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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Spielräume

Zum Lebens­eli­xier demo­kra­ti­scher Staats­we­sen gehört bür­ger­ge­sell­schaft­lich enga­gier­tes Dis­ku­tie­ren. Ange­sichts »unse­rer Lage« mag man wie Cle­mens Fuest (Prä­si­dent des ifo-Insti­tuts für Wirt­schafts­for­schung) – Kano­nen und But­ter gin­gen lei­der jetzt nicht zusam­men – Regie­rungs­han­deln befür­wor­ten oder es empört der Ver­ant­wor­tungs­lo­sig­keit zei­hen. Han­delt die Regie­rung so wie sie eben muss, oder igno­riert sie Spiel­räu­me, die sie eigent­lich hät­te? Obwohl von Alter­na­ti­ven des Regie­rungs­han­delns häu­fig gesagt wird, es gäbe sie nicht – »es« gehe eben »nur so« –, gestal­tet man die­se Spiel­räu­me immer neu, im für Regie­rung wie Volk demo­kra­tisch maß­geb­li­chen »Rah­men«. Wie des­sen staat­li­che Vor­ein­stel­lung Spiel­räu­me bemisst, dazu ein paar Über­le­gun­gen anhand von Poli­tik­fel­dern, die jeder fort­schritt­li­che = poten­te Staat beackert (hat).

Für die, die von Regie­rungs­han­deln behan­delt wer­den, kön­nen des­sen Maß­nah­men merk­lich unter­schied­lich aus­fal­len. Dazu: »Öster­reich, du hast es bes­ser«? Sicher ergeht es Mie­tern weni­ger schlimm, wenn die »KP« des Lan­des Miet­stei­ge­run­gen (in Graz) stär­ker als die deut­sche »Mie­ten­brem­se« ein­hegt. Bei ihrem Ein­satz erkennt die Par­tei die Ver­fü­gungs­ge­walt von Pri­vat­ei­gen­tum an, die zu Pro­fit­ma­chen berech­tigt und ver­pflich­tet. Ihre Mis­si­on: den Vor­sprung des kapi­ta­li­sti­schen Igels vor dem Mie­ter­ha­sen sozi­al­ver­träg­lich zu ver­rin­gern. Mit der staat­li­chen Garan­tie des Grunds für ihren Kampf darf die­ser nur geführt wer­den, ohne dass er von den Unter­wor­fe­nen zu ihren Gun­sten end­gül­tig ent­schie­den wird; wer fau­stisch »immer stre­bend sich bemüht«, der wird eben nicht »erlöst«, son­dern hat sich in all­ge­mein­wohl-ver­pflich­te­ten Ver­hand­lun­gen für immer und ewig zu bemühen.

Demo­kra­tie zeich­net sich dadurch aus, dass sie mit der For­de­rung der fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on – Gleich­heit – in abso­lut unpar­tei­ischem Rechts­sin­ne ernst macht. Das »Haste was, biste was« ist ein Muss für Pau­per wie Ver­mö­gen­de (wie z. B. Herrn Fuest, der sich – Ach­tung, Sozi­al­neid – um die But­ter auf sei­nem Kano­nen­brot sicher nicht zu sor­gen braucht). Bei­de unter­lie­gen ganz all­tags­prak­tisch der staat­li­chen Abstrak­ti­on von ihnen als Bür­ger an sich. Da ein Erfolg der auf Arbeit als Exi­stenz­mit­tel Ver­wie­se­nen von den Kal­ku­la­tio­nen der Arbeits­platz­an­bie­ter abhängt, gibt der Staat dem Gegen­satz zwi­schen mög­lichst gerin­gen Lohn- und Stand­ort­ko­sten und dem »Quiet­schen« derer, die immer zu ver­wöhnt sind, um bis zum Monats­en­de zurecht­zu­kom­men, eine Ver­laufs­form: Sozi­al­po­li­tik ist die Gestal­tung, nicht die Abschaf­fung, des Wider­spruchs zwi­schen Bedarf nach Geld, um zu leben, und dem Bedarf nach Geld, um mehr aus ihm zu machen. Die haar­klein in Anspruchs- und Abgel­tungs­be­rech­ti­gun­gen aus­dif­fe­ren­zier­ten Sozi­al­ge­setz­bü­cher doku­men­tie­ren die Viel­falt und Nor­ma­li­tät »moder­ner Schick­sals­schlä­ge«. Ein zwangs­steu­er-finan­zier­tes soli­da­ri­sches Sozi­al­bud­get ist kein Selbst­zweck, geschwei­ge denn eine Wohltat.

Es dient dazu, den all­ge­mei­nen Geschäfts­gang wei­ter zu ermög­li­chen, indem es den durch die­sen geschaf­fe­nen Ver­schleiß und mate­ri­el­len Scha­den in unum­gäng­li­chem Maß kom­pen­siert. Sozi­al­aus­ga­ben sind nicht unmit­tel­bar pro­duk­tiv. Somit ist Arbeits­ver­mö­gen wie­der markt­taug­lich zu machen und Spar­sam­keit Trumpf; im Sozi­al­be­reich haben die schwä­bi­sche Haus­frau, die schwar­ze Null, demo­gra­phi­sche Schief­la­gen und Haus­halts­lö­cher ihren ange­stamm­ten Platz. Von die­ser Bewirt­schaf­tung pro­fi­tiert auch ganz gro­ßes Kali­ber: Pro­jek­te zur »Über­nah­me inter­na­tio­na­ler Ver­ant­wor­tung«, die an sich ihr Geld und ein (vom »mil­den« Herrn Fuest pro­pa­gier­tes) Enger­schnal­len der Gür­tel wert sind

»Mehr war/​ist nicht drin«; auf ihre kon­struk­ti­ve Teil­nah­me an die­sem per­pe­tu­um mobi­le sind denn auch mit vom Staat zuer­kann­tem Recht, und an einem von Hit­ler spen­dier­ten Fei­er­tag beson­ders aus­drück­lich, die deut­schen Gewerk­schaf­ten stolz. Ihre Bereit­schaft, mit Arbeits­platz­ge­bern dafür zu unter­han­deln, dass Gesund­heits- und Exi­stenz­schä­di­gun­gen durch Arbeitskräfte-(Nicht-)Einsatz nicht öko­no­misch zu »krass« aus­fal­len, drück­te schon Karl Valen­tins Ansa­ge, hier leicht abge­wan­delt, aus: »Wir sind auf Sie ange­wie­sen, aber Sie nicht auf uns. Mer­ken Sie sich das« (Die­ses Cre­do teilt auch Deutsch­lands radi­kal­ster Arbeits­kämp­fer Claus Weselsky.)

Wann ist ein Volk, wann ist eine Nati­on auf demo­kra­ti­sche Wei­se »reif«? Wenn mehr und weni­ger erfolg­rei­che Stim­men­emp­fän­ger und -abge­ber wis­sen, dass sich Par­ti­ku­lar­in­ter­es­sen am gro­ßen Gan­zen zu rela­ti­vie­ren haben, und sich ent­spre­chend ver­hal­ten, indem sie an einer Kon­kur­renz und einer Lot­te­rie zur Bestim­mung des zum Regie­ren taug­lich­sten Per­so­nals teil­neh­men. Der Aus­übung die­ser Funk­tio­nen wirft die lin­ke Sei­te vor, dass »wir« nicht in einer wirk­li­chen Demo­kra­tie, son­dern in einer »Demo­kra­tur« leb­ten, die das toll­ste Vor­stell­ba­re per Mani­pu­la­ti­on zum Nut­zen von Eli­ten bloß vor­spieg­le. Rech­te Kri­ti­ker hal­ten den »gan­zen Wahl­zir­kus« für eine Schwä­chung des natio­na­len Wohls, das im Kampf nur eine Chan­ce hat, wenn das Volk auch »völ­kisch« sein darf, d. h. im Wol­len eines vom Fatum erko­re­nen Füh­rers frag­los auf­geht. Nun sind Tar­nen, Trick­sen, Täu­schen in der Demo­kra­tie reich­lich auf­zu­fin­den; des­glei­chen per­ma­nen­tes Kriegs­füh­ren, Ver­ar­mun­gen und Ver­wü­stun­gen. Wes­halb aber soll all das, was schon lan­ge Pra­xis von »free­dom & demo­cra­cy« ist, undemo­kra­tisch sein? In Wer­ten aus­ge­drückt lau­tet die Ant­wort: Da Demo­kra­tie gut ist, kann sie nicht böse sein. Wenn etwas böse ist, kann es kei­ne Demo­kra­tie sein. Und fer­tig ist der Beweis, genau­er: der Glau­bens­satz. An ihm machen auch Jahr­zehn­te von Krie­gen nicht irre.

Sie sind tra­di­tio­nel­ler Anlass für Appel­le an die eige­nen Befehls­ha­ber, mit deren Rai­son »wir« ein­ver­stan­den sein möch­ten, da letz­te­re die unse­ren sind. Gibt es für die­se Fixiert­heit, die der eines sei­nen all­mäch­ti­gen Papa umkrei­sen­den – es gibt ja kei­nen ande­ren – Kin­des gleicht, noch einen ande­ren Grund als das Ange­wie­sen­sein auf den Bestim­mer des­sen, wie Leben zu ver­lau­fen haben? (Ach ja, da sind ja noch Natio­nal­ge­schich­te & kul­tu­rel­les Erbe: tie­fe Ant­wor­ten auf die tie­fe Fra­ge danach, was »unser Wesen«, unse­re Iden­ti­tät aus­macht und was »des Deut­schen Vater­land« ist.)

Weil »wir« als »das Volk« bzw. des­sen gute Tei­le (von zahl­rei­chen klei­nen Ver­ir­run­gen abge­se­hen) gut sind, haben wir ein Recht dar­auf, von den von uns Ermäch­tig­ten zu erwar­ten und zu ver­lan­gen, dass sie sich unse­res Ver­trau­ens wür­dig erwei­sen. Unser Staat ist ein guter, oder könn­te einer sein, da er ein gutes Volk hat oder haben könn­te – und umge­kehrt. Wenn nur nicht immer so schlecht regiert würde…

Ein sol­cher Stand­punkt will einen Satz wie »Demo­kra­tie ist die per­fek­te Form bür­ger­li­cher Herr­schaft« gar nicht erst dis­ku­tie­ren, da er dem Wunsch zuwi­der­läuft, der Staat könn­te sich ja auch als guter Hir­te sei­ner Her­de mit wirk­li­cher Hin­ga­be wid­men. Für eine Nicht­be­fas­sung mit der »viel zu pau­scha­len« demo­kra­tie­kri­ti­schen Aus­sa­ge lei­stet die­ser Stan­dard­ein­wand gute Dien­ste: »Ja, aber was ist dei­ne Alter­na­ti­ve?« Zu die­ser Fra­ge, die Kri­tik nur zulässt, wenn sie sich der For­de­rung nach Kon­struk­ti­vi­tät unter­wirft, hier nur so viel: Kein von der Phar­ma­zie unab­hän­gi­ger Medi­zi­ner wür­de die Exi­stenz einer Krank­heit nur dann für erwie­sen hal­ten, wenn der Ent­decker der Krank­heit auf Ver­lan­gen ein Medi­ka­ment aus der Tasche zöge.

Könn­te aber nicht irgend­wo von so etwas wie einer »fort­schritt­li­chen Staat­lich­keit« die Rede sein? Ein »für das Volk segens­rei­cher Arbei­ter- und Bau­ern­staat« ist jeden­falls nicht mehr zu besich­ti­gen; Russ­land und Chi­na sind kriegs­er­fah­re­ne Muster­kna­ben des Kapi­ta­lis­mus, für deren natio­na­les Wohl­erge­hen sie eben­so wie ihre wer­te­ba­sier­ten Geg­ner ihre mensch­li­chen und tech­nisch-mili­tä­ri­schen Werk­zeu­ge bis zum Arma­ged­don einsetzen.

Der Ver­such eines »real exi­stie­ren­den Sozia­lis­mus’« über­leb­te sei­ne Absicht nicht, dem Kom­pass aus­ge­rech­net der »plan­mä­ßi­gen Ver­wirk­li­chung des Wert­ge­set­zes« zu fol­gen. Mit die­sem such­ten die Ost­block­re­gie­run­gen für ein »Wohl­erge­hen der Werk­tä­ti­gen« einen ver­gleichs­wei­se gro­ßen und damit für den Westen inak­zep­ta­blen Spiel­raum (»Lohn ohne Lei­stung«!) zu ver­ein­ba­ren. Das Sozia­le des Ost­blocks war im Ver­gleich zum umstands­los markt­wirt­schaft­li­chen Umsprin­gen des Westens ein Fort­schritt. Ein Aus­kom­men aller zu beför­dern hat­te z. B. die DDR expli­zit zu ihrer vor­nehm­sten Regie­rungs­auf­ga­be erklärt. Deren Umset­zung erteil­te der staat­lich aner­kann­te Mate­ria­lis­mus real­so­zia­li­sti­scher Bür­ger den­noch bzw. des­halb die Note »unge­nü­gend«; aus der Erwar­tung her­aus – der ihr Staat mit der Rede vom »Wett­lauf der Syste­me« auch noch Vor­schub lei­ste­te –, dass, weil ihr Staat es tue, kein Staat anders kön­ne als sich ihre ihnen qua­si natur­recht­lich zuste­hen­de Daseins­vor­sor­ge zum Ziel zu neh­men. Für sie war »geges­sen«, dass dies die Markt­wirt­schaft »natür­lich« auch tun wer­de – nur eben bes­ser, mit weni­ger Schlan­ge-Ste­hen und mehr Reisen.

Mit der Kon­fron­ta­ti­on damit, dass die Markt­wirt­schaft ein Sub­si­stenz­ver­spre­chen weder abgibt noch des­sen Erfül­lung anstrebt, hob nach dem »Wen­de« genann­ten Anschluss der DDR für vie­le ihrer Bewoh­ner die staats­bür­ger­li­che Ent­täu­schung dar­über an, dass mit »blü­hen­den Land­schaf­ten« nach der Zün­dung der fis­ka­li­schen »Atom­bom­be D-Mark«, wie es Bun­des­bank­prä­si­dent Pöhl aus­drück­te, tat­säch­lich nur sen­se war; dass ein Dach über dem Kopf und Arbeit zu haben nun­mehr kei­ne garan­tier­ten Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten sind. Davon, dass sie »das Volk« sei­en und des­halb auch etwas zu sagen haben soll­ten, wol­len die Ein­ge­mein­de­ten nicht las­sen. Ohne »Selbst­ge­rech­tig­keit« und mit Ver­ständ­nis möch­te Sahra Wagen­knecht sie reprä­sen­tie­ren. Man kann aber auch als im System­ver­gleich sieg­rei­cher »Wes­si« die jet­zi­gen Beschwer­den vor­mals »drü­ben muti­ger Brü­der und Schwe­stern« nun als ver­zär­tel­tes Gemau­le dik­ta­tur­so­zia­li­sier­ter und des­halb heil­los reni­ten­ter faschis­mus­af­fi­ner Ost­al­gi­ker abwatschen.

Wür­de sich eine Regie­rung anschicken, ihren Staats­auf­trag, die Zweck­bin­dung von Sozi­al­po­li­tik, zu »ver­nach­läs­si­gen«, so setz­te sie sich einem der schlimm­sten Vor­wür­fe aus, die die Demo­kra­tie parat hat: mit »Wahl­ge­schen­ken« »popu­li­stisch«, also staats­ver­ges­sen zu agie­ren. Bekehr­te sich eine Regie­rung nicht – was, wie Wer­de­gän­ge hie­si­ger regel­mä­ßig ein­sich­tig gewor­de­ner Poli­ti­ker bezeu­gen, hier­zu­lan­de syste­ma­tisch nicht vor­kommt –, so löste sie, Wahl­er­geb­nis­se hin oder her, einen Not­stand aus; dann wäre dem Staat bei­zu­sprin­gen mit der Her­stel­lung einer Ord­nung, die sich gehört. Und allen, die sich dage­gen auf die­ses oder jenes beru­fen, gebührt ein nicht nur innen­mi­ni­ste­ri­el­les »Basta«.

Mit Deutsch­lands öko­no­mi­schem Bei­trag dazu, auch im »glo­ba­len Nor­den« einen »Süden«, eine »Drit­te Welt« zu erschaf­fen, in der vor­ma­li­ge Spiel­räu­me für Sozia­les ent­fal­len, da sich die­ses nicht (mehr) lohnt, hat es längst schon auch mili­tä­ri­sches Gewicht gewon­nen, mit dem es unzu­frie­den ist: Es bemüht sich nach Kräf­ten, unter dem nuklea­ren Schirm der USA und der eben­falls welt­am­bi­tio­nier­ten Atom­kraft Frank­reich selbst bzw. »zumin­dest« im Ver­bund mit Nato und EU schon ein­mal in der gesam­ten Ska­la nicht­nu­klea­rer Kampf­be­rei­che (und am besten auch dar­über hin­aus) gegen Russ­land et al. eine ein­deu­tig sieg­ver­spre­chen­de Über­le­gen­heit zu erringen.

All die­se Wehr­haf­tig­keit, die auch eine Kür des Ver­tei­di­gungs­mi­ni­sters zum Kanz­ler­kan­di­da­ten unter­strei­chen wür­de, ist für unse­ren Staat ganz demo­kra­tisch »unver­han­del­bar« und muss eben sein. Die Zukunft gehört also Kano­nen und Strah­len, bestellt von denen, die über die Wahl der Qual ihrer mensch­li­chen Ver­fü­gungs­mas­se ent­schei­den. Patrio­ti­sche Gesin­nung besteht dar­in, einst­wei­len ein­sich­tig ohne But­ter aus­zu­kom­men; die­se Opfer­be­reit­schaft, nicht nur vom Mah­ner Fuest ein­ge­for­dert, ermög­licht dann end­lich auch das rei­ni­gen­de Bad in Stahl­ge­wit­tern, für die die Vor­be­rei­tun­gen lau­fen. Das macht die­ses unser Land so ver­dammt liebenswert.