Was Nathan Stramer, eine der vielen Hauptfiguren (es ist eine große Familie!) in Mikołaj Łozińskis Roman gelingt, das ist die »Erzeugung« einer großen Familie mit Rywka, die er so liebte, dass er Amerika und seinen Bruder verließ und ins südpolnische Tarnów zurückkehrte. Dort lebt er, da seine geschäftlichen Unternehmungen sämtlich scheitern, mit Frau Rywka und sechs Kindern (vier Söhne und zwei Töchter) in recht bescheidenen Verhältnissen. Amerika und seine angeblichen Aufstiegsmöglichkeiten bleiben, zelebriert mit englischen Sprachbrocken, sein Wunschbild, unerreichbar fern. Daran können auch die hin und wieder in Briefen eintreffenden Dollarnoten nichts ändern.
Eindrückliche Bekanntschaft dürfen seine Söhne mit dem Land und seinen Produkten schließen, in Gestalt eines robust gearbeiteten Ledergürtels, mit dem sie von Nathan verdroschen werden. Es kommt der Leibriemen wie ein Leitmotiv, dauernd vor, zu oft, und als er am Ende in noch grausigerer Funktion auftaucht, ist man beinahe in der Gefahr des Überlesens. Diese droht auch an anderen Stellen, weil der Text dann und wann ausufert, mit Nebensächlichkeiten, wie nacherzählten Träumen etwa. Zuweilen kann man sich, besonders im letzten Drittel des Romans, des Gefühls nicht erwehren, etwas aus zweiter Hand Erzähltes zu lesen. Um es genau zu sagen: Besonders die Episoden, die den Spanischen Bürgerkrieg betreffen, wirken so.
Im Ganzen aber ist es ein solide erzählter Roman, der eine Welt vor einem entstehen lässt, die man vielleicht aus einigen Büchern Joseph Roths kennt. Es ist die jüdische Welt Galiziens. Hier wird aber deren Geschichte bis zur Auslöschung durch die Deutschen erzählt. Eine der ergreifendsten Passagen lautet: »Und der Rabbi wiederholte jeden Freitag, dass Hitler – wie alles andere – nur ein Werkzeug in den Händen des Allmächtigen sei. Es würde genügen, dass er pustete, und schon gäbe es keinen Hitler mehr. Was muss noch passieren, damit er pustet, dachte Rywka.« Dies denkt sie, weil im Ghetto Gerüchte umgehen, dass es liquidiert werde. Rywka ist eine sehr sorgfältig gearbeitete Figur, eine Frauengestalt, die sich einprägt. Sie ist ihrem nicht immer leicht zu ertragenden Ehemann in fester Liebe treu verbunden und ihren Kindern eine zärtliche, verständnisvolle, hingebungsvolle Mutter. Was fast den Kitsch zu streifen scheint.
Mikołaj Łoziński hat das Leben dieser Frau mitfühlend und doch sachlich gestaltet – das ist große Romankunst. Łoziński hat den Text so gestaltet, dass es zusätzlich zur Kapiteleinteilung von den Figurennamen überschriebene Unterkapitel gibt. So erhalten die Figuren gewissermaßen eine Stimme, ihre Biografien können, wo es nötig ist, auch nachholend erzählt werden. Dem Autor konnte es wohl nur so gelingen, den überfließenden Stoff in eine Form zu bringen. Denn im Grunde wären Nathans, Rywkas, Rudeks, Saleks, Nuseks, Hesios, Welas und Renas Lebensläufe je einen eigenen Roman wert.
So entsteht ein in großen Teilen mitreißendes Panorama jüdischen Lebens in Polen zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Einmarsch der Wehrmacht und dem Beginn des Holocaust. Dass die vergnüglichen, bedenklichen, tragischen und komischen Lebensepisoden und Liebesabenteuer der Stramers auch eine instruktive Geschichtslektion sind, sei nur nebenbei erwähnt. Aber sie sind es, weil man viel erfährt über das Leben jüdischer Menschen im Polen des Marschalls Piłsudski und den in jenen Jahren immer mehr zunehmenden Antisemitismus. Nicht minder interessant ist es zu erfahren, welche Faszination der Kommunismus in der nicht weit entfernten Sowjetunion für junge Menschen in Tarnów und Umgebung hatte. So werden während einer Haussuchung bei Stramers unter anderem »drei Nummern der Zeitschrift Genosse, die Bücher mit den Titeln Straßenkämpfe und das ABC des Leninismus« beschlagnahmt, die Sohn Hesio ins Haus geschleppt hatte. Freilich wetterleuchtet auch die Brutalität des Stalinismus herüber, es gelingt den jungen Weltrevolutionären nur mit Mühe, die Moskauer Schauprozesse richtig »einzuordnen«.
Trotz der oft tragischen Geschehnisse, die im Mittelpunkt des Romans stehen – es kann ja gar nicht anders sein, wenn eine jüdische Familiengeschichte in den ersten vierzig Jahren des 20. Jahrhunderts erzählt wird –, herrscht ein grimmig-heiterer Grundton, man mag das »jüdischen Humor« nennen. Da sind zum einen die vielen mitgeteilten Witze, zum anderen die tragikomischen Versuche Nathan Stramers, sich als Geschäftsmann zu etablieren. Die Kerzen, mit denen er Handel treiben will, sind leider ohne Docht. Er stellt kippelnde Stühle in sein Café, damit die Gäste nicht zu lange ohne Bestellung sitzen bleiben. Aber wenn man ihn auf der Straße fragt, wie es ihm gehe, antwortet er: »Gut, aber nicht hoffnungslos.«
In diesen unseren Zeiten sollte man diesen Roman lesen, wenn man manches schwer Verstehbare begreifen will.
Mikołaj Łoziński: Stramer. Ein Familienroman. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall, Suhrkamp Verlag 2024, 410 S., 26 €.