Max Weber, einer der Urväter der deutschen Soziologie, beschrieb die aktenmäßige Verwaltung als ein Kennzeichen der Bürokratie. Und was gäbe es da Schöneres als die Personalakte, die Auskunft über die Person geben kann, für die sie angelegt wird, aber auch über diejenigen, die sie angelegt haben.
Der Ausschnitt einer solchen Personalakte soll uns hier interessieren. Sie betrifft den heute 94-jährigen früheren Richter am Oberlandesgericht (und auch Autor von Ossietzky) Helmut Kramer. Die Angelegenheit, um die es hier geht, spielt im Jahr 1978. In Niedersachsen regierte damals die CDU unter Ministerpräsident Ernst Albrecht. Sein Justizminister war Dr. Hans Puvogel. Der hatte 1937 eine Dissertation mit dem Titel »Die leitenden Grundgedanken bei der Entmannung gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher« verfasst, in der man folgende Passage lesen konnte: »Je mehr aber so die Eugenik in den Vordergrund tritt und damit bewusst die biologische Aufartung unseres Volkes angestrebt wird, desto leichter wird es einmal sein, die Entmannung in ihrer Eigenschaft als sichernde Maßnahme zur Strafe in ein vernünftiges Verhältnis zu bringen. (…) Der Wert des Einzelnen für die Gemeinschaft bemisst sich nach seiner rassischen Persönlichkeit. Nur ein rassisch wertvoller Mensch hat innerhalb der Gemeinschaft eine Daseinsberechtigung. Ein wegen seiner Minderwertigkeit für die Gesamtheit nutzloser, ja schädlicher Mensch ist dagegen auszuscheiden. (…) Ob das Volk für eine Ausscheidung des Minderwertigen durch Tötung bereits Verständnis aufzubringen vermag, mag dahingestellt bleiben, sicher aber begrüßt es heute zumindest die Ausrottung des Sittlichkeitsverbrechers und damit die Verhütung einer asozialen Nachkommenschaft.«
Puvogels nach Bekanntwerden dieser Passage gegebene langatmige Entschuldigung/Rechtfertigung, in der er sich nur halbherzig mit der Begründung, er habe lediglich die damalige Rechtsauffassung wiedergegeben, von seinem Appell zur Tötung unwerten Lebens distanzierte, vermochte ihn nicht zu retten, so dass er Ende März 1978 als Justizminister zurücktrat, aber danach bis 1981 Landrat in Verden blieb.
Helmut Kramer verteilte kurz vor Puvogels Rücktritt kommentarlos Auszüge aus diesem Machwerk an seine Kollegen und Kolleginnen am Oberlandesgericht Braunschweig und begründete das später in der Zeitschrift ÖTV in der Rechtspflege auch mit Puvogels aktueller vehementer Ablehnung eines resozialisierenden Strafvollzuges. Das war Majestätsbeleidigung, wenngleich die Majestät kurz danach gar nicht mehr im Amt war. Ernst Albrecht, der im Niedersächsischen Landtag von linksextremen und kommunistischen Umtrieben schwadronierte, nahm die Aufklärungsaktion Helmut Kramers als nach Puvogels Rücktritt kommissarischer Justizminister zum Anlass, Vorermittlungen zu einem Disziplinarverfahren gegen den Braunschweiger Richter einleiten zu lassen. Dort wurden so entlarvende Fragen gestellt wie: »Sind justizeigene Umschläge verwendet worden? (…) Ist das dienstliche Fotokopiergerät verwendet worden?« Daraus war Kramer jedoch kein Strick zu drehen. Denn er hatte auf eigene Kosten fotokopiert und eigene Briefumschläge verwendet. Deshalb kam es dann auch nicht zu einer förmlichen Disziplinarstrafe.
Aber dem kritischen Richter wurde in der Einstellungsverfügung des Präsidenten des Oberlandesgerichts Braunschweig, Rudolf Wassermann, deutlich gemacht, wo die Grenzen richterlicher Meinungsfreiheit verlaufen. In Kramers Personalakte liest man: »Der Richter ist wie jeder andere Träger eines öffentlichen Amtes verpflichtet, seinem Vorgesetzten Achtung entgegenzubringen. Ohne Achtung der Autorität des Vorgesetzten ist eine geordnete Behördentätigkeit nicht möglich. Die der Wahrung der Amtsautorität dienende Achtungspflicht verliert ihre Geltung nicht schon dann, wenn dem Vorgesetzten kritikwürdiges Verhalten zur Last gelegt wird. Es steht dem Richter ebenso wenig wie dem Beamten zu, seinem Vorgesetzten Verfehlungen vorzuwerfen (…) oder dessen Ansehen durch Verbreitung von Tatsachen im Bereich der Behörde zu untergraben, selbst wenn die Tatsachen zutreffend sind (…). Bei der Verbreitung der Textauszüge aus der Dissertation des Ministers ging es Ihnen nicht um bloße Information, sondern, wie die Einlassung Ihres Verteidigers bestätigt, um Kritik, die dem Ziele dienen sollte, die Untragbarkeit Dr. Puvogels als Justizminister zu dokumentieren. Infolgedessen verstieß Ihr Verhalten gegen Ihre Dienstpflicht.«
So ging man 1978 und auch längere Zeit danach noch mit Richtern um, die bereit waren, den Altnazis, die es wieder in Justiz und Verwaltung geschafft hatten, ihre juristische Vergangenheit in der NS-Zeit vorzuhalten. Der Dienstherr schwebt über jeder Kritik – ein überkommenes Gehorsamsideal, das auch schon 1978 nicht mehr in die westdeutsche Rechtslandschaft passte und die Meinungsfreiheit Kramers ungebührlich beschnitt, ohne sich mit schon damals vorhandenen gegenläufigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auseinanderzusetzen.
Nun kann man sich mit Fug und Recht fragen, was uns eine solche Geisteshaltung heute noch angeht. Aber Maulkörbe sind auch jetzt bisweilen ein beliebtes Disziplinierungsmittel, wenn es den Verwaltungsspitzen angemessen erscheint. Umso erfreulicher ist es deshalb, dass die Niedersächsische Justizministerin Dr. Kathrin Wahlmann (SPD) sich auf Anregung eines Bürgers entschlossen hat, diesen Vermerk aus Kramers Personalakte zu entfernen. In ihrer Verfügung wird unter anderem ausgeführt, dass es zwar für Beamte und auch Richter gegenüber Vorgesetzten eine sog. Wohlverhaltenspflicht gebe. »Allerdings schließt die Wohlverhaltenspflicht weder das Äußern der eigenen Meinung noch das Anbringen von Kritik aus. Eigenständiges Denken und sachliche Kritik sind im Gegenteil für einen funktionierenden Rechtsstaat, insbesondere für die Judikative, konstitutiv. (…) Soweit Ihnen in der Disziplinarverfügung vorgeworfen wird, mit dem Versand der Textstellen nicht bloß die Information von Kollegen bezweckt, sondern Kritik mit dem Ziel geübt zu haben, die Untragbarkeit des Herrn Dr. Puvogel als Justizminister zu dokumentieren, dürfte das zwar zutreffend sein. Eine Dienstpflichtwidrigkeit ist hierin gleichwohl nicht zu sehen. Die Bundesrepublik Deutschland und mit ihr das für sie konstitutive Grundgesetz sind weithin als Gegenentwurf zum Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes zu verstehen; das Grundgesetz ist von seinem Aufbau bis in viele Details hin darauf ausgerichtet, aus den geschichtlichen Erfahrungen zu lernen und eine Wiederholung solchen Unrechts ein für alle Mal auszuschließen.« Damit »bestand ein berechtigtes Interesse der niedersächsischen Justiz an der Kenntnis der rechtswissenschaftlichen Thesen Ihres obersten Dienstvorgesetzten«. Bei Übergabe der Aufhebungsverfügung an Helmut Kramers Sohn und zwei langjährige Weggefährten dankte die Ministerin Dr. Helmut Kramer überdies herzlich für dessen Engagement in der Puvogel-Affäre.
Helmut Kramer selbst erklärte in einer schriftlichen Stellungnahme: »Ich freue mich sehr über die Initiative des Justizministeriums. Im Vordergrund steht jedoch nicht meine Person oder die Korrektur eines angestaubten Vorgangs in den Tiefen meiner Personalakte. Weit wichtiger ist mir, dass mit der Aufhebung der Disziplinarverfügung von 1978 auch das damals noch herrschende obrigkeitsstaatliche Richterbild zurückgewiesen wird.«
Dem kann man nur zustimmen und sich wünschen, dass die Justiz auch in Zukunft kritische Geister hervorbringt, die bereit sind, unter Hintanstellung eigener Interessen auch einmal gegen den juristischen Strom und die allgemeine öffentliche Meinung zu schwimmen.