Wir alle haben uns vor diesem Tag gefürchtet. Wohl wissend, dass er kommen wird. Drei Eingriffe am Herzen binnen eines Jahres verkraftet man nur schwer. Erst recht, wenn man bereits Mitte neunzig ist. Und dann noch die Partei! Ganz zu schweigen vom Leiden im Osten. Mit den Russen fühlte er sich seit den vierziger Jahren tief verbunden. In den letzten Kriegswochen war er siebzehnjährig in den Volkssturm gepresst worden. Und ohne einen Schuss abgegeben zu haben, dort oben in Pommern, wo er aufgewachsen war, kam er für vier Jahre in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Fällte Birken im Lager bei Moskau und schleppte Mehlsäcke in einer Bäckerei. Besuchte schließlich die Antifa-Schule. Ein Schlüsselerlebnis, das sein Leben bestimmen sollte. Das seine Weltsicht prägte. Nicht der Krieg, sondern der Nachkrieg formte ihn. Er wurde und blieb, allen temporären Verwerfungen zwischen Berlin und Moskau zum Trotz, ein Freund des russischen Volkes. Diese solidarische Verbundenheit wussten die Russen zu schätzen. Botschafter Sergej Netschajew war einer der Ersten, der kondolierte: »Als Vorsitzender des Ältestenrates der Partei Die Linke hat er als weitsichtiger und prinzipientreuer Politiker sich stets für gegenseitige Verständigung zwischen unseren Völkern starkgemacht.«
Weitsichtigkeit und Prinzipientreue kosteten ihm im letzten Jahr den Vorsitz im Ältestenrat seiner Partei. Die kurzsichtigen Kleingeister im Karl-Liebknecht-Haus wollten ihn loswerden und monierten öffentlich ein internes Diskussionspapier. Darin hatte der Vorsitzende des Ältestenrates die rhetorische Frage gestellt, ob nicht bereits vor dem 24. Februar 2022 in der Ukraine Bürgerkrieg zwischen der russischsprachigen Bevölkerung und dem Kiewer Regime geherrscht habe. Acht Jahre zuvor hatten sich ukrainische Oligarchen und korrupte Politiker mit Hilfe der USA an die Macht geputscht. Kiew unternahm seither alles, sich seiner russischen Wurzeln und Verbindungen zu entledigen, um in Nato und EU zu kommen und sich vom Westen alimentieren zu lassen. Mit der Frage war keineswegs Zustimmung zum Kriegerteilt. Krieg war und ist kein Mittel der Politik. Im Unterschied zu den naiven Waffennarren, die nie eine Knarre in der Hand hielten und nun nach schweren Waffen riefen, wusste er, wie Krieg ausschaut …
Hans Modrow, von dem hier die Rede ist, verstarb Anfang Februar, wenige Tage nach seinem 95. Geburtstag, den wir in ganz kleiner Runde in einem Berliner Pflegeheim feierten. Die Spitzen der Partei hielten ihre Schuldigkeit mit einer Anzeige im einstigen Zentralorgan für getan. Und auch nach seinem Ableben wenige Tage später flocht man Modrow keine Kränze. Obgleich es dafür mehr als einen Grund gab. Die Partei Die Linke, hervorgegangen aus der PDS, würde es ohne diesen Hans Modrow überhaupt nicht geben. Auf dem Außerordentlichen Parteitag der SED Anfang Dezember 1989, als sehr viele Delegierte der Überzeugung waren, angesichts der Vielzahl der begangenen Verfehlungen solle der Partei besser die letzte Ölung erteilt und eine neue gegründet werden, rief der amtierende Ministerpräsident Modrow – bis vor kurzem noch Mitglied des zurückgetretenen Zentralkomitees und seines Politbüros – zur Besinnung. Er redete in tiefer Nacht und geschlossener Sitzung. Am Ende bekannte sich eine Mehrheit in der Werner-Seelenbinder-Halle zu ihrer Herkunft und der damit verbundenen Verantwortung. Natürlich ist die Behauptung spekulativ, dass eine neue Partei nicht so untergegangen wäre wie Dutzende andere, die sich damals gründeten. Oder dass sie wie Phönix aus der Asche gestiegen und man ihr nicht mit Mauer, Schießbefehl und Unrechtsstaat gekommen wäre.
Es bleibt ferner Modrows Verdienst, erstens für Gewaltlosigkeit und zweitens für geordnete Verhältnisse im Übergang gesorgt zu haben. Die Berliner Zeitung überschrieb ihren bemerkenswerten Nachruf auf Modrow mit der Zeile: »Der Letzte, der die Ostler vor dem übergriffigen Westen schützte«. Das tat er, was ihm zwar viele Ostdeutsche, aber eben nicht alle Linken dankten. Für manche und manchen hatte Modrow die Übergabe der DDR an das Kapital vorbereitet, den Staat der Arbeiter und Bauern verraten und verkauft. Der Basar befand sich allerdings in Moskau, nicht in Berlin. Den Kuhhandel besorgten Kohl und Gorbatschow, und Bush zog die Fäden. Hans Modrow und seine Regierung trugen zähneknirschend der Realität Rechnung und versuchten mit weit über hundert Gesetzen und Verordnungen das Schlimmste für die DDR-Bauern und -Arbeiter zu verhüten. Dass es nur in Maßen gelang, ist nicht Modrow, sondern dem westdeutschen Kapital und seinen Erfüllungsgehilfen in West wie Ost anzulasten.
Der Kommunist Hans Modrow war ein Demokrat, was mancher in Abrede stellt. Dabei sei nicht allein auf seine parlamentarische Praxis verwiesen. Er saß bis zu dessen Auflösung 1952 im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern und bis zum Schluss 1990 in der DDR-Volkskammer. Modrow war Abgeordneter des Deutschen Bundestages und des Europaparlaments. Dort lernt man vielleicht Regeln und Umgangsformen, Taktieren und Changieren, nicht aber das Gespür für die »kleinen Leute« und deren Bedürfnisse. Jede Gesellschaft, ob nun sozialistisch oder kapitalistisch, besteht mehrheitlich aus »kleinen Leuten« – egal, ob sie sich selbst so wahrnehmen. Modrow kam aus einfachen, bescheidenen Verhältnissen. Das hat er nie vergessen. Andere in seiner Zunft befällt, je höher sie steigen, eine gewisse Amnesie. Ihm ging das Gespür für die Bedürfnisse der Menschen »da unten« nie verloren, er blieb Teil dieser Mehrheit und handelte entsprechend. Also zutiefst demokratisch. Das fühlten und artikulierten die Leute, wie man bei den freundlichen Begegnungen auf der Straße oder in der U-Bahn erlebte.
Gelegentlich begleitete ich Modrow zu Treffen oder auf Reisen. Vor vier Jahren waren wir beispielsweise in Zürich, wo er an der größten Universität des Landes vor einigen Hundert Menschen in freier Rede über den nicht unbedingt geglückten Prozess der Vereinigung sprach. Er benutzte nicht den Begriff der »Einheit«, sondern sprach immer von fortdauernder »Zweiheit«. In Ossietzky 11/2019 (»Mit Hans M. bei Hans W. in Zürich«) berichtete ich darüber, auch über unseren Stadtspaziergang. An der Limmat kamen wir am Reiterstandbild von Hans Waldmann vorbei. Ausgangs des 15. Jahrhunderts war er Bürgermeister der Schweizer Reichsstadt Zürich im Heiligen Römischen Reich und als Despot nach einem Schnellverfahren am 6. April 1489 enthauptet worden. Sein Ruf ist bis heute umstritten. Die einen sprechen von Justizmord, die anderen von Gerechtigkeit. 1937 wurde diese Plastik errichtet – gegossen aus der Bronze italienischer U-Boote. Und auf dem Sockel steht »Feldherr und Staatsmann«. Hans M. amüsierte sich sichtlich über Hans W. und meinte ironisch: »Wir Hänse ziehen durch die Welt und haben selten Glück …«
Das sah ich nicht so, und heute sehe ich es noch viel weniger. Hans Modrow, der Staatsmann und Staatsdiener, hatte ein erfülltes Leben. Wir sollten uns seiner würdig erweisen.