Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Staatsmann und Parteigründer

Wir alle haben uns vor die­sem Tag gefürch­tet. Wohl wis­send, dass er kom­men wird. Drei Ein­grif­fe am Her­zen bin­nen eines Jah­res ver­kraf­tet man nur schwer. Erst recht, wenn man bereits Mit­te neun­zig ist. Und dann noch die Par­tei! Ganz zu schwei­gen vom Lei­den im Osten. Mit den Rus­sen fühl­te er sich seit den vier­zi­ger Jah­ren tief ver­bun­den. In den letz­ten Kriegs­wo­chen war er sieb­zehn­jäh­rig in den Volks­sturm gepresst wor­den. Und ohne einen Schuss abge­ge­ben zu haben, dort oben in Pom­mern, wo er auf­ge­wach­sen war, kam er für vier Jah­re in sowje­ti­sche Kriegs­ge­fan­gen­schaft. Fäll­te Bir­ken im Lager bei Mos­kau und schlepp­te Mehl­säcke in einer Bäcke­rei. Besuch­te schließ­lich die Anti­fa-Schu­le. Ein Schlüs­sel­er­leb­nis, das sein Leben bestim­men soll­te. Das sei­ne Welt­sicht präg­te. Nicht der Krieg, son­dern der Nach­krieg form­te ihn. Er wur­de und blieb, allen tem­po­rä­ren Ver­wer­fun­gen zwi­schen Ber­lin und Mos­kau zum Trotz, ein Freund des rus­si­schen Vol­kes. Die­se soli­da­ri­sche Ver­bun­den­heit wuss­ten die Rus­sen zu schät­zen. Bot­schaf­ter Ser­gej Net­scha­jew war einer der Ersten, der kon­do­lier­te: »Als Vor­sit­zen­der des Älte­sten­ra­tes der Par­tei Die Lin­ke hat er als weit­sich­ti­ger und prin­zi­pi­en­treu­er Poli­ti­ker sich stets für gegen­sei­ti­ge Ver­stän­di­gung zwi­schen unse­ren Völ­kern starkgemacht.«

Weit­sich­tig­keit und Prin­zi­pi­en­treue koste­ten ihm im letz­ten Jahr den Vor­sitz im Älte­sten­rat sei­ner Par­tei. Die kurz­sich­ti­gen Klein­gei­ster im Karl-Lieb­knecht-Haus woll­ten ihn los­wer­den und monier­ten öffent­lich ein inter­nes Dis­kus­si­ons­pa­pier. Dar­in hat­te der Vor­sit­zen­de des Älte­sten­ra­tes die rhe­to­ri­sche Fra­ge gestellt, ob nicht bereits vor dem 24. Febru­ar 2022 in der Ukrai­ne Bür­ger­krieg zwi­schen der rus­sisch­spra­chi­gen Bevöl­ke­rung und dem Kie­wer Regime geherrscht habe. Acht Jah­re zuvor hat­ten sich ukrai­ni­sche Olig­ar­chen und kor­rup­te Poli­ti­ker mit Hil­fe der USA an die Macht geputscht. Kiew unter­nahm seit­her alles, sich sei­ner rus­si­schen Wur­zeln und Ver­bin­dun­gen zu ent­le­di­gen, um in Nato und EU zu kom­men und sich vom Westen ali­men­tie­ren zu las­sen. Mit der Fra­ge war kei­nes­wegs Zustim­mung zum Krie­ger­teilt. Krieg war und ist kein Mit­tel der Poli­tik. Im Unter­schied zu den nai­ven Waf­fen­nar­ren, die nie eine Knar­re in der Hand hiel­ten und nun nach schwe­ren Waf­fen rie­fen, wuss­te er, wie Krieg ausschaut …

Hans Mod­row, von dem hier die Rede ist, ver­starb Anfang Febru­ar, weni­ge Tage nach sei­nem 95. Geburts­tag, den wir in ganz klei­ner Run­de in einem Ber­li­ner Pfle­ge­heim fei­er­ten. Die Spit­zen der Par­tei hiel­ten ihre Schul­dig­keit mit einer Anzei­ge im ein­sti­gen Zen­tral­or­gan für getan. Und auch nach sei­nem Able­ben weni­ge Tage spä­ter flocht man Mod­row kei­ne Krän­ze. Obgleich es dafür mehr als einen Grund gab. Die Par­tei Die Lin­ke, her­vor­ge­gan­gen aus der PDS, wür­de es ohne die­sen Hans Mod­row über­haupt nicht geben. Auf dem Außer­or­dent­li­chen Par­tei­tag der SED Anfang Dezem­ber 1989, als sehr vie­le Dele­gier­te der Über­zeu­gung waren, ange­sichts der Viel­zahl der began­ge­nen Ver­feh­lun­gen sol­le der Par­tei bes­ser die letz­te Ölung erteilt und eine neue gegrün­det wer­den, rief der amtie­ren­de Mini­ster­prä­si­dent Mod­row – bis vor kur­zem noch Mit­glied des zurück­ge­tre­te­nen Zen­tral­ko­mi­tees und sei­nes Polit­bü­ros – zur Besin­nung. Er rede­te in tie­fer Nacht und geschlos­se­ner Sit­zung. Am Ende bekann­te sich eine Mehr­heit in der Wer­ner-See­len­bin­der-Hal­le zu ihrer Her­kunft und der damit ver­bun­de­nen Ver­ant­wor­tung. Natür­lich ist die Behaup­tung spe­ku­la­tiv, dass eine neue Par­tei nicht so unter­ge­gan­gen wäre wie Dut­zen­de ande­re, die sich damals grün­de­ten. Oder dass sie wie Phö­nix aus der Asche gestie­gen und man ihr nicht mit Mau­er, Schieß­be­fehl und Unrechts­staat gekom­men wäre.

Es bleibt fer­ner Mod­rows Ver­dienst, erstens für Gewalt­lo­sig­keit und zwei­tens für geord­ne­te Ver­hält­nis­se im Über­gang gesorgt zu haben. Die Ber­li­ner Zei­tung über­schrieb ihren bemer­kens­wer­ten Nach­ruf auf Mod­row mit der Zei­le: »Der Letz­te, der die Ost­ler vor dem über­grif­fi­gen Westen schütz­te«. Das tat er, was ihm zwar vie­le Ost­deut­sche, aber eben nicht alle Lin­ken dank­ten. Für man­che und man­chen hat­te Mod­row die Über­ga­be der DDR an das Kapi­tal vor­be­rei­tet, den Staat der Arbei­ter und Bau­ern ver­ra­ten und ver­kauft. Der Basar befand sich aller­dings in Mos­kau, nicht in Ber­lin. Den Kuh­han­del besorg­ten Kohl und Gor­bat­schow, und Bush zog die Fäden. Hans Mod­row und sei­ne Regie­rung tru­gen zäh­ne­knir­schend der Rea­li­tät Rech­nung und ver­such­ten mit weit über hun­dert Geset­zen und Ver­ord­nun­gen das Schlimm­ste für die DDR-Bau­ern und -Arbei­ter zu ver­hü­ten. Dass es nur in Maßen gelang, ist nicht Mod­row, son­dern dem west­deut­schen Kapi­tal und sei­nen Erfül­lungs­ge­hil­fen in West wie Ost anzulasten.

Der Kom­mu­nist Hans Mod­row war ein Demo­krat, was man­cher in Abre­de stellt. Dabei sei nicht allein auf sei­ne par­la­men­ta­ri­sche Pra­xis ver­wie­sen. Er saß bis zu des­sen Auf­lö­sung 1952 im Land­tag von Meck­len­burg-Vor­pom­mern und bis zum Schluss 1990 in der DDR-Volks­kam­mer. Mod­row war Abge­ord­ne­ter des Deut­schen Bun­des­ta­ges und des Euro­pa­par­la­ments. Dort lernt man viel­leicht Regeln und Umgangs­for­men, Tak­tie­ren und Chan­gie­ren, nicht aber das Gespür für die »klei­nen Leu­te« und deren Bedürf­nis­se. Jede Gesell­schaft, ob nun sozia­li­stisch oder kapi­ta­li­stisch, besteht mehr­heit­lich aus »klei­nen Leu­ten« – egal, ob sie sich selbst so wahr­neh­men. Mod­row kam aus ein­fa­chen, beschei­de­nen Ver­hält­nis­sen. Das hat er nie ver­ges­sen. Ande­re in sei­ner Zunft befällt, je höher sie stei­gen, eine gewis­se Amne­sie. Ihm ging das Gespür für die Bedürf­nis­se der Men­schen »da unten« nie ver­lo­ren, er blieb Teil die­ser Mehr­heit und han­del­te ent­spre­chend. Also zutiefst demo­kra­tisch. Das fühl­ten und arti­ku­lier­ten die Leu­te, wie man bei den freund­li­chen Begeg­nun­gen auf der Stra­ße oder in der U-Bahn erlebte.

Gele­gent­lich beglei­te­te ich Mod­row zu Tref­fen oder auf Rei­sen. Vor vier Jah­ren waren wir bei­spiels­wei­se in Zürich, wo er an der größ­ten Uni­ver­si­tät des Lan­des vor eini­gen Hun­dert Men­schen in frei­er Rede über den nicht unbe­dingt geglück­ten Pro­zess der Ver­ei­ni­gung sprach. Er benutz­te nicht den Begriff der »Ein­heit«, son­dern sprach immer von fort­dau­ern­der »Zwei­heit«. In Ossietzky 11/​2019 (»Mit Hans M. bei Hans W. in Zürich«) berich­te­te ich dar­über, auch über unse­ren Stadt­spa­zier­gang. An der Lim­mat kamen wir am Rei­ter­stand­bild von Hans Wald­mann vor­bei. Aus­gangs des 15. Jahr­hun­derts war er Bür­ger­mei­ster der Schwei­zer Reichs­stadt Zürich im Hei­li­gen Römi­schen Reich und als Des­pot nach einem Schnell­ver­fah­ren am 6. April 1489 ent­haup­tet wor­den. Sein Ruf ist bis heu­te umstrit­ten. Die einen spre­chen von Justiz­mord, die ande­ren von Gerech­tig­keit. 1937 wur­de die­se Pla­stik errich­tet – gegos­sen aus der Bron­ze ita­lie­ni­scher U-Boo­te. Und auf dem Sockel steht »Feld­herr und Staats­mann«. Hans M. amü­sier­te sich sicht­lich über Hans W. und mein­te iro­nisch: »Wir Hän­se zie­hen durch die Welt und haben sel­ten Glück …«

Das sah ich nicht so, und heu­te sehe ich es noch viel weni­ger. Hans Mod­row, der Staats­mann und Staats­die­ner, hat­te ein erfüll­tes Leben. Wir soll­ten uns sei­ner wür­dig erweisen.