Forbach liegt in Ostfrankreich, nahe der deutschen Grenze, einige Kilometer von Saarbrücken entfernt. Es hat 21.000 Einwohner, die Arbeitslosigkeit liegt bei 10,8 Prozent. Bis 1997 war die HBL (Houillères du Bassin de Lorraine) Hauptarbeitgeber des Kohlereviers. Als im November 1995 in ganz Frankreich gegen die Rentenreform der Regierung Juppé gestreikt wurde, ging es in Forbach auch um die geplante Schließung der Gruben. Es waren heftige Kämpfe, bei denen die Polizei zum ersten Mal Tränengasgranaten auch von einem Hubschrauber verschoss, die Streikenden zündeten die Unterpräfektur an. Die Minen wurden zwar 1997 geschlossen, aber die Arbeiter konnten eine Lohnfortzahlung von 80 Prozent bis zur Rente aushandeln. 25 Jahre später wehrt man sich wieder in ganz Frankreich gegen eine Rentenreform, die für die Lohnabhängigen viele Nachteile mit sich bringt. Forbach gehört inzwischen zum deindustrialisierten Nordosten des Landes, die Perspektivlosigkeit treibt viele zum Rassemblement National (RN), ehemals Front National (FN). 2014 kandidierte Florian Philippot, damals Stellvertreter von Marine Le Pen, dort für das Amt des Bürgermeisters. Er verlor die Wahl, bekam aber immerhin 35 Prozent der Stimmen. Die ehemalige Nr. 2 des Front National hat inzwischen eine eigene Partei gegründet, für die Kommunalwahl im März bewirbt sich nun erneut ein Le Pen-Getreuer.
In Rahmen der diesjährigen Berlinale lief im Forum-Programm der Beitrag des Forbacher Filmemachers Jonathan Rescigno »Grève ou Crève« (Streik oder stirb), ein sehr persönliches Portrait seiner Heimatstadt. Die großen Streiks der 90er Jahre hat er noch als Kind erlebt, sein Vater ist – wie viele Bergarbeiter – Sohn von Arbeitsimmigranten aus Süditalien. Der Film lässt die fast vergessenen Ereignisse von damals wieder aufleben, teils durch die Erzählungen der inzwischen in die Jahre gekommenen Kumpel, teils durch alte Filme, welche die Brutalität der Kämpfe dokumentieren. Parallel dazu wird die neue Einwanderergeneration gezeigt, Jugendliche, deren Eltern aus Nordafrika stammen. Sie machen sich kaum noch Illusionen über einen sicheren Arbeitsplatz und träumen eher von Unabhängigkeit und einem eigenen Unternehmen, als Träger arabischer Namen haben sie es bei Bewerbungen schwer. Joseph, ehemaliger Bergarbeiter und Profiboxer, bringt den jungen Leuten das Boxen und das nötige Selbstbewusstsein bei. Der Klassenkampf ist nicht mehr so überschaubar wie in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts, hier geht es um Gewichtsklassen und Körperbeherrschung.
Ich spreche mit Louis Rescigno, dem Vater des Regisseurs. Seit zwei Monaten ist er Rentner. »Ich kann mich nicht beklagen, ich habe eine gute Rente. Aber die Jungen, die werden das nicht mehr haben, wenn Macron durchkommt mit seiner Reform.«
Die Regierung versucht, die Streikfront mit allen Mitteln aufzuweichen. Traditionell sind der harte Kern der Streikbewegung die »cheminots«, Eisenbahner der staatlichen Bahngesellschaft SNCF. Seit Mitte Januar wird kaum noch gestreikt, den Streikenden fehlt schlicht der nicht gezahlte Lohn, Streikkassen wie in Deutschland gibt es kaum, fast alles läuft über Spenden. Für die Eisenbahner war es der bisher längste Streik, er begann am 5. Dezember 2019. Die SNCF betreibt Klassenkampf von oben und zahlt allen, die sich nicht am Arbeitskampf beteiligen, zum Gehalt für Januar eine Prämie zwischen 300 und 1500 Euro. In der Bevölkerung ist die Unterstützung für die Forderung der Streikenden immer noch stark. Fast 70 Prozent der Franzosen glauben nicht an die Versprechen der Regierung, dass die neue Rente gerechter sei, und befürchten Nachteile.
Diese »retraite à points« (Rente nach Punktesystem) nimmt das gesamte Lebenseinkommen als Grundlage für die Berechnung. Das benachteiligt vor allem diejenigen, die in Teilzeit arbeiten, länger arbeitslos oder im Niedriglohnsektor tätig sind, was vor allem für Frauen zutrifft. Bisher zählten die 25 besten Beitragsjahre im Privatsektor oder die sechs letzten Monate im öffentlichen Dienst. Auch Vorruhestandsregelungen für besonders belastende Tätigkeiten sollen großenteils wegfallen. Die Höhe der Rentenpunkte liegt allein bei der Regierung und soll von politischen, wirtschaftlichen und demographischen Faktoren abhängen. Die drei großen Gewerkschaften verfolgen unterschiedliche Ziele. Während die CFDT (Confédération française démocratique du travail) eine Art Sozialpartnerschaft nach dem deutschen DGB-Modell vertritt und mit der Regierung Kompromisse schließen will, ist die ehemals kommunistische CGT (Confédération Générale du Travail) konsequenter und fordert den Rentenbeginn ab 60 Jahren, eine Rente von 75 Prozent vom Nettoeinkommen (bezogen auf die besten zehn Jahre oder die letzten sechs Monate) und einen Mindestlohn von 1800 Euro. Vor allem das Ausspielen der Jungen gegen die Alten will man nicht mitmachen. Die Gewerkschaft rechnet vor: Wer 1961 geboren ist, bekommt 73 Prozent des letzten Gehalts, wer dagegen erst 1990 das Licht der Welt erblickte, bekommt nur 56 Prozent. Auch das oft bemühte Argument, dass kein Geld da sei, wird widerlegt: Im letzten Jahr schütteten die CAC40-Unternehmen (vergleichbar mit den Dax-Unternehmen) die Rekordsumme von 60 Milliarden Euro an ihre Aktionäre aus.
Die Regierung spielt auf Zeit und versucht, die Streikfront zu spalten. Einige Berufsgruppen wurden von der Reform ausgenommen, nicht zuletzt jene, die für das Funktionieren des Staates wichtig sind: das Militär, die Feuerwehr, die Polizei, die Lehrer, aber auch Piloten, Fluglotsen, Lkw-Chauffeure, Fischer und sogar die Balletttänzerinnen der Opéra de Paris. Auch eine Gruppe, die sonst eher nicht für Streiks bekannt ist, kann auf Zugeständnisse hoffen: die Anwälte, welche zurzeit die französischen Gerichte lahmlegen. Bis Mitte März will die Regierung die Rentenreform unbedingt verabschiedet haben, um bei den dann anstehenden Kommunalwahlen Ruhe zu haben. Dies wollen die Oppositionsparteien, vor allem die linke LFI (La France insoumise) durch tausende von Änderungsanträgen verhindern.
Am ersten Januar 2020 ernannte Präsident Macron Jean-François Cirelli feierlich zum Offizier der Ehrenlegion. Cirelli ist der französische Merz, Chef der französischen Tochter der US-Fondsgesellschaft BlackRock. Er hatte schon unter Sarkozy den Premierminister François Fillon in Sachen Rentenreform beraten, bevor er Präsident der frisch privatisierten Gesellschaft »Gaz de France« (nunmehr »Engie«) wurde. Es ist kein Geheimnis, dass die US-Gesellschaft großes Interesse daran hat, das französische Rentensystem für Kapitalfonds zu öffnen. Wie bei der Rentenreform ist man nebenan in Deutschland schon viel weiter: Hier könnte der BlackRock-Vertreter demnächst sogar Chef der Regierungspartei werden.