Georg Rammer Staatsfeinde schaffen
Schön, wenn der Staat unsere Rechte als Verbraucher garantiert. Aber als Rechtsstaat erweist sich ein Land erst, wenn auch die Rechte von KritikerInnen staatlicher Maßnahmen und von DissidentInnen real geschützt sind und wenn die Gewaltenteilung funktioniert. Verdient die Bundesrepublik das Qualitätsprädikat »Rechtsstaat«?
In Zusammenhang mit Krawallen beim G20-Gipfel in Hamburg vor zweieinhalb Jahren wurden mehr als 3500 Ermittlungsverfahren geführt – davon gegen rund 900 namentlich bekannte Beschuldigte, meldeten Zeitungen im März 2019. 180 waren bereits verurteilt. Mit Hunderten Fotos unbekannter »Randalierer« oder Gewalttäter hatte die »SoKo Schwarzer Block« der Polizei die Öffentlichkeit zur Hilfe bei der Fahndung aufgerufen. An den Straßenschlachten war die Polizei allerdings mit großer Energie beteiligt: Exzessive Gewalt, die Hunderte Verletzte gefordert hatte, ist auf zahlreichen Videos dokumentiert. Gegen Polizisten leitete die Staatsanwaltschaft 156 Verfahren ein, ein Großteil wurde aber gleich wieder eingestellt; »nur ein Polizist landete bislang vor Gericht und wurde verwarnt – weil er einem Kollegen den kleinen Finger umknickte« (Zeit online, 17.11.2019).
Sind Ordnungskräfte prinzipiell anders zu bewerten als Demonstranten? Ist die Ausübung staatlicher Gewalt nicht an Recht und Gesetz gebunden? Die Fragen drängen sich umso mehr auf, wenn man berücksichtigt, dass der damalige Erste Bürgermeister von Hamburg, Olaf Scholz, nach den Ausschreitungen »harte Strafen« gefordert hatte – selbstverständlich für die Demonstranten. Die Gerichte lieferten: Zum Beispiel hob das Oberlandesgericht eine Entscheidung des Landgerichts auf, drei Tatverdächtige unter Auflagen freizulassen. Das OLG schalt die Richter als befangen, wegen der Entscheidung sei »Misstrauen gegen die Unparteilichkeit« angebracht. Eine unübliche Maßregelung anstelle einer Zurückweisung der Einmischung der Exekutive.
Die mit G20-Klagen befasste Staatsanwaltschaft will entgegen einem früheren Urteil des Bundesverfassungsgerichts erreichen, dass alle Festgenommenen des schweren Landfriedensbruchs und der gefährlichen Körperverletzung schuldig gesprochen werden können – ohne ihnen eine Tatbeteiligung nachweisen zu müssen. Dadurch würden Grundrechte ausgehebelt, denn dann »könnte zukünftig jedeR, der oder die auch nur für kurze Zeit an einer sich unfriedlich entwickelnden Demonstration teilgenommen hat, für alle Ausschreitungen straf- und damit auch zivilrechtlich verantwortlich gemacht werden, selbst wenn er oder sie an diesen nachweislich nicht beteiligt war oder den Ort des Geschehens zum Tatzeitpunkt längst verlassen hat« (taz, 3.1.20). Zu welchem Urteil über die Rechtsstaatlichkeit in China kämen wohl hier die Medien, würde in Hongkong die Staatsanwaltschaft nach den Krawallen so verfahren?
Schaut man auf die juristische Aufarbeitung der Auseinandersetzungen um den Hambacher Forst, stellen sich ebenfalls Fragen zur Unabhängigkeit und Rechtsstaatlichkeit. Landespolitiker unternahmen enorme Anstrengungen, die Interessen des RWE-Konzerns durchzusetzen: Innen- und Bauministerium beauftragten eine Kanzlei, nach einer Rechtsgrundlage für die Räumung von Baumhäusern zu suchen. Der Energieriese hatte zuvor die Räumung beantragt und den nordrhein-westfälischen Innenminister Herbert Reul zur Unterstützung aufgefordert. Dieser leugnete persönliche Konzernkontakte (auf Druck musste er sich später revidieren und Gespräche mit RWE einräumen), sorgte aber unter einem Vorwand (»mangelnder Brandschutz«) dafür, dass Tausende Polizisten in wochenlangen Großeinsätzen für die RWE-Interessen durchgriffen. Mit strafrechtlichen Folgen – allerdings nicht für den Minister. Zahlreiche Aktivisten kamen wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt in U-Haft. Einige wurden zu längeren Haftstrafen ohne Bewährung verurteilt; einer Aktivistin wurden »erhebliche schädliche Neigungen« und »Entwicklungsverzögerung« attestiert. Die harten Urteile verfolgten das Ziel, generalpräventiv zu wirken, dienten also als Abschreckung. Der Richter erkannte »staatsfeindliche Ansichten« der Angeklagten; der Rechtsstaat erwarte vom Gericht »ein deutliches Signal«.
Politische Urteile? Sind Konzerninteressen höherwertig als Bürgerrechte? Immerhin hatte RWE das behördliche Vorgehen maßgeblich beeinflusst: Der federführende Baudezernent gab vor Gericht an, RWE habe die Verwaltungsbeamten per Shuttle in den Wald gefahren, Konzernvertreter hätten an Besprechungen der Verwaltung teilgenommen und Konzernmitarbeiter der Polizei genau angegeben, welche Baumhäuser als nächste zu räumen seien (taz, 3.2.20). Der Amtsrichter aber befand, er habe nicht über politische Kungelei zu befinden, sondern nur über die Schuld der Besetzer.
Vielleicht gilt auch in Deutschland die Feststellung, die der UN-Sonderberichterstatter zu Folter, Nils Melzer, zum staatlichen Vorgehen gegen den Journalisten Julian Assange traf: »Rechtsstaatlichkeit ist in unseren Ländern durchaus gegeben, solange die essentiellen Staatsinteressen nicht betroffen sind. Sobald sich der Staat aber in seinen Sicherheitsinteressen bedroht fühlt, fundamental, und ich denke die Wikileaks-Veröffentlichungen wurden als eine solche Bedrohung wahrgenommen, dann funktioniert das nicht mehr« (ZDF heute, 5.2.20).
Auch der folgende Fall hat sich leider nicht in Moskau ereignet – leider, denn dann wären Kritik und Empörung in den Medien sicher lauter und grundsätzlicher ausgefallen. Die taz berichtete (21.1.20): Eine junge Kurdin nimmt am (gewaltfreien) Kurdenmarsch von Mannheim nach Karlsruhe teil, der wegen angeblicher Auflagenverstöße von der Polizei aufgelöst wird. Die für politische Straftaten zuständige Staatsanwaltschaft teilt dem Gericht mit, dass die Ermittlung gegen die Jugendliche eingestellt werde, da sie noch nicht 14 Jahre alt, also noch nicht strafmündig ist. Das Jugendamt stellt Eltern wie Tochter ein eindeutig positives Zeugnis aus. Dennoch befragt das Familiengericht alle Kinder der Familie zwischen drei und 15 Jahren und holt eine Stellungnahme des Staatsschutzes ein.
Offenbar hatten in dem Fall Verfassungsschutz und Polizei schon länger zusammengearbeitet, was der gebotenen Trennung von Geheimdienst und Polizei widerspricht. Der Mutter sollte das Sorgerecht entzogen werden, da sie – nach ihrer Darstellung ganz legal – gegen den Krieg der Türkei im kurdischen Nordsyrien demonstriert und ihrer Tochter die Teilnahme an dem Marsch nicht verboten habe. Mit Sicherheit kein Fall von Kindeswohlgefährdung – aber politische Justiz? Immerhin stellte die Richterin das Verfahren ein, wenn auch mit zahlreichen Auflagen an die Mutter (vgl. Spiegel.de/Panorama, 22.1.20).
Die Bekämpfung rechter Terror-Netzwerke ist nicht primär Sache von Gerichten. Dennoch versetzt es dem Rechtsstaat einen entscheidenden Stoß, wenn etwa der ehemalige Bundeswehrsoldat André S., der unter dem Decknamen »Hannibal« rechte Chat-Gruppen und paramilitärische Trainings geleitet hat, vor Gericht besondere Milde erfährt. Da ging es nicht um Lappalien. Bekannt war, dass Waffen- und Munitionslager angelegt und Vorbereitungen auf einen Bürgerkrieg getroffen wurden; Terrorzellen hatten Feindeslisten politischer Gegner angelegt. Nun soll André S. eine Strafe von 1800 Euro zahlen. (Wie rechtsterroristische Netzwerke seitens staatlicher Stellen verharmlost und geschützt werden, arbeitete Claus von Wagner in seiner »politsatirischen Analyse« in der ZDF-Sendung Die Anstalt vom 11.2.20 klar heraus.) Das erstaunlich milde Urteil hängt damit zusammen, dass das Gericht die zentrale Rolle des rechten Netzwerkes nicht berücksichtigt hat. Staatsanwaltschaft und Verteidigung einigten sich schnell, dass »über den Komplex Franco A. genug geredet worden sei« und dieser Hintergrund in diesem Verfahren nicht thematisiert werden soll. (Informationsstelle Militarisierung, 6.2.20) Tobias Pflüger stellt als verteidigungspolitischer Sprecher der Linkspartei fest: »Das ist symptomatisch für alle Prozesse, die bislang gegen Personen dieses Netzwerks geführt wurden: Die Netzwerkstrukturen werden ignoriert, und es werden niedrige Strafen verhängt, da es immer nur um gefundene Waffen oder Sprengstoff geht, aber nie darum, was die Rechten damit vorhatten – ein fatales Signal für Neonazis mit Terrorplänen« (ebd.).
Der Europäische Polizeikongress Anfang Februar stand unter dem Motto »Europa: Rechtsstaat durchsetzen«. Wohl in einem ganz anderen Sinn als beim Kongress bleibt dies in der Tat eine Aufgabe.