Seit Ende Februar vergeht kein Tag ohne Reflexionen zur Ukraine; die »Bandbreite« (vom kriegerischen Mainstream bis zu den – scheinbar unerwünschten – analytischen Betrachtungen) ist enorm; kaum ein anderes Thema wird noch medial wahrgenommen. In den meisten Beiträgen fehlt jedoch eine Sichtweise, die schon seit der griechischen Antike bedeutsam war: Höre beide Seiten! Nein, das gibt es im Mainstream nicht mehr – alles »schießt« sich auf Russland ein! Dies ist jedoch nicht erst seit dem 24. Februar so. Wer sich die Sendungen der Deutschen Welle aus Moskau in den Monaten davor angesehen oder die Kommentare auf die russischen Forderungen zu Minsk II und einer europäischen Gesamt-Friedensordnung wahrgenommen hat, kann unschwer erkennen: Die medialen Attacken laufen schon lange – eigentlich schon seit Beginn des Kalten Krieges nach 1945.
Klar: Das Großkapital hatte keinen Zugriff auf einen Teil der Weltwirtschaft. In anderen Gebieten klappte das viel besser: Die Konzessionen für den Rohstoffabbau in Lateinamerika wurden von willfährigen Regierungen umgehend erteilt, ebenso die Bewirtschaftung ausgedehnter Ländereien (u. a. Rinderfarmen für McDonalds auf abgeholztem Regenwald-Boden). In West- und Zentralafrika werden seltene Bodenschätze ebenso wie Erdöl von den Weltmarktführern dankend vereinnahmt. Das ging im Osten nicht – von Magdeburg bis Shanghai war der Zugriff verwehrt.
Mittlerweile ist dies anders: Auch in Russland hat sich die kapitalistische Produktion etabliert, auch hier gibt es das Großkapital, machen Superreiche riesige Gewinne (wie die Herren Buffett und Soros auch). Aber warum wird Russland trotzdem immer noch als »das Böse schlechthin« dargestellt? Warum wirft Westeuropa mit Steinen, obwohl es im (Gas- und Öl-)Glashaus sitzt? Wie kann der politische Mainstream vom »Vernichten« sprechen, wenn von Russland die Rede ist?
Betrachtet man die Wirtschaftsgebiete, die von dem »Werte-Westen« mit Sanktionen belegt werden, sind dies weniger die Länder, die mit den USA im politischen »Gleichschritt« marschieren, sondern hauptsächlich die Unbotmäßigen. Wer kann das sein? Ganz oben steht natürlich das kleine, aber gefährliche Kuba – ein Affront und Gegenpol direkt vor der US-Küste! Ebenso gehören dazu z. B. Russland, Belorussland und China (die Sanktionen gegen EU-Länder wirken dagegen wie eine Trump’sche Fehlleistung). Die Letztgenannten sind flächenmäßig und wirtschaftlich nicht gerade Leichtgewichte: In Belorussland wird ein Großteil des weltweiten Düngers produziert, Russland ist einer der Energielieferanten weltweit, und China ist vom Massenproduktions-Standort zum Technologie-Riesen aufgestiegen. Mit allen diesen Ländern wird weltweit kooperiert, Handel getrieben und Technologie ausgetauscht – aber immer mit arroganter Attitüde, Verweis auf Menschenrechte und Sanktionsdrohungen. Dabei haben gerade die USA hier schwere eigene Probleme – siehe Guantanamo und die Black-Lives-Matter-Situation, von den exterritorialen Besetzungen im Nahen Osten ganz zu schweigen.
Könnte es eine ganz andere Ursache haben, dass die genannten Staaten vom Werte-Westen angefeindet werden? Vielleicht ist hierbei ein ganz anderer Zusammenhang entscheidend? Mehrfach hört man von den aktuellen Konfrontations-Sprachrohren solche Redewendungen wie: »Jedes importierte Gramm Öl bringt Geld in die Kassen des Kremls«, aus FDP-Kreisen auch den Begriff »systemischer Konflikt mit Russland«. Ja, es stimmt: Die Wirtschaftsleistung in Russland wird zu ca. 70 Prozent von staatlichen Betrieben erbracht, das heißt, deren Gewinne kommen der Regierung zugute. In Belorussland beläuft sich der staatliche Sektor auf einen Wert um die 90 Prozent des Wirtschaftsumfangs. In China ist die Regulierung der Wirtschaft fest in staatlicher Hand. Der Umkehrschluss: Das private Kapital kann nicht so schalten und walten, wie es möchte; die Gewinne fließen nicht völlig in die Taschen der reichen Oberschicht; ihre Einflussnahme auf Politik und Gesellschaft ist stark beschnitten. Lässt sich das Großkapital sowas gern gefallen? Hat es nicht oft genug bewiesen, dass es dagegen mit radikalsten Mitteln Sturm läuft – manchmal mit brachialen Mitteln, manchmal mit blanken Enteignungen (ähnlich den Treuhand-»Vergaben« des DDR-Volksvermögens). Denn die Gewinne in privaten Händen ermöglichen erst so richtig das Spielen mit dem Geld – ob für riskante Börsengeschäfte oder Cum-Ex-Tricksereien.
Der Zugriff auf die riesigen russischen Vorkommen kann nicht auf die gleiche Weise erfolgen– dafür wird dann auch schon mal ein Krieg riskiert oder provoziert. Wenn der dann noch weitab von dem Hauptinitiator – den USA – abläuft, umso besser. Aber dieser Konflikt läuft quasi hautnah in Europa ab – muss man dann wirklich über jedes Stöckchen der »Vasallentreue« springen? Mittel- und Westeuropa sind nur einen militärtechnischen »Wimpernschlag« von den Kriegshandlungen entfernt ist; man sollte also vorsichtiger agieren. Aber das Gemisch aus Lakaientreue, Russophobie und sicher auch persönlicher Profilierung lässt anscheinend nicht viel Spielraum für rationale und diplomatische Abwägungen. Denn wenn ich heute Unmengen von Waffen in die Ukraine schicke – kann es dann künftig überhaupt noch diplomatische Kanäle zu Russland geben, etwa mit Frau Baerbock?
Aber auch hierzulande bringt die politische Konfrontation in kürzester Zeit enorme Folgen: Wenn die Energie-Importe aus Russland gekappt werden – wer erklärt in einem halben Jahr unseren Menschen, dass jedes Quantum Wärme brutal verteuert wird? Dazu kommen noch die 100 Milliarden für die Rüstung – was wird ihnen folgen: erstmal ein riesiges Manko in den Staatsfinanzen, danach das Sterben von Universitäten und Forschungslabors, marode Schulen, Lehrermangel, Kultursterben, kaputte Autobahnen? Die Bundesregierung will anscheinend die von der Ukraine »bestellten« Gepard-Panzer dann auch noch bezahlen (siehe Aussagen beim Rammstein-Treffen) – wie wirkt sich das auf die Haushaltsbilanz aus? Augenscheinlich will man sich lieber auch von einem Staat, der wegen seiner Korruption nicht EU-würdig war, auch jedes Stöckchen hinhalten lassen, um drüber springen zu können.