwüsten der Welt durch Streubomben gilt. Mindestens vier Millionen Streubomben bzw. 400 Millionen Bomblets gehen auf das Konto von USA und Nato. In den betroffenen Ländern gefährdet die Streumunition auch nach dem Ende der Kriege die Zivilbevölkerung. Jahr für Jahr werden Hunderte von Menschen durch explodierende Blindgänger getötet oder verstümmelt, sie verlieren Arme oder Beine, ihr Gehör oder das Augenlicht. Ähnlich wie Landminen bleiben die Bomblets nach Beendigung der eigentlichen Kampfhandlungen noch lange intakt. Sie sind klein, empfindlich und hochexplosiv. Die von den USA angekündigte Lieferung von Streubomben an die Ukraine und die prompte Antwort Russlands, in diesem Fall ebenfalls Streubomben einzusetzen, bedeuten also: Nicht nur russische und ukrainische Soldaten, sondern vor allem auch die ukrainischen Zivilisten werden über Jahre und Jahrzehnte einen fürchterlichen Preis bezahlen.
Einen hohen moralischen Preis wiederum bezahlen die deutsche Regierung bzw. das deutsche Parlament und die Nato. Insgesamt 111 Staaten, darunter neben der Bundesrepublik die meisten Nato-Staaten, haben das 2010 in Kraft getretene Oslo-Übereinkommen über das Verbot von Streumunition, die »Convention on Cluster Munition« (CCM) unterzeichnet, also einen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag, der den Einsatz, die Herstellung und die Weitergabe bestimmter Typen konventioneller Streumunition verbietet. Die Streumunition, die die USA der Ukraine liefern werden, gehört dazu. Neben den Verbotsbestimmungen enthält das Abkommen das Gebot zur Zerstörung von vorhandenen Beständen, zur Beseitigung von Rückständen aus eingesetzter Clustermunition sowie zur Unterstützung der Opfer von Streubomben. Vor wenigen Monaten, am 28. Februar 2023, hat übrigens Nigeria als 111. Staat das Abkommen ratifiziert.
Doch kaum verkündet, stellte sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) am 10. Juli im ZDF-Sommerinterview hinter den Beschluss von US-Präsident Joe Biden, Streumunition an die Ukraine zu liefern. Zwar sei die offizielle Position der Bundesregierung, sich gegen die international geächteten Waffen auszusprechen, nach wie vor richtig, erklärte Steinmeier. Doch nur um hinzuzufügen: »Aber sie kann in der gegenwärtigen Situation den USA nicht in den Arm fallen.« Steinmeier, der das Oslo-Übereinkommen in seiner damaligen Position als Außenminister unterzeichnete, weiß genau, welche Verbrechen er mit seiner Aussage unterstützt. Zynisch ist auch die Reaktion der Bundesregierung auf die geplante Lieferung von Streumunition an die Ukraine. Die Ampelkoalition, so Regierungssprecher Steffen Hebestreit, sei sich »sicher, dass sich unsere US-Freunde die Entscheidung über eine Lieferung entsprechender Munition nicht leicht gemacht haben«. Und Verteidigungsminister Boris Pistorius erklärte, man habe die Entscheidung der US-Regierung »nicht zu kommentieren«.
Mir nichts, dir nichts wird die Unterschrift unter das Oslo-Übereinkommen über das Verbot von Streumunition entwertet, denn sie ist es offenbar nicht einmal wert, den engsten Verbündeten zur Mäßigung aufzufordern. Theoretisch hätte man dafür großen Rückhalt bei den anderen 110 Staaten, die das Übereinkommen ratifiziert haben. Und bei den weiteren zwölf, die schon unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert haben. Doch ein von Deutschland angeführter Widerstand ist nicht in Sicht. Nun zeigt sich: das Völkerrecht oder völkerrechtliche Verträge gelten offenbar nur in politischen Schönwetterzeiten. In ideologisch aufgeladenen Kriegszeiten sind sie das Papier nicht wert, auf dem sie niedergeschrieben wurden. Gerechtfertigt wird der Einsatz der Streubomben mit der »Verhältnismäßigkeit«: Nur so könne ein Sieg Russlands verhindert werden. Unabhängig von der Frage, ob das überhaupt stimmt – es ist kein zulässiges Argument für die Unterminierung des humanitären Völkerrechtes. Schließlich könnte so jede Kriegspartei jederzeit vorbringen, dass der eigene Sieg wichtiger ist als das Völkerrecht. Derart ließe sich am Ende auch der Einsatz von Atomwaffen rechtfertigen.
Die USA gehören wie Russland und die Ukraine zu den Ländern, die die Streubomben-Konvention nicht unterzeichnet haben. Sie »dürfen« sie also einsetzen. Doch der Rückgriff auf die knapp vier Millionen Streubomben aus US-Waffenlagern ist Ausdruck einer immer weiteren und dadurch immer zwangsläufigeren Entgrenzung des Krieges. Sie führt Schritt für Schritt in die (vielleicht sogar gewollte) Eskalation. Allein über die Militärmacht Ukraine kann der Westen seine militärtechnologische Überlegenheit gegenüber Russland offenbar nicht wie gewünscht ausspielen. Anders ausgedrückt: Allein über die Ukraine ist Russland nicht vernichtend und für immer zu schlagen. Wie und wohin muss der Krieg für den angestrebten Sieg also ausgeweitet werden?
Auf dem Nato-Gipfel in Vilnius am 11. Und 12. Juli wurde das umfassendste Maßnahmenpaket zur »Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit« der Allianz seit Ende des Kalten Krieges beschlossen. So steht es auf der Seite des Auswärtigen Amtes. Weitere Waffenlieferungen in Milliardenhöhe wurden angekündigt. Zudem wurde vereinbart, dass künftig alle 31 Nato-Mitglieder zwei Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes als Untergrenze (!) ihres Wehretats zu betrachten haben. »Bereits jetzt ist gegen Russland so viel und ständig mehr mobilisiert worden, dass sich eine Niederlage verbietet, auch wenn es zu gegebener Zeit vermutlich eine Definitionsfrage sein wird, was als Sieg oder Niederlage gedeutet wird«, schreibt Lutz Herden im Freitag.
Kleiner Einschub:
Nach einem am 14. Juli auf der Internetseite der US-Zeitung Washington Post veröffentlichten Bericht hat der ukrainische Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj Angriffe seines Landes auf russisches Staatsgebiet zugegeben. Für diese Angriffe würden im Land produzierte eigene Waffen genutzt. Weiter habe Saluschnyj gesagt: »Es ist unser Problem, und wir müssen entscheiden, wie wir den Feind töten.« Und mit Blick auf die offiziellen Auflagen der westlichen Verbündeten, mit den gelieferten Waffen nicht russisches Staatsgebiet anzugreifen: »Wenn unsere Partner Angst haben, ihre Waffen zu nutzen, dann töten wir mit unseren eigenen.«
Zurück zu den Streubomben:
Im Oslo-Übereinkommen verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten, »unter keinen Umständen jemals Streumunition einzusetzen, zu entwickeln, herzustellen, auf andere Weise zu erwerben, zu lagern, zurückzubehalten oder an irgendjemanden unmittelbar oder mittelbar weiterzugeben«. Man sei entschlossen, »das Leiden und Sterben zu beenden«, das durch Streumunition verursacht werde. Denn man sei besorgt, dass »Streumunitionsrückstände Zivilpersonen, einschließlich Frauen und Kinder, töten oder verstümmeln« könnten. 15 Jahre später sind dies für die herrschende Klasse und die sie unterstützenden Medien nichts als leere Worte. Die immer schon reichlich hohlen Phrasen von Abrüstung, Demokratie und Menschenrechten werden zunehmend abgelöst von offenen Plädoyers für die fürchterlichsten Kriegswaffen. Man darf gespannt sein, wann der Ukraine auch die schon lange geforderten Phosphorbomben geliefert werden. Oder wann Estland von Deutschland die schon seit Februar erbetene Erlaubnis erhält, die eigenen (von Deutschland hergestellten) Streubombenvorräte an die Ukraine zu schicken.