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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Stramers im Familienroman

Was Nathan Stra­mer, eine der vie­len Haupt­fi­gu­ren (es ist eine gro­ße Fami­lie!) in Mikołaj Łozińskis Roman gelingt, das ist die »Erzeu­gung« einer gro­ßen Fami­lie mit Ryw­ka, die er so lieb­te, dass er Ame­ri­ka und sei­nen Bru­der ver­ließ und ins süd­polni­sche Tarnów zurück­kehr­te. Dort lebt er, da sei­ne geschäft­li­chen Unter­neh­mun­gen sämt­lich schei­tern, mit Frau Ryw­ka und sechs Kin­dern (vier Söh­ne und zwei Töch­ter) in recht beschei­de­nen Ver­hält­nis­sen. Ame­ri­ka und sei­ne angeb­li­chen Auf­stiegs­mög­lich­kei­ten blei­ben, zele­briert mit eng­li­schen Sprach­brocken, sein Wunsch­bild, uner­reich­bar fern. Dar­an kön­nen auch die hin und wie­der in Brie­fen ein­tref­fen­den Dol­lar­no­ten nichts ändern.

Ein­drück­li­che Bekannt­schaft dür­fen sei­ne Söh­ne mit dem Land und sei­nen Pro­duk­ten schlie­ßen, in Gestalt eines robust gear­bei­te­ten Leder­gür­tels, mit dem sie von Nathan ver­dro­schen wer­den. Es kommt der Leib­rie­men wie ein Leit­mo­tiv, dau­ernd vor, zu oft, und als er am Ende in noch grau­si­ge­rer Funk­ti­on auf­taucht, ist man bei­na­he in der Gefahr des Über­le­sens. Die­se droht auch an ande­ren Stel­len, weil der Text dann und wann aus­ufert, mit Neben­säch­lich­kei­ten, wie nach­er­zähl­ten Träu­men etwa. Zuwei­len kann man sich, beson­ders im letz­ten Drit­tel des Romans, des Gefühls nicht erweh­ren, etwas aus zwei­ter Hand Erzähl­tes zu lesen. Um es genau zu sagen: Beson­ders die Epi­so­den, die den Spa­ni­schen Bür­ger­krieg betref­fen, wir­ken so.

Im Gan­zen aber ist es ein soli­de erzähl­ter Roman, der eine Welt vor einem ent­ste­hen lässt, die man viel­leicht aus eini­gen Büchern Joseph Roths kennt. Es ist die jüdi­sche Welt Gali­zi­ens. Hier wird aber deren Geschich­te bis zur Aus­lö­schung durch die Deut­schen erzählt. Eine der ergrei­fend­sten Pas­sa­gen lau­tet: »Und der Rab­bi wie­der­hol­te jeden Frei­tag, dass Hit­ler – wie alles ande­re – nur ein Werk­zeug in den Hän­den des All­mäch­ti­gen sei. Es wür­de genü­gen, dass er puste­te, und schon gäbe es kei­nen Hit­ler mehr. Was muss noch pas­sie­ren, damit er pustet, dach­te Ryw­ka.« Dies denkt sie, weil im Ghet­to Gerüch­te umge­hen, dass es liqui­diert wer­de. Ryw­ka ist eine sehr sorg­fäl­tig gear­bei­te­te Figur, eine Frau­en­ge­stalt, die sich ein­prägt. Sie ist ihrem nicht immer leicht zu ertra­gen­den Ehe­mann in fester Lie­be treu ver­bun­den und ihren Kin­dern eine zärt­li­che, ver­ständ­nis­vol­le, hin­ge­bungs­vol­le Mut­ter. Was fast den Kitsch zu strei­fen scheint.

Mikołaj Łoziń­ski hat das Leben die­ser Frau mit­füh­lend und doch sach­lich gestal­tet – das ist gro­ße Roman­kunst. Łoziń­ski hat den Text so gestal­tet, dass es zusätz­lich zur Kapi­tel­ein­tei­lung von den Figu­ren­na­men über­schrie­be­ne Unter­ka­pi­tel gibt. So erhal­ten die Figu­ren gewis­ser­ma­ßen eine Stim­me, ihre Bio­gra­fien kön­nen, wo es nötig ist, auch nach­ho­lend erzählt wer­den. Dem Autor konn­te es wohl nur so gelin­gen, den über­flie­ßen­den Stoff in eine Form zu brin­gen. Denn im Grun­de wären Nathans, Ryw­kas, Rudeks, Sal­eks, Nuseks, Hesi­os, Welas und Renas Lebens­läu­fe je einen eige­nen Roman wert.

So ent­steht ein in gro­ßen Tei­len mit­rei­ßen­des Pan­ora­ma jüdi­schen Lebens in Polen zwi­schen dem Ersten Welt­krieg und dem Ein­marsch der Wehr­macht und dem Beginn des Holo­caust. Dass die ver­gnüg­li­chen, bedenk­li­chen, tra­gi­schen und komi­schen Lebens­epi­so­den und Lie­bes­aben­teu­er der Stra­mers auch eine instruk­ti­ve Geschichts­lek­ti­on sind, sei nur neben­bei erwähnt. Aber sie sind es, weil man viel erfährt über das Leben jüdi­scher Men­schen im Polen des Mar­schalls Pił­sud­ski und den in jenen Jah­ren immer mehr zuneh­men­den Anti­se­mi­tis­mus. Nicht min­der inter­es­sant ist es zu erfah­ren, wel­che Fas­zi­na­ti­on der Kom­mu­nis­mus in der nicht weit ent­fern­ten Sowjet­uni­on für jun­ge Men­schen in Tarnów und Umge­bung hat­te. So wer­den wäh­rend einer Haus­su­chung bei Stra­mers unter ande­rem »drei Num­mern der Zeit­schrift Genos­se, die Bücher mit den Titeln Stra­ßen­kämp­fe und das ABC des Leni­nis­mus« beschlag­nahmt, die Sohn Hesio ins Haus geschleppt hat­te. Frei­lich wet­ter­leuch­tet auch die Bru­ta­li­tät des Sta­li­nis­mus her­über, es gelingt den jun­gen Welt­re­vo­lu­tio­nä­ren nur mit Mühe, die Mos­kau­er Schau­pro­zes­se rich­tig »ein­zu­ord­nen«.

Trotz der oft tra­gi­schen Gescheh­nis­se, die im Mit­tel­punkt des Romans ste­hen – es kann ja gar nicht anders sein, wenn eine jüdi­sche Fami­li­en­ge­schich­te in den ersten vier­zig Jah­ren des 20. Jahr­hun­derts erzählt wird –, herrscht ein grim­mig-hei­te­rer Grund­ton, man mag das »jüdi­schen Humor« nen­nen. Da sind zum einen die vie­len mit­ge­teil­ten Wit­ze, zum ande­ren die tra­gi­ko­mi­schen Ver­su­che Nathan Stra­mers, sich als Geschäfts­mann zu eta­blie­ren. Die Ker­zen, mit denen er Han­del trei­ben will, sind lei­der ohne Docht. Er stellt kip­peln­de Stüh­le in sein Café, damit die Gäste nicht zu lan­ge ohne Bestel­lung sit­zen blei­ben. Aber wenn man ihn auf der Stra­ße fragt, wie es ihm gehe, ant­wor­tet er: »Gut, aber nicht hoffnungslos.«

In die­sen unse­ren Zei­ten soll­te man die­sen Roman lesen, wenn man man­ches schwer Ver­steh­ba­re begrei­fen will.

Mikołaj Łoziń­ski: Stra­mer. Ein Fami­li­en­ro­man. Aus dem Pol­ni­schen von Rena­te Schmid­gall, Suhr­kamp Ver­lag 2024, 410 S., 26 €.