An Streit-Anlässen herrscht kein Mangel: die Auswirkungen des Klimawandels, Krieg und Flucht, die Corona-Pandemie, der russisch-ukrainische Krieg, das antisemitische Massaker der Hamas und der folgende Krieg im Gazastreifen, das Erstarken von Nationalismus und Rechtspopulismus, die Wahlergebnisse in den ostdeutschen Bundesländern – da kommt vieles zusammen.
Die Tonlage hat sich geändert. Demagogen, Populisten und Untergangs-Propheten aller Couleur erkennen und nutzen ihre Chance, die Demokratie zu schwächen. Sie zeichnen das Zerrbild einer kaputten Republik, die von Eliten okkupiert wird, und überhöhen die Probleme der Demokratie zu Identitäts- und Existenzfragen. Sie kostümieren sich als Retter des Abendlandes – und sie haben Erfolg damit.
Keine Frage: Wir leben in einer fragilen Wirklichkeit. Politiker und Parteien verlieren an Vertrauen, auch die tragenden politischen und parlamentarischen Institutionen. Wo Vertrauen aber fehlt, entsteht Enttäuschung, Rückzug und Teilnahmslosigkeit. Kein guter Zustand, denn unsere Demokratie lebt auch von der Hoffnung, dass Dinge besser werden. Der Verlust von Zukunftsglauben ist ein Problem für die Demokratie.
Demokratie braucht Widerspruch und Disput. Streit – gleich ob in den Höhenlagen der Politik oder den Niederungen des Alltags – ist der Sauerstoff unserer Demokratie. Er ist gewissermaßen »system-relevant«. Oder wie Helmut Schmidt dereinst festgestellte: »Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine.« Kurzum: Wir sollten den Streit wertschätzen.
Wie aber sieht es aus mit der allseits geforderten »Streit-Kultur« im Land? Haben wir verlernt, uns gepflegt zu streiten? Ist die Debattenkultur in Deutschland »verkümmert«, wie die Süddeutsche Zeitung feststellt? Kann man seine Meinung wirklich nicht mehr öffentlich äußern, ohne fürchten zu müssen, Opfer von Hatespeech-Attacken und Shitstorms in sozialen Medien zu werden? Tatsächlich gerät schnell in Verdacht, ein nervender Streithansl oder eine narzisstische Querulantin zu sein, wer gegen allgemein-verträgliche Sichtweisen opponiert, auf seine eigene Meinung beharrt, um seinem Gegenüber zu sagen: Das sehe ich völlig anders! Allzu eigensinniges Denken gilt als Normenverstoß. Die Herrschaft des Gleichen schätzt keine Aufmüpfigkeit.
Dabei ist das Beharren auf die eigene Sichtweise nicht nur hilfreich, sondern Voraussetzung für einen konstruktiven Streit. Wankelmütigkeit und allzu große Flatterhaftigkeit in Bezug auf den eigenen Standpunkt verhindern eher einen guten Streitverlauf. Das Aufeinandertreffen von Meinungen, Haltungen und Positionen sollten wir nicht als Störung, sondern als demokratie-stärkenden Interaktion wertschätzen.
Streiten will also gelernt und geübt sein. »Wer streiten kann, setzt sich mit Andersdenkenden auseinander«, konstatiert die Berliner Philosophin Svenja Flaßpöhler, denn: »nur wo wir den Streit erlauben und ermöglichen, kann sich Demokratie beweisen«. Damit ein Streit jedoch nicht eskaliert und die streitenden Parteien unwiederbringlich auseinandertreibt, müssen »die Bindungskräfte mächtiger sein als der Vernichtungsrang«, nur so kann das Streiten eine konstruktive Richtung nehmen, so Flaßpöhler. (in: Streiten, Hanser Verlag). Mit Genugtuung dürfen wir festhalten, dass ein guter Streit eine zivilisatorische Leistung ist, die unsere Demokratie hervorgebracht hat – und weiterhin voranbringt. Es wird nicht zu viel gestritten im Land, allenfalls schlecht, zu schrill, zu dumm, zu vulgär.
Ich bin in Frankfurt am Main aufgewachsen und politisch sozialisiert worden. In Frankfurt wurde und wird immer gestritten. Engagiert und leidenschaftlich. Laut und zornig. Intensiv und kreativ. Rau und militant. An Anlässen herrschte kein Mangel: gegen Startbahn-West, für bezahlbaren Wohnraum, für und gegen eine neue Altstadt, für eine andere Verkehrspolitik, gegen einen völlig überforderten Oberbürgermeister, der für alle eine Zumutung war. Die Frankfurter Bürgergesellschaft hat ihn abgewählt.
Streit gehörte und gehört zum Sound der Stadt. Und das ist gut so. Dissens, Aufbegehren, Widerstand sind keine Untugenden in einer freien Gesellschaft, sondern deren Grundlage. Streit ist konstitutiv für die Demokratie – auf allen Ebenen: privat, kollektiv, institutionell. Nur durch ständige öffentliche Debatte können wir die unterschiedlichen Interessen erfolgreich koordinieren. Nur im Streit klären wir, was uns als Gesellschaft wichtig ist, welche Werte wir vertreten wollen und welche politischen Entscheidungen wir als Gesellschaft zu tragen bereit sind. Am Ende aber steht der Kompromiss. Er darf nicht der Anfangspunkt einer streitbaren Diskussion sein, sondern deren Endpunkt.
Freilich, nicht jeder Streit ist anregend, erhellend und klug. Vor allem auf digitalen Plattformen wird beleidigt, gepöbelt, denunziert und erniedrigt. Von links und von rechts – und auch aus der sogenannten schweigenden Mitte. Ein mitunter schwer erträglicher rechtsfreier Echoraum, in dem Hass-Tiraden als freie Meinungsäußerung reklamiert werden. Auch in TV-Talkshow-Politrunden ist man gern auf Radau aus. Schon die Auswahl des Teilnehmerkreises folgt dieser Dramaturgie. Hier scheinen differenzierte Positionen weniger gefragt zu sein als laute Diskurs-Trompeten, die ihren Standpunkt möglichst schrill vorstellen. Der Volksmund sagt – möglicherweise aus gutem Grund: »Wer schreit, hat unrecht.« Wobei wir ebenfalls wissen: Auch im leisen, sanften Ton versteckt sich oft die gemeine Lüge, die rhetorische Falschmünzerei, die bornierte Besserwisserei …
Wie und wodurch aber kann ein produktiver, ein erkenntnisreicher, guter Streit entstehen? Das Formulieren der eigenen Position, der Haltung, der These, des Gedankens, also das Deutlichmachen, wofür man steht, ist der erste Schritt eines produktiven Streits. Wenn alle Beteiligten den gleichen Raum und die gleiche Aufmerksamkeit bekommen, dann kann ein guter Streit beginnen.
Hierzulande gilt der oft beschworene »Grundkonsens der Demokraten« als das stabilisierende Fundament der Nachkriegsrepublik. Statt Streit und Debatte wünscht man sich Kompromiss und Konsens. Aber Vorsicht: Zuviel – vor allem zu leicht und schnell erreichter – Konsens begünstigt schalen Opportunismus, er belohnt Kritiklosigkeit, er bedroht die Individualisierung des Denkens. Nichts aber ist schlimmer und demokratiefeindlicher als Denken im Gleichschritt. Verteidigen wir also die engagierte Gegenrede und die lebhafte Streiterei – jederzeit und allerorten, auch wenn es mitunter nervend und anstrengend ist. Und wenn wir danach sagen, es war gut, dass wir uns gestritten haben, auch wenn wir den anderen nicht überzeugen konnten, dann hat es sich gelohnt. Nicht nur für uns.
In Kürze erscheint: Helmut Ortner: HEIMATKUNDE. Politische Essays, Edition Faust, 208 S., 22 €.