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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Streit ist »systemrelevant«!

An Streit-Anläs­sen herrscht kein Man­gel: die Aus­wir­kun­gen des Kli­ma­wan­dels, Krieg und Flucht, die Coro­na-Pan­de­mie, der rus­sisch-ukrai­ni­sche Krieg, das anti­se­mi­ti­sche Mas­sa­ker der Hamas und der fol­gen­de Krieg im Gaza­strei­fen, das Erstar­ken von Natio­na­lis­mus und Rechts­po­pu­lis­mus, die Wahl­er­geb­nis­se in den ost­deut­schen Bun­des­län­dern – da kommt vie­les zusammen.

Die Ton­la­ge hat sich geän­dert. Dem­ago­gen, Popu­li­sten und Unter­gangs-Pro­phe­ten aller Cou­leur erken­nen und nut­zen ihre Chan­ce, die Demo­kra­tie zu schwä­chen. Sie zeich­nen das Zerr­bild einer kaput­ten Repu­blik, die von Eli­ten okku­piert wird, und über­hö­hen die Pro­ble­me der Demo­kra­tie zu Iden­ti­täts- und Exi­stenz­fra­gen. Sie kostü­mie­ren sich als Ret­ter des Abend­lan­des – und sie haben Erfolg damit.

Kei­ne Fra­ge: Wir leben in einer fra­gi­len Wirk­lich­keit. Poli­ti­ker und Par­tei­en ver­lie­ren an Ver­trau­en, auch die tra­gen­den poli­ti­schen und par­la­men­ta­ri­schen Insti­tu­tio­nen. Wo Ver­trau­en aber fehlt, ent­steht Ent­täu­schung, Rück­zug und Teil­nahms­lo­sig­keit. Kein guter Zustand, denn unse­re Demo­kra­tie lebt auch von der Hoff­nung, dass Din­ge bes­ser wer­den. Der Ver­lust von Zukunfts­glau­ben ist ein Pro­blem für die Demokratie.

Demo­kra­tie braucht Wider­spruch und Dis­put. Streit – gleich ob in den Höhen­la­gen der Poli­tik oder den Nie­de­run­gen des All­tags – ist der Sau­er­stoff unse­rer Demo­kra­tie. Er ist gewis­ser­ma­ßen »system-rele­vant«. Oder wie Hel­mut Schmidt der­einst fest­ge­stell­te: »Eine Demo­kra­tie, in der nicht gestrit­ten wird, ist kei­ne.« Kurz­um: Wir soll­ten den Streit wertschätzen.

Wie aber sieht es aus mit der all­seits gefor­der­ten »Streit-Kul­tur« im Land? Haben wir ver­lernt, uns gepflegt zu strei­ten? Ist die Debat­ten­kul­tur in Deutsch­land »ver­küm­mert«, wie die Süd­deut­sche Zei­tung fest­stellt? Kann man sei­ne Mei­nung wirk­lich nicht mehr öffent­lich äußern, ohne fürch­ten zu müs­sen, Opfer von Hate­speech-Attacken und Shits­torms in sozia­len Medi­en zu wer­den? Tat­säch­lich gerät schnell in Ver­dacht, ein ner­ven­der Streit­hansl oder eine nar­ziss­ti­sche Que­ru­lan­tin zu sein, wer gegen all­ge­mein-ver­träg­li­che Sicht­wei­sen oppo­niert, auf sei­ne eige­ne Mei­nung beharrt, um sei­nem Gegen­über zu sagen: Das sehe ich völ­lig anders! All­zu eigen­sin­ni­ges Den­ken gilt als Nor­men­ver­stoß. Die Herr­schaft des Glei­chen schätzt kei­ne Aufmüpfigkeit.

Dabei ist das Behar­ren auf die eige­ne Sicht­wei­se nicht nur hilf­reich, son­dern Vor­aus­set­zung für einen kon­struk­ti­ven Streit. Wan­kel­mü­tig­keit und all­zu gro­ße Flat­ter­haf­tig­keit in Bezug auf den eige­nen Stand­punkt ver­hin­dern eher einen guten Streit­ver­lauf. Das Auf­ein­an­der­tref­fen von Mei­nun­gen, Hal­tun­gen und Posi­tio­nen soll­ten wir nicht als Stö­rung, son­dern als demo­kra­tie-stär­ken­den Inter­ak­ti­on wertschätzen.

Strei­ten will also gelernt und geübt sein. »Wer strei­ten kann, setzt sich mit Anders­den­ken­den aus­ein­an­der«, kon­sta­tiert die Ber­li­ner Phi­lo­so­phin Sven­ja Flaß­pöh­ler, denn: »nur wo wir den Streit erlau­ben und ermög­li­chen, kann sich Demo­kra­tie bewei­sen«. Damit ein Streit jedoch nicht eska­liert und die strei­ten­den Par­tei­en unwie­der­bring­lich aus­ein­an­der­treibt, müs­sen »die Bin­dungs­kräf­te mäch­ti­ger sein als der Ver­nich­tungs­rang«, nur so kann das Strei­ten eine kon­struk­ti­ve Rich­tung neh­men, so Flaß­pöh­ler. (in: Strei­ten, Han­ser Ver­lag). Mit Genug­tu­ung dür­fen wir fest­hal­ten, dass ein guter Streit eine zivi­li­sa­to­ri­sche Lei­stung ist, die unse­re Demo­kra­tie her­vor­ge­bracht hat – und wei­ter­hin vor­an­bringt. Es wird nicht zu viel gestrit­ten im Land, allen­falls schlecht, zu schrill, zu dumm, zu vulgär.

Ich bin in Frank­furt am Main auf­ge­wach­sen und poli­tisch sozia­li­siert wor­den. In Frank­furt wur­de und wird immer gestrit­ten. Enga­giert und lei­den­schaft­lich. Laut und zor­nig. Inten­siv und krea­tiv. Rau und mili­tant. An Anläs­sen herrsch­te kein Man­gel: gegen Start­bahn-West, für bezahl­ba­ren Wohn­raum, für und gegen eine neue Alt­stadt, für eine ande­re Ver­kehrs­po­li­tik, gegen einen völ­lig über­for­der­ten Ober­bür­ger­mei­ster, der für alle eine Zumu­tung war. Die Frank­fur­ter Bür­ger­ge­sell­schaft hat ihn abgewählt.

Streit gehör­te und gehört zum Sound der Stadt. Und das ist gut so. Dis­sens, Auf­be­geh­ren, Wider­stand sind kei­ne Untu­gen­den in einer frei­en Gesell­schaft, son­dern deren Grund­la­ge. Streit ist kon­sti­tu­tiv für die Demo­kra­tie – auf allen Ebe­nen: pri­vat, kol­lek­tiv, insti­tu­tio­nell. Nur durch stän­di­ge öffent­li­che Debat­te kön­nen wir die unter­schied­li­chen Inter­es­sen erfolg­reich koor­di­nie­ren. Nur im Streit klä­ren wir, was uns als Gesell­schaft wich­tig ist, wel­che Wer­te wir ver­tre­ten wol­len und wel­che poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen wir als Gesell­schaft zu tra­gen bereit sind. Am Ende aber steht der Kom­pro­miss. Er darf nicht der Anfangs­punkt einer streit­ba­ren Dis­kus­si­on sein, son­dern deren Endpunkt.

Frei­lich, nicht jeder Streit ist anre­gend, erhel­lend und klug. Vor allem auf digi­ta­len Platt­for­men wird belei­digt, gepö­belt, denun­ziert und ernied­rigt. Von links und von rechts – und auch aus der soge­nann­ten schwei­gen­den Mit­te. Ein mit­un­ter schwer erträg­li­cher rechts­frei­er Echo­raum, in dem Hass-Tira­den als freie Mei­nungs­äu­ße­rung rekla­miert wer­den. Auch in TV-Talk­show-Polit­run­den ist man gern auf Radau aus. Schon die Aus­wahl des Teil­neh­mer­krei­ses folgt die­ser Dra­ma­tur­gie. Hier schei­nen dif­fe­ren­zier­te Posi­tio­nen weni­ger gefragt zu sein als lau­te Dis­kurs-Trom­pe­ten, die ihren Stand­punkt mög­lichst schrill vor­stel­len. Der Volks­mund sagt – mög­li­cher­wei­se aus gutem Grund: »Wer schreit, hat unrecht.« Wobei wir eben­falls wis­sen: Auch im lei­sen, sanf­ten Ton ver­steckt sich oft die gemei­ne Lüge, die rhe­to­ri­sche Falsch­mün­ze­rei, die bor­nier­te Besserwisserei …

Wie und wodurch aber kann ein pro­duk­ti­ver, ein erkennt­nis­rei­cher, guter Streit ent­ste­hen? Das For­mu­lie­ren der eige­nen Posi­ti­on, der Hal­tung, der The­se, des Gedan­kens, also das Deut­lich­ma­chen, wofür man steht, ist der erste Schritt eines pro­duk­ti­ven Streits. Wenn alle Betei­lig­ten den glei­chen Raum und die glei­che Auf­merk­sam­keit bekom­men, dann kann ein guter Streit beginnen.

Hier­zu­lan­de gilt der oft beschwo­re­ne »Grund­kon­sens der Demo­kra­ten« als das sta­bi­li­sie­ren­de Fun­da­ment der Nach­kriegs­re­pu­blik. Statt Streit und Debat­te wünscht man sich Kom­pro­miss und Kon­sens. Aber Vor­sicht: Zuviel – vor allem zu leicht und schnell erreich­ter – Kon­sens begün­stigt scha­len Oppor­tu­nis­mus, er belohnt Kri­tik­lo­sig­keit, er bedroht die Indi­vi­dua­li­sie­rung des Den­kens. Nichts aber ist schlim­mer und demo­kra­tie­feind­li­cher als Den­ken im Gleich­schritt. Ver­tei­di­gen wir also die enga­gier­te Gegen­re­de und die leb­haf­te Strei­te­rei – jeder­zeit und aller­or­ten, auch wenn es mit­un­ter ner­vend und anstren­gend ist. Und wenn wir danach sagen, es war gut, dass wir uns gestrit­ten haben, auch wenn wir den ande­ren nicht über­zeu­gen konn­ten, dann hat es sich gelohnt. Nicht nur für uns.

 In Kür­ze erscheint: Hel­mut Ort­ner: HEIMATKUNDE. Poli­ti­sche Essays, Edi­ti­on Faust, 208 S., 22 €.