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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Streik oder stirb

For­bach liegt in Ost­frank­reich, nahe der deut­schen Gren­ze, eini­ge Kilo­me­ter von Saar­brücken ent­fernt. Es hat 21.000 Ein­woh­ner, die Arbeits­lo­sig­keit liegt bei 10,8 Pro­zent. Bis 1997 war die HBL (Hou­il­lè­res du Bas­sin de Lor­raine) Haupt­ar­beit­ge­ber des Koh­le­re­viers. Als im Novem­ber 1995 in ganz Frank­reich gegen die Ren­ten­re­form der Regie­rung Jup­pé gestreikt wur­de, ging es in For­bach auch um die geplan­te Schlie­ßung der Gru­ben. Es waren hef­ti­ge Kämp­fe, bei denen die Poli­zei zum ersten Mal Trä­nen­gas­gra­na­ten auch von einem Hub­schrau­ber ver­schoss, die Strei­ken­den zün­de­ten die Unter­prä­fek­tur an. Die Minen wur­den zwar 1997 geschlos­sen, aber die Arbei­ter konn­ten eine Lohn­fort­zah­lung von 80 Pro­zent bis zur Ren­te aus­han­deln. 25 Jah­re spä­ter wehrt man sich wie­der in ganz Frank­reich gegen eine Ren­ten­re­form, die für die Lohn­ab­hän­gi­gen vie­le Nach­tei­le mit sich bringt. For­bach gehört inzwi­schen zum deindu­stria­li­sier­ten Nord­osten des Lan­des, die Per­spek­tiv­lo­sig­keit treibt vie­le zum Ras­sem­blem­ent Natio­nal (RN), ehe­mals Front Natio­nal (FN). 2014 kan­di­dier­te Flo­ri­an Phil­ip­pot, damals Stell­ver­tre­ter von Mari­ne Le Pen, dort für das Amt des Bür­ger­mei­sters. Er ver­lor die Wahl, bekam aber immer­hin 35 Pro­zent der Stim­men. Die ehe­ma­li­ge Nr. 2 des Front Natio­nal hat inzwi­schen eine eige­ne Par­tei gegrün­det, für die Kom­mu­nal­wahl im März bewirbt sich nun erneut ein Le Pen-Getreuer.

In Rah­men der dies­jäh­ri­gen Ber­li­na­le lief im Forum-Pro­gramm der Bei­trag des For­ba­cher Fil­me­ma­chers Jona­than Resci­g­no »Grè­ve ou Crè­ve« (Streik oder stirb), ein sehr per­sön­li­ches Por­trait sei­ner Hei­mat­stadt. Die gro­ßen Streiks der 90er Jah­re hat er noch als Kind erlebt, sein Vater ist – wie vie­le Berg­ar­bei­ter – Sohn von Arbeits­im­mi­gran­ten aus Süd­ita­li­en. Der Film lässt die fast ver­ges­se­nen Ereig­nis­se von damals wie­der auf­le­ben, teils durch die Erzäh­lun­gen der inzwi­schen in die Jah­re gekom­me­nen Kum­pel, teils durch alte Fil­me, wel­che die Bru­ta­li­tät der Kämp­fe doku­men­tie­ren. Par­al­lel dazu wird die neue Ein­wan­de­rer­ge­nera­ti­on gezeigt, Jugend­li­che, deren Eltern aus Nord­afri­ka stam­men. Sie machen sich kaum noch Illu­sio­nen über einen siche­ren Arbeits­platz und träu­men eher von Unab­hän­gig­keit und einem eige­nen Unter­neh­men, als Trä­ger ara­bi­scher Namen haben sie es bei Bewer­bun­gen schwer. Joseph, ehe­ma­li­ger Berg­ar­bei­ter und Pro­fi­bo­xer, bringt den jun­gen Leu­ten das Boxen und das nöti­ge Selbst­be­wusst­sein bei. Der Klas­sen­kampf ist nicht mehr so über­schau­bar wie in den 90er Jah­ren des letz­ten Jahr­hun­derts, hier geht es um Gewichts­klas­sen und Körperbeherrschung.

Ich spre­che mit Lou­is Resci­g­no, dem Vater des Regis­seurs. Seit zwei Mona­ten ist er Rent­ner. »Ich kann mich nicht bekla­gen, ich habe eine gute Ren­te. Aber die Jun­gen, die wer­den das nicht mehr haben, wenn Macron durch­kommt mit sei­ner Reform.«

Die Regie­rung ver­sucht, die Streik­front mit allen Mit­teln auf­zu­wei­chen. Tra­di­tio­nell sind der har­te Kern der Streik­be­we­gung die »che­mi­nots«, Eisen­bah­ner der staat­li­chen Bahn­ge­sell­schaft SNCF. Seit Mit­te Janu­ar wird kaum noch gestreikt, den Strei­ken­den fehlt schlicht der nicht gezahl­te Lohn, Streik­kas­sen wie in Deutsch­land gibt es kaum, fast alles läuft über Spen­den. Für die Eisen­bah­ner war es der bis­her läng­ste Streik, er begann am 5. Dezem­ber 2019. Die SNCF betreibt Klas­sen­kampf von oben und zahlt allen, die sich nicht am Arbeits­kampf betei­li­gen, zum Gehalt für Janu­ar eine Prä­mie zwi­schen 300 und 1500 Euro. In der Bevöl­ke­rung ist die Unter­stüt­zung für die For­de­rung der Strei­ken­den immer noch stark. Fast 70 Pro­zent der Fran­zo­sen glau­ben nicht an die Ver­spre­chen der Regie­rung, dass die neue Ren­te gerech­ter sei, und befürch­ten Nachteile.

Die­se »retrai­te à points« (Ren­te nach Punk­te­sy­stem) nimmt das gesam­te Lebens­ein­kom­men als Grund­la­ge für die Berech­nung. Das benach­tei­ligt vor allem die­je­ni­gen, die in Teil­zeit arbei­ten, län­ger arbeits­los oder im Nied­rig­lohn­sek­tor tätig sind, was vor allem für Frau­en zutrifft. Bis­her zähl­ten die 25 besten Bei­trags­jah­re im Pri­vat­sek­tor oder die sechs letz­ten Mona­te im öffent­li­chen Dienst. Auch Vor­ru­he­stands­re­ge­lun­gen für beson­ders bela­sten­de Tätig­kei­ten sol­len gro­ßen­teils weg­fal­len. Die Höhe der Ren­ten­punk­te liegt allein bei der Regie­rung und soll von poli­ti­schen, wirt­schaft­li­chen und demo­gra­phi­schen Fak­to­ren abhän­gen. Die drei gro­ßen Gewerk­schaf­ten ver­fol­gen unter­schied­li­che Zie­le. Wäh­rend die CFDT (Con­fé­dé­ra­ti­on fran­çai­se démo­cra­tique du tra­vail) eine Art Sozi­al­part­ner­schaft nach dem deut­schen DGB-Modell ver­tritt und mit der Regie­rung Kom­pro­mis­se schlie­ßen will, ist die ehe­mals kom­mu­ni­sti­sche CGT (Con­fé­dé­ra­ti­on Géné­ra­le du Tra­vail) kon­se­quen­ter und for­dert den Ren­ten­be­ginn ab 60 Jah­ren, eine Ren­te von 75 Pro­zent vom Net­to­ein­kom­men (bezo­gen auf die besten zehn Jah­re oder die letz­ten sechs Mona­te) und einen Min­dest­lohn von 1800 Euro. Vor allem das Aus­spie­len der Jun­gen gegen die Alten will man nicht mit­ma­chen. Die Gewerk­schaft rech­net vor: Wer 1961 gebo­ren ist, bekommt 73 Pro­zent des letz­ten Gehalts, wer dage­gen erst 1990 das Licht der Welt erblick­te, bekommt nur 56 Pro­zent. Auch das oft bemüh­te Argu­ment, dass kein Geld da sei, wird wider­legt: Im letz­ten Jahr schüt­te­ten die CAC40-Unter­neh­men (ver­gleich­bar mit den Dax-Unter­neh­men) die Rekord­sum­me von 60 Mil­li­ar­den Euro an ihre Aktio­nä­re aus.

Die Regie­rung spielt auf Zeit und ver­sucht, die Streik­front zu spal­ten. Eini­ge Berufs­grup­pen wur­den von der Reform aus­ge­nom­men, nicht zuletzt jene, die für das Funk­tio­nie­ren des Staa­tes wich­tig sind: das Mili­tär, die Feu­er­wehr, die Poli­zei, die Leh­rer, aber auch Pilo­ten, Flug­lot­sen, Lkw-Chauf­feu­re, Fischer und sogar die Bal­lett­tän­ze­rin­nen der Opé­ra de Paris. Auch eine Grup­pe, die sonst eher nicht für Streiks bekannt ist, kann auf Zuge­ständ­nis­se hof­fen: die Anwäl­te, wel­che zur­zeit die fran­zö­si­schen Gerich­te lahm­le­gen. Bis Mit­te März will die Regie­rung die Ren­ten­re­form unbe­dingt ver­ab­schie­det haben, um bei den dann anste­hen­den Kom­mu­nal­wah­len Ruhe zu haben. Dies wol­len die Oppo­si­ti­ons­par­tei­en, vor allem die lin­ke LFI (La France inso­u­mi­se) durch tau­sen­de von Ände­rungs­an­trä­gen verhindern.

Am ersten Janu­ar 2020 ernann­te Prä­si­dent Macron Jean-Fran­çois Cirel­li fei­er­lich zum Offi­zier der Ehren­le­gi­on. Cirel­li ist der fran­zö­si­sche Merz, Chef der fran­zö­si­schen Toch­ter der US-Fonds­ge­sell­schaft Black­Rock. Er hat­te schon unter Sar­ko­zy den Pre­mier­mi­ni­ster Fran­çois Fil­lon in Sachen Ren­ten­re­form bera­ten, bevor er Prä­si­dent der frisch pri­va­ti­sier­ten Gesell­schaft »Gaz de France« (nun­mehr »Engie«) wur­de. Es ist kein Geheim­nis, dass die US-Gesell­schaft gro­ßes Inter­es­se dar­an hat, das fran­zö­si­sche Ren­ten­sy­stem für Kapi­tal­fonds zu öff­nen. Wie bei der Ren­ten­re­form ist man neben­an in Deutsch­land schon viel wei­ter: Hier könn­te der Black­Rock-Ver­tre­ter dem­nächst sogar Chef der Regie­rungs­par­tei werden.