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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Späte Anerkennung

Max Weber, einer der Urvä­ter der deut­schen Sozio­lo­gie, beschrieb die akten­mä­ßi­ge Ver­wal­tung als ein Kenn­zei­chen der Büro­kra­tie. Und was gäbe es da Schö­ne­res als die Per­so­nal­ak­te, die Aus­kunft über die Per­son geben kann, für die sie ange­legt wird, aber auch über die­je­ni­gen, die sie ange­legt haben.

Der Aus­schnitt einer sol­chen Per­so­nal­ak­te soll uns hier inter­es­sie­ren. Sie betrifft den heu­te 94-jäh­ri­gen frü­he­ren Rich­ter am Ober­lan­des­ge­richt (und auch Autor von Ossietzky) Hel­mut Kra­mer. Die Ange­le­gen­heit, um die es hier geht, spielt im Jahr 1978. In Nie­der­sach­sen regier­te damals die CDU unter Mini­ster­prä­si­dent Ernst Albrecht. Sein Justiz­mi­ni­ster war Dr. Hans Puvo­gel. Der hat­te 1937 eine Dis­ser­ta­ti­on mit dem Titel »Die lei­ten­den Grund­ge­dan­ken bei der Ent­man­nung gefähr­li­cher Sitt­lich­keits­ver­bre­cher« ver­fasst, in der man fol­gen­de Pas­sa­ge lesen konn­te: »Je mehr aber so die Euge­nik in den Vor­der­grund tritt und damit bewusst die bio­lo­gi­sche Auf­ar­tung unse­res Vol­kes ange­strebt wird, desto leich­ter wird es ein­mal sein, die Ent­man­nung in ihrer Eigen­schaft als sichern­de Maß­nah­me zur Stra­fe in ein ver­nünf­ti­ges Ver­hält­nis zu brin­gen. (…) Der Wert des Ein­zel­nen für die Gemein­schaft bemisst sich nach sei­ner ras­si­schen Per­sön­lich­keit. Nur ein ras­sisch wert­vol­ler Mensch hat inner­halb der Gemein­schaft eine Daseins­be­rech­ti­gung. Ein wegen sei­ner Min­der­wer­tig­keit für die Gesamt­heit nutz­lo­ser, ja schäd­li­cher Mensch ist dage­gen aus­zu­schei­den. (…) Ob das Volk für eine Aus­schei­dung des Min­der­wer­ti­gen durch Tötung bereits Ver­ständ­nis auf­zu­brin­gen ver­mag, mag dahin­ge­stellt blei­ben, sicher aber begrüßt es heu­te zumin­dest die Aus­rot­tung des Sitt­lich­keits­ver­bre­chers und damit die Ver­hü­tung einer aso­zia­len Nachkommenschaft.«

Puvo­gels nach Bekannt­wer­den die­ser Pas­sa­ge gege­be­ne lang­at­mi­ge Entschuldigung/​Rechtfertigung, in der er sich nur halb­her­zig mit der Begrün­dung, er habe ledig­lich die dama­li­ge Rechts­auf­fas­sung wie­der­ge­ge­ben, von sei­nem Appell zur Tötung unwer­ten Lebens distan­zier­te, ver­moch­te ihn nicht zu ret­ten, so dass er Ende März 1978 als Justiz­mi­ni­ster zurück­trat, aber danach bis 1981 Land­rat in Ver­den blieb.

Hel­mut Kra­mer ver­teil­te kurz vor Puvo­gels Rück­tritt kom­men­tar­los Aus­zü­ge aus die­sem Mach­werk an sei­ne Kol­le­gen und Kol­le­gin­nen am Ober­lan­des­ge­richt Braun­schweig und begrün­de­te das spä­ter in der Zeit­schrift ÖTV in der Rechts­pfle­ge auch mit Puvo­gels aktu­el­ler vehe­men­ter Ableh­nung eines reso­zia­li­sie­ren­den Straf­voll­zu­ges. Das war Maje­stäts­be­lei­di­gung, wenn­gleich die Maje­stät kurz danach gar nicht mehr im Amt war. Ernst Albrecht, der im Nie­der­säch­si­schen Land­tag von links­extre­men und kom­mu­ni­sti­schen Umtrie­ben schwa­dro­nier­te, nahm die Auf­klä­rungs­ak­ti­on Hel­mut Kra­mers als nach Puvo­gels Rück­tritt kom­mis­sa­ri­scher Justiz­mi­ni­ster zum Anlass, Vor­er­mitt­lun­gen zu einem Dis­zi­pli­nar­ver­fah­ren gegen den Braun­schwei­ger Rich­ter ein­lei­ten zu las­sen. Dort wur­den so ent­lar­ven­de Fra­gen gestellt wie: »Sind justi­z­ei­ge­ne Umschlä­ge ver­wen­det wor­den? (…) Ist das dienst­li­che Foto­ko­pier­ge­rät ver­wen­det wor­den?« Dar­aus war Kra­mer jedoch kein Strick zu dre­hen. Denn er hat­te auf eige­ne Kosten foto­ko­piert und eige­ne Brief­um­schlä­ge ver­wen­det. Des­halb kam es dann auch nicht zu einer förm­li­chen Disziplinarstrafe.

Aber dem kri­ti­schen Rich­ter wur­de in der Ein­stel­lungs­ver­fü­gung des Prä­si­den­ten des Ober­lan­des­ge­richts Braun­schweig, Rudolf Was­ser­mann, deut­lich gemacht, wo die Gren­zen rich­ter­li­cher Mei­nungs­frei­heit ver­lau­fen. In Kra­mers Per­so­nal­ak­te liest man: »Der Rich­ter ist wie jeder ande­re Trä­ger eines öffent­li­chen Amtes ver­pflich­tet, sei­nem Vor­ge­setz­ten Ach­tung ent­ge­gen­zu­brin­gen. Ohne Ach­tung der Auto­ri­tät des Vor­ge­setz­ten ist eine geord­ne­te Behör­den­tä­tig­keit nicht mög­lich. Die der Wah­rung der Amts­au­tori­tät die­nen­de Ach­tungs­pflicht ver­liert ihre Gel­tung nicht schon dann, wenn dem Vor­ge­setz­ten kri­tik­wür­di­ges Ver­hal­ten zur Last gelegt wird. Es steht dem Rich­ter eben­so wenig wie dem Beam­ten zu, sei­nem Vor­ge­setz­ten Ver­feh­lun­gen vor­zu­wer­fen (…) oder des­sen Anse­hen durch Ver­brei­tung von Tat­sa­chen im Bereich der Behör­de zu unter­gra­ben, selbst wenn die Tat­sa­chen zutref­fend sind (…). Bei der Ver­brei­tung der Text­aus­zü­ge aus der Dis­ser­ta­ti­on des Mini­sters ging es Ihnen nicht um blo­ße Infor­ma­ti­on, son­dern, wie die Ein­las­sung Ihres Ver­tei­di­gers bestä­tigt, um Kri­tik, die dem Zie­le die­nen soll­te, die Untrag­bar­keit Dr. Puvo­gels als Justiz­mi­ni­ster zu doku­men­tie­ren. Infol­ge­des­sen ver­stieß Ihr Ver­hal­ten gegen Ihre Dienstpflicht.«

So ging man 1978 und auch län­ge­re Zeit danach noch mit Rich­tern um, die bereit waren, den Alt­na­zis, die es wie­der in Justiz und Ver­wal­tung geschafft hat­ten, ihre juri­sti­sche Ver­gan­gen­heit in der NS-Zeit vor­zu­hal­ten. Der Dienst­herr schwebt über jeder Kri­tik – ein über­kom­me­nes Gehor­sams­ide­al, das auch schon 1978 nicht mehr in die west­deut­sche Rechts­land­schaft pass­te und die Mei­nungs­frei­heit Kra­mers unge­bühr­lich beschnitt, ohne sich mit schon damals vor­han­de­nen gegen­läu­fi­gen Ent­schei­dun­gen des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts auseinanderzusetzen.

Nun kann man sich mit Fug und Recht fra­gen, was uns eine sol­che Gei­stes­hal­tung heu­te noch angeht. Aber Maul­kör­be sind auch jetzt bis­wei­len ein belieb­tes Dis­zi­pli­nie­rungs­mit­tel, wenn es den Ver­wal­tungs­spit­zen ange­mes­sen erscheint. Umso erfreu­li­cher ist es des­halb, dass die Nie­der­säch­si­sche Justiz­mi­ni­ste­rin Dr. Kath­rin Wahl­mann (SPD) sich auf Anre­gung eines Bür­gers ent­schlos­sen hat, die­sen Ver­merk aus Kra­mers Per­so­nal­ak­te zu ent­fer­nen. In ihrer Ver­fü­gung wird unter ande­rem aus­ge­führt, dass es zwar für Beam­te und auch Rich­ter gegen­über Vor­ge­setz­ten eine sog. Wohl­ver­hal­tens­pflicht gebe. »Aller­dings schließt die Wohl­ver­hal­tens­pflicht weder das Äußern der eige­nen Mei­nung noch das Anbrin­gen von Kri­tik aus. Eigen­stän­di­ges Den­ken und sach­li­che Kri­tik sind im Gegen­teil für einen funk­tio­nie­ren­den Rechts­staat, ins­be­son­de­re für die Judi­ka­ti­ve, kon­sti­tu­tiv. (…) Soweit Ihnen in der Dis­zi­pli­nar­ver­fü­gung vor­ge­wor­fen wird, mit dem Ver­sand der Text­stel­len nicht bloß die Infor­ma­ti­on von Kol­le­gen bezweckt, son­dern Kri­tik mit dem Ziel geübt zu haben, die Untrag­bar­keit des Herrn Dr. Puvo­gel als Justiz­mi­ni­ster zu doku­men­tie­ren, dürf­te das zwar zutref­fend sein. Eine Dienst­pflicht­wid­rig­keit ist hier­in gleich­wohl nicht zu sehen. Die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land und mit ihr das für sie kon­sti­tu­ti­ve Grund­ge­setz sind weit­hin als Gegen­ent­wurf zum Tota­li­ta­ris­mus des natio­nal­so­zia­li­sti­schen Regimes zu ver­ste­hen; das Grund­ge­setz ist von sei­nem Auf­bau bis in vie­le Details hin dar­auf aus­ge­rich­tet, aus den geschicht­li­chen Erfah­run­gen zu ler­nen und eine Wie­der­ho­lung sol­chen Unrechts ein für alle Mal aus­zu­schlie­ßen.« Damit »bestand ein berech­tig­tes Inter­es­se der nie­der­säch­si­schen Justiz an der Kennt­nis der rechts­wis­sen­schaft­li­chen The­sen Ihres ober­sten Dienst­vor­ge­setz­ten«. Bei Über­ga­be der Auf­he­bungs­ver­fü­gung an Hel­mut Kra­mers Sohn und zwei lang­jäh­ri­ge Weg­ge­fähr­ten dank­te die Mini­ste­rin Dr. Hel­mut Kra­mer über­dies herz­lich für des­sen Enga­ge­ment in der Puvogel-Affäre.

Hel­mut Kra­mer selbst erklär­te in einer schrift­li­chen Stel­lung­nah­me: »Ich freue mich sehr über die Initia­ti­ve des Justiz­mi­ni­ste­ri­ums. Im Vor­der­grund steht jedoch nicht mei­ne Per­son oder die Kor­rek­tur eines ange­staub­ten Vor­gangs in den Tie­fen mei­ner Per­so­nal­ak­te. Weit wich­ti­ger ist mir, dass mit der Auf­he­bung der Dis­zi­pli­nar­ver­fü­gung von 1978 auch das damals noch herr­schen­de obrig­keits­staat­li­che Rich­ter­bild zurück­ge­wie­sen wird.«

Dem kann man nur zustim­men und sich wün­schen, dass die Justiz auch in Zukunft kri­ti­sche Gei­ster her­vor­bringt, die bereit sind, unter Hint­an­stel­lung eige­ner Inter­es­sen auch ein­mal gegen den juri­sti­schen Strom und die all­ge­mei­ne öffent­li­che Mei­nung zu schwimmen.