Als Mitherausgeber von Ossietzky bin ich unseren Lesern eine Erklärung schuldig über eine Unzurechnungsfähigkeit, die mir in der 4. Kalenderwoche des letzten Jahres unterlaufen ist. Am Sonntagabend, den 21. Januar 2018, ging der SPD-Parteitag zu Ende. Mit knapper Mehrheit entschieden sich die Delegierten, entgegen allen Schwüren und Versprechungen nach der Wahlniederlage für die Fortsetzung der Großen Koalition (Andrea Nahles: »Ein Linksbündnis, das ist doch Blödsinn, verdammt noch mal.«) – vorbehaltlich einer Mitgliederbefragung. Unmittelbar vor Redaktionsschluss schrieb ich am Montagmorgen unter dem Titel: »SPD – der Nachruf« dies: »Es ist – seit Gerhard Schröder die SPD mit Hartz IV und mit dem Krieg gegen Jugoslawien an den Abgrund führte – der wichtigste Tag in der neueren Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. Sie muss entscheiden, ob die ›Endlosschleife‹ (Jusovorsitzender Kevin Kühnert) der andauernden großen Koalition mit immer weniger Wählern sich jetzt zuzieht und die SPD erwürgt.«
Noch bevor am folgenden Samstag Ossietzky mit diesem Artikel erschien, war ich Mitglied dieser Selbstmordpartei.
Wie konnte mir das geschehen? Am Dienstag, als mein SPD-Nachruf schon in Druck war, lief ich etwas zu hastig zum Briefkasten am Gartentor. Stolperte über eine Stufe, fiel. Und knallte mit meiner Stirn auf einen großen mächtigen Frosch, den die Meister des Borobodur aus javanischem Lavastein gehauen hatten. Blut lief über mein Gesicht.
Wenig später fand ich mich gepflastert auf dem Sofa wieder, griff – noch etwas verwirrt – zur Zeitung, las, was der Vorsitzende der Jungsozialisten Kevin Kühnert verlangte: »Tritt ein, sag nein.« Ja, Frosch, der Königssohn, Prinz Kevin. Jünger als er, minderjährig mit 17, war ich schon einmal Mitglied dieser Partei gewesen, zehn Jahre lang. Und trat aus, 1962, wegen des stalinistischen Kurses von Herbert Wehner – er hatte die Professoren ausgeschlossen, die den schon geschassten Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) unterstützten. Jetzt wieder rein und Nein zum Kurs des Parteivorstands? Ich konnte nicht widerstehen. Ich lief zum Computer, und schon am Mittwoch, kam die Bestätigung: »Lieber Köhler, nun gehörst auch Du zu den engagierten Menschen, die für Freiheit, Gleichheit und Solidarität eintreten und die Demokratie in unserem Land beleben … Wir wünschen Dir viel Erfolg bei Deinem Engagement in und mit der SPD.« Und ich sollte gleich noch einer zwielichtigen Vereinigung beitreten: »Apropos Mitmachen: Bist du schon Fan der SPD auf Facebook?«
Fortan war ich nur noch der »liebe Otto« für Olaf Scholz, Andrea Nahles und für Generalsekretär Lars Klingbeil, die mir regelmäßig schrieben. Mir wurde mulmig. Den Lesern von Ossietzky, die ich verraten hatte, bevor auch nur mein Nachruf auf die SPD erschien, wagte ich nicht zu gestehen, wohinein ich da geraten war. Aber in der jungen Welt, die stets mit aufrichtiger Besorgnis am suizidären Treiben der SPD Anteil nimmt, antwortete ich meinen neuerworbenen Genossen in insgesamt sechs offenen Briefen.
Da hatte etwa mein SPD-Generalsekretär Lars Klingsbeil, mit herzlichen Grüßen, dem »lieben Otto« geschrieben: »Unsere Erneuerung ist umfassend. Damit sie erfolgreich wird, brauchen wir Deine Unterstützung, Otto! Ich freue mich, den Prozess mit Dir gemeinsam anzugehen.«
Ich antworte: »Mit mir gemeinsam? Quatsch, Lars. Worüber sollen wir denn reden? ›Die Agenda-2010-Debatte langweilt mich‹, hast Du gerade erst dem Tagesspiegel erzählt. Außerdem warst Du bis zu Deiner Wahl zum Generalsekretär Präsidiumsmitglied im ›Förderkreis Deutsches Heer e. V. Bonn‹ (FDH) und bist immer noch Präsidiumsmitglied des anderen großen Lobbyverbands der Rüstungsindustrie, der ›Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik‹.« Das war im Juli letzten Jahres. So ging es hin und her. Angela, Olaf und Lars schrieben mir nach Hause, ich antwortete in der jungen Welt, verriet aber nichts den Ossietzky-Lesern. Es war mir zu peinlich.
Aber jetzt ist Schluss. Nahles schuhriegelte den Berliner SPD-Landesverband, der die Überfälle von Jugendoffizieren auf Schulkinder zwecks »Werbung fürs Töten« nicht mehr dulden wollte. Und das gehörte dazu: Die SPD-Minister in der GroKo stimmten zu, dass die deutsche Rüstungsindustrie Anteile für Waffentransporter liefern darf, die in Frankreich zusammengesetzt und an Saudis geliefert werden dürfen, die sie einsetzen und im Jemen Kinder umbringen.
Ich beschrieb der »lieben Andrea« das »gut sozialdemokratische« Vorbild für diesen gestückelten Waffendeal: »Die Saudis lösten das Problem der Khashoggi-Leiche in ihrer türkischen Botschaft: Sie zerstückelten sie und brachten sie in Teilen, die einen bestimmten Prozentsatz nicht überschreiten, heimlich aus ihrer Botschaft. Mohammed bin Salman ist ein besserer Sozialdemokrat, als ich es je zu werden vermag. Und Du, liebe Andrea«– sie war noch lange nicht geboren, als ich das erste Mal in die SPD eintrat – »bist es längst auch.«
Mein Brief endete: »Sehr geehrte Frau Nahles, ich erkläre meinen Austritt aus der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.«
So stand es unübersehbar auf Seite 1 der jungen Welt vom 4. April. So wurde es als Austrittserklärung noch vor Erscheinen dieser Ausgabe dem SPD-Vorstand zugesandt. Aber für den bin ich immer noch der »liebe Otto«, die Post von der SPD hört nicht auf. Als wäre ich immer noch Mitglied dieser Partei.
Ich bitte die Leser von Ossietzky, denen ich diese Affäre mehr als ein Jahr schamvoll verschwiegen habe: Helft mir hier raus.