Zum Lebenselixier demokratischer Staatswesen gehört bürgergesellschaftlich engagiertes Diskutieren. Angesichts »unserer Lage« mag man wie Clemens Fuest (Präsident des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung) – Kanonen und Butter gingen leider jetzt nicht zusammen – Regierungshandeln befürworten oder es empört der Verantwortungslosigkeit zeihen. Handelt die Regierung so wie sie eben muss, oder ignoriert sie Spielräume, die sie eigentlich hätte? Obwohl von Alternativen des Regierungshandelns häufig gesagt wird, es gäbe sie nicht – »es« gehe eben »nur so« –, gestaltet man diese Spielräume immer neu, im für Regierung wie Volk demokratisch maßgeblichen »Rahmen«. Wie dessen staatliche Voreinstellung Spielräume bemisst, dazu ein paar Überlegungen anhand von Politikfeldern, die jeder fortschrittliche = potente Staat beackert (hat).
Für die, die von Regierungshandeln behandelt werden, können dessen Maßnahmen merklich unterschiedlich ausfallen. Dazu: »Österreich, du hast es besser«? Sicher ergeht es Mietern weniger schlimm, wenn die »KP« des Landes Mietsteigerungen (in Graz) stärker als die deutsche »Mietenbremse« einhegt. Bei ihrem Einsatz erkennt die Partei die Verfügungsgewalt von Privateigentum an, die zu Profitmachen berechtigt und verpflichtet. Ihre Mission: den Vorsprung des kapitalistischen Igels vor dem Mieterhasen sozialverträglich zu verringern. Mit der staatlichen Garantie des Grunds für ihren Kampf darf dieser nur geführt werden, ohne dass er von den Unterworfenen zu ihren Gunsten endgültig entschieden wird; wer faustisch »immer strebend sich bemüht«, der wird eben nicht »erlöst«, sondern hat sich in allgemeinwohl-verpflichteten Verhandlungen für immer und ewig zu bemühen.
Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass sie mit der Forderung der französischen Revolution – Gleichheit – in absolut unparteiischem Rechtssinne ernst macht. Das »Haste was, biste was« ist ein Muss für Pauper wie Vermögende (wie z. B. Herrn Fuest, der sich – Achtung, Sozialneid – um die Butter auf seinem Kanonenbrot sicher nicht zu sorgen braucht). Beide unterliegen ganz alltagspraktisch der staatlichen Abstraktion von ihnen als Bürger an sich. Da ein Erfolg der auf Arbeit als Existenzmittel Verwiesenen von den Kalkulationen der Arbeitsplatzanbieter abhängt, gibt der Staat dem Gegensatz zwischen möglichst geringen Lohn- und Standortkosten und dem »Quietschen« derer, die immer zu verwöhnt sind, um bis zum Monatsende zurechtzukommen, eine Verlaufsform: Sozialpolitik ist die Gestaltung, nicht die Abschaffung, des Widerspruchs zwischen Bedarf nach Geld, um zu leben, und dem Bedarf nach Geld, um mehr aus ihm zu machen. Die haarklein in Anspruchs- und Abgeltungsberechtigungen ausdifferenzierten Sozialgesetzbücher dokumentieren die Vielfalt und Normalität »moderner Schicksalsschläge«. Ein zwangssteuer-finanziertes solidarisches Sozialbudget ist kein Selbstzweck, geschweige denn eine Wohltat.
Es dient dazu, den allgemeinen Geschäftsgang weiter zu ermöglichen, indem es den durch diesen geschaffenen Verschleiß und materiellen Schaden in unumgänglichem Maß kompensiert. Sozialausgaben sind nicht unmittelbar produktiv. Somit ist Arbeitsvermögen wieder markttauglich zu machen und Sparsamkeit Trumpf; im Sozialbereich haben die schwäbische Hausfrau, die schwarze Null, demographische Schieflagen und Haushaltslöcher ihren angestammten Platz. Von dieser Bewirtschaftung profitiert auch ganz großes Kaliber: Projekte zur »Übernahme internationaler Verantwortung«, die an sich ihr Geld und ein (vom »milden« Herrn Fuest propagiertes) Engerschnallen der Gürtel wert sind
»Mehr war/ist nicht drin«; auf ihre konstruktive Teilnahme an diesem perpetuum mobile sind denn auch mit vom Staat zuerkanntem Recht, und an einem von Hitler spendierten Feiertag besonders ausdrücklich, die deutschen Gewerkschaften stolz. Ihre Bereitschaft, mit Arbeitsplatzgebern dafür zu unterhandeln, dass Gesundheits- und Existenzschädigungen durch Arbeitskräfte-(Nicht-)Einsatz nicht ökonomisch zu »krass« ausfallen, drückte schon Karl Valentins Ansage, hier leicht abgewandelt, aus: »Wir sind auf Sie angewiesen, aber Sie nicht auf uns. Merken Sie sich das« (Dieses Credo teilt auch Deutschlands radikalster Arbeitskämpfer Claus Weselsky.)
Wann ist ein Volk, wann ist eine Nation auf demokratische Weise »reif«? Wenn mehr und weniger erfolgreiche Stimmenempfänger und -abgeber wissen, dass sich Partikularinteressen am großen Ganzen zu relativieren haben, und sich entsprechend verhalten, indem sie an einer Konkurrenz und einer Lotterie zur Bestimmung des zum Regieren tauglichsten Personals teilnehmen. Der Ausübung dieser Funktionen wirft die linke Seite vor, dass »wir« nicht in einer wirklichen Demokratie, sondern in einer »Demokratur« lebten, die das tollste Vorstellbare per Manipulation zum Nutzen von Eliten bloß vorspiegle. Rechte Kritiker halten den »ganzen Wahlzirkus« für eine Schwächung des nationalen Wohls, das im Kampf nur eine Chance hat, wenn das Volk auch »völkisch« sein darf, d. h. im Wollen eines vom Fatum erkorenen Führers fraglos aufgeht. Nun sind Tarnen, Tricksen, Täuschen in der Demokratie reichlich aufzufinden; desgleichen permanentes Kriegsführen, Verarmungen und Verwüstungen. Weshalb aber soll all das, was schon lange Praxis von »freedom & democracy« ist, undemokratisch sein? In Werten ausgedrückt lautet die Antwort: Da Demokratie gut ist, kann sie nicht böse sein. Wenn etwas böse ist, kann es keine Demokratie sein. Und fertig ist der Beweis, genauer: der Glaubenssatz. An ihm machen auch Jahrzehnte von Kriegen nicht irre.
Sie sind traditioneller Anlass für Appelle an die eigenen Befehlshaber, mit deren Raison »wir« einverstanden sein möchten, da letztere die unseren sind. Gibt es für diese Fixiertheit, die der eines seinen allmächtigen Papa umkreisenden – es gibt ja keinen anderen – Kindes gleicht, noch einen anderen Grund als das Angewiesensein auf den Bestimmer dessen, wie Leben zu verlaufen haben? (Ach ja, da sind ja noch Nationalgeschichte & kulturelles Erbe: tiefe Antworten auf die tiefe Frage danach, was »unser Wesen«, unsere Identität ausmacht und was »des Deutschen Vaterland« ist.)
Weil »wir« als »das Volk« bzw. dessen gute Teile (von zahlreichen kleinen Verirrungen abgesehen) gut sind, haben wir ein Recht darauf, von den von uns Ermächtigten zu erwarten und zu verlangen, dass sie sich unseres Vertrauens würdig erweisen. Unser Staat ist ein guter, oder könnte einer sein, da er ein gutes Volk hat oder haben könnte – und umgekehrt. Wenn nur nicht immer so schlecht regiert würde…
Ein solcher Standpunkt will einen Satz wie »Demokratie ist die perfekte Form bürgerlicher Herrschaft« gar nicht erst diskutieren, da er dem Wunsch zuwiderläuft, der Staat könnte sich ja auch als guter Hirte seiner Herde mit wirklicher Hingabe widmen. Für eine Nichtbefassung mit der »viel zu pauschalen« demokratiekritischen Aussage leistet dieser Standardeinwand gute Dienste: »Ja, aber was ist deine Alternative?« Zu dieser Frage, die Kritik nur zulässt, wenn sie sich der Forderung nach Konstruktivität unterwirft, hier nur so viel: Kein von der Pharmazie unabhängiger Mediziner würde die Existenz einer Krankheit nur dann für erwiesen halten, wenn der Entdecker der Krankheit auf Verlangen ein Medikament aus der Tasche zöge.
Könnte aber nicht irgendwo von so etwas wie einer »fortschrittlichen Staatlichkeit« die Rede sein? Ein »für das Volk segensreicher Arbeiter- und Bauernstaat« ist jedenfalls nicht mehr zu besichtigen; Russland und China sind kriegserfahrene Musterknaben des Kapitalismus, für deren nationales Wohlergehen sie ebenso wie ihre wertebasierten Gegner ihre menschlichen und technisch-militärischen Werkzeuge bis zum Armageddon einsetzen.
Der Versuch eines »real existierenden Sozialismus’« überlebte seine Absicht nicht, dem Kompass ausgerechnet der »planmäßigen Verwirklichung des Wertgesetzes« zu folgen. Mit diesem suchten die Ostblockregierungen für ein »Wohlergehen der Werktätigen« einen vergleichsweise großen und damit für den Westen inakzeptablen Spielraum (»Lohn ohne Leistung«!) zu vereinbaren. Das Soziale des Ostblocks war im Vergleich zum umstandslos marktwirtschaftlichen Umspringen des Westens ein Fortschritt. Ein Auskommen aller zu befördern hatte z. B. die DDR explizit zu ihrer vornehmsten Regierungsaufgabe erklärt. Deren Umsetzung erteilte der staatlich anerkannte Materialismus realsozialistischer Bürger dennoch bzw. deshalb die Note »ungenügend«; aus der Erwartung heraus – der ihr Staat mit der Rede vom »Wettlauf der Systeme« auch noch Vorschub leistete –, dass, weil ihr Staat es tue, kein Staat anders könne als sich ihre ihnen quasi naturrechtlich zustehende Daseinsvorsorge zum Ziel zu nehmen. Für sie war »gegessen«, dass dies die Marktwirtschaft »natürlich« auch tun werde – nur eben besser, mit weniger Schlange-Stehen und mehr Reisen.
Mit der Konfrontation damit, dass die Marktwirtschaft ein Subsistenzversprechen weder abgibt noch dessen Erfüllung anstrebt, hob nach dem »Wende« genannten Anschluss der DDR für viele ihrer Bewohner die staatsbürgerliche Enttäuschung darüber an, dass mit »blühenden Landschaften« nach der Zündung der fiskalischen »Atombombe D-Mark«, wie es Bundesbankpräsident Pöhl ausdrückte, tatsächlich nur sense war; dass ein Dach über dem Kopf und Arbeit zu haben nunmehr keine garantierten Selbstverständlichkeiten sind. Davon, dass sie »das Volk« seien und deshalb auch etwas zu sagen haben sollten, wollen die Eingemeindeten nicht lassen. Ohne »Selbstgerechtigkeit« und mit Verständnis möchte Sahra Wagenknecht sie repräsentieren. Man kann aber auch als im Systemvergleich siegreicher »Wessi« die jetzigen Beschwerden vormals »drüben mutiger Brüder und Schwestern« nun als verzärteltes Gemaule diktatursozialisierter und deshalb heillos renitenter faschismusaffiner Ostalgiker abwatschen.
Würde sich eine Regierung anschicken, ihren Staatsauftrag, die Zweckbindung von Sozialpolitik, zu »vernachlässigen«, so setzte sie sich einem der schlimmsten Vorwürfe aus, die die Demokratie parat hat: mit »Wahlgeschenken« »populistisch«, also staatsvergessen zu agieren. Bekehrte sich eine Regierung nicht – was, wie Werdegänge hiesiger regelmäßig einsichtig gewordener Politiker bezeugen, hierzulande systematisch nicht vorkommt –, so löste sie, Wahlergebnisse hin oder her, einen Notstand aus; dann wäre dem Staat beizuspringen mit der Herstellung einer Ordnung, die sich gehört. Und allen, die sich dagegen auf dieses oder jenes berufen, gebührt ein nicht nur innenministerielles »Basta«.
Mit Deutschlands ökonomischem Beitrag dazu, auch im »globalen Norden« einen »Süden«, eine »Dritte Welt« zu erschaffen, in der vormalige Spielräume für Soziales entfallen, da sich dieses nicht (mehr) lohnt, hat es längst schon auch militärisches Gewicht gewonnen, mit dem es unzufrieden ist: Es bemüht sich nach Kräften, unter dem nuklearen Schirm der USA und der ebenfalls weltambitionierten Atomkraft Frankreich selbst bzw. »zumindest« im Verbund mit Nato und EU schon einmal in der gesamten Skala nichtnuklearer Kampfbereiche (und am besten auch darüber hinaus) gegen Russland et al. eine eindeutig siegversprechende Überlegenheit zu erringen.
All diese Wehrhaftigkeit, die auch eine Kür des Verteidigungsministers zum Kanzlerkandidaten unterstreichen würde, ist für unseren Staat ganz demokratisch »unverhandelbar« und muss eben sein. Die Zukunft gehört also Kanonen und Strahlen, bestellt von denen, die über die Wahl der Qual ihrer menschlichen Verfügungsmasse entscheiden. Patriotische Gesinnung besteht darin, einstweilen einsichtig ohne Butter auszukommen; diese Opferbereitschaft, nicht nur vom Mahner Fuest eingefordert, ermöglicht dann endlich auch das reinigende Bad in Stahlgewittern, für die die Vorbereitungen laufen. Das macht dieses unser Land so verdammt liebenswert.