Er fand zu einer sachlichen und unbestechlichen Darstellung der sozialen Wirklichkeit der Großstadt Berlin schon vor und dann vor allem aber nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Hans Baluschek, der eine akademische Ausbildung absolviert hatte, malte Szenen aus dem Berliner Volksleben und entwickelte seinen Stil von der Opposition zur akademischen Malerei zu einem sozialkritischen Realismus weiter. Neben der Darstellung des sozialen Elends entstanden Motive der Desillusionierung und der Vermassung der Menschen in den Fabriken, auf der Straße, in den öffentlichen Stätten und den Wohngegenden. In selbstquälerisch anmutender Weise setzte er sich mit der sozialen Umwelt auseinander, konterfeite Arbeiter, Arbeiterfrauen, Kleinbürger, Prostituierte, Bettler, Tippelbrüder, Randfiguren und Opfer der Gesellschaft, Erschöpfte, Mühselige und Beladene, Lebensmüde, Sterbende und Gestorbene. Seine typologischen Arbeiterfiguren leiteten ein Thema ein: Der Mensch als »soziale Masse«.
Das Bröhan-Museum in Berlin-Charlottenburg öffnete am 12. Mai die Pforten zu seiner Ausstellung »›Zu wenig Parfüm, zu viel Pfütze.‹ Hans Baluschek zum 150. Geburtstag«. Wegen der Corona-Pandemie waren die Bilder zuvor nur digital zu sehen. Regelmäßig wurden auf den Social-Media-Accounts und der Website des Museums Kurzfilme veröffentlicht, die die Highlights der Ausstellung vorstellten.
Und das sind sie: In seinem 1894 entstandenen Bild »Mittag«, in dem Hans Baluschek einen Ausschnitt aus einem Zug von Frauen und Mädchen darstellt, die in Körben ihren Männern und Vätern in den Fabriken das Mittagessen bringen, zeigt sich die Prägung der Menschen als »soziale Masse« deutlich. Die Figuren werden in Rückenansicht als entindividualisierte Typen dargestellt, sie sind Bestandteil der Menge, keine Einzelpersonen, funktionieren in der gleichen Verrichtung. »Kohlenfuhren« (1901): Frauen mit Kindern transportieren auf Schlitten und Handwagen mit Kohlen gefüllte Säcke durch eine winterliche Industrielandschaft. Wie im automatischen Gleichtakt bewegen sich die Figuren. Im »Winterwind« (1907) kämpfen die Menschen im eisigen Winter gegen den Sturm an, sie sind in die Diagonale gerutscht.
Beim »Eisenbahner-Feierabend« aus dem Jahr 1895 wird die Personenmasse durch die Arbeiter selbst dargestellt, die vor einem Hintergrund aus Bahnanlagen, Schornsteinen und Oberleitungen müde von der Arbeit kommen und teilweise von ihren ernst blickenden Kindern empfangen werden. Der »Feierabend« (um 1895) der Arbeiterfamilien spielt sich dann auf der Straße ab. Man sitzt auf dem Bordstein vor einer Betonmauer, die gerade ein Junge bemalt, manche starren vor sich hin, andere sind im Gespräch begriffen, Kinder spielen auf der Straße, eine Mutter wiegt ihr Kind im Arm. Den Naturalisten Arno Holz betrachtete Baluschek als Schlüsselfigur des Naturalismus und geistigen Mentor, obgleich Baluscheks Arbeiten erst begannen, als der literarische Naturalismus bereits abgeebbt war.
»Hier können Familien Kaffee kochen« (1895) – Baluschek greift dieses geflügelte Wort für ein gut und günstig im Grünen Beieinandersitzen auf und dreht es zu einer karikaturhaften Momentaufnahme um: Das ist hier kein gemütlicher Kaffeeklatsch, hinter den riesigen Kaffeekannen präsentiert sich das kleinbürgerliche Milieu herausgeputzter Kaffeetanten.
Wenn es sich dann um ein Sonntagsvergnügen handelt, auf dem »Berliner Rummelplatz« (1914), zu dessen Lichterglanz sich die Menge magisch angezogen fühlt, oder beim »Tingeltangel« (1900), auf dem der konservative Bürger seine erotischen Abenteuer sucht, dann sind die Figuren mehr passive Zuschauer als Beteiligte, denn Vergnügungen können sich die einen nicht leisten, während die anderen nur eine Abwechslung in ihrem freudlosen Leben suchen. Der Mensch ist Opfer bei Baluschek, er setzt sich nicht zur Wehr, er folgt dem Trott der Masse. Streik- und Demonstrationsbilder gibt es bei ihm nicht. Ein ausgesprochener Porträtist ist Baluschek nicht geworden, individuelle Physiognomien hat er kaum geschaffen, mit Ausnahme seines Selbstporträts von 1916, das ihn im Malerkittel, aber in korrekter Haltung zeigt – kein »Revoluzzer«.
Mögen aber die Gesichter noch so müde und abgestumpft wirken, so vermag es Baluschek doch, die Emotionen und Gedanken seiner Figuren durch Physiognomie und Körperhaltung erkennbar zu machen. Ihm gelingt es, die vom Leben gezeichneten Gesichter im Bild zum Sprechen zu bringen. Humor und Heiterkeit, aber auch Spott, Hohn oder Verachtung wird man bei ihm nicht finden. Bedrücktheit und Trostlosigkeit herrschen vor.
1895 konnte Hans Baluschek seine Arbeiten erstmals in einer Ausstellung zeigen und zwei Jahre später mit zwei Werken an der Großen Berliner Kunstausstellung teilnehmen. Er war 1898 einer der Mitbegründer der »Berliner Secession« und wurde später Vorstandsmitglied. Gemeinsam mit Käthe Kollwitz, Otto Nagel und Heinrich Zille vertrat Baluschek die bodenständige und sozialkritische Kunst in der Secession, wodurch sie sich von den weitgehend durch den französischen Impressionismus, Pointillismus und Symbolismus beeinflussten Künstlern der Vereinigung unterschieden. An der Künstlerinnenschule Berlin war er neben Käthe Kollwitz Lehrer und eröffnete 1908 eine private Malschule für Frauen. Sein sozialkritisches Hauptwerk der Vorkriegszeit, der Zyklus von Kohlezeichnungen »Opfer«, wurde 1905 von Wilhelm II. verächtlich als »Rinnsteinkunst« abgetan.
Baluschek entwickelte eine eigene Maltechnik, die vor allem auf Aquarellen und Gouachen aufbaut, Ölfarben benutzte er dagegen vergleichsweise selten. Der Untergrund wurde mit Ölkreidestiften vorbereitet, um einen sehr farbigen und zugleich stumpfen Gesamteindruck zu bilden. Laut Baluschek sollte dies der Berliner Atmosphäre entsprechen, »wie ich sie in ihrem grauen Charakter empfinde«.
Obwohl es bereits vorher Darstellungen aus dem Berliner Klein- und Spießbürgertum gab und auch Max Liebermann, Franz Skarbina, Fritz von Uhde und andere Maler des deutschen Realismus Darstellungen aus der Arbeitswelt und Großstadtszenen malten, waren Baluscheks Bilder für seine Zeit neuartig und außergewöhnlich. Der Kritiker Willy Pastor zeigte auf, dass sich »in dieser harmlosen Novellistik etwas verbarg, das mehr war als bloße Erzählung«. Nach seiner Darstellung gingen die Kritiker amüsiert von Bild zu Bild oder wandten sich ab, weil Baluschek zum »geschmacklosen Volke der Naturalisten« gehörte und sich durch »zu wenig Parfüm, zu viel Pfütze« auszeichnete.
Baluschek hatte eine Vorliebe für Eisenbahnzüge, Bahnhöfe. Gleisanlagen und malte in stark leuchtenden Farben ein großes Eisenwalzwerk in Duisburg (1910). Natürlich setzte er sich der Konkurrenz mit Menzels berühmtem »Eisenwalzwerk« (1875) aus. Dieser hatte über 40 Arbeiter in unterschiedlichen Arbeitsprozessen und -pausen gemalt. Baluschek dagegen zeigt nur wenige Arbeiter um einen riesigen Ofen. Oben, auf einer Empore, bedienen zwei fast identisch aussehende Männer Hebel und wirken selbst wie Automaten. Hier wird die Fabriksituation zum Symbol der Entfremdung des Arbeiters im Zeitalter der Industrialisierung.
In den Folgejahren traten vor allem die Illustrationen von Märchen in den Vordergrund. Einem breiten Publikum sind bis heute seine Illustrationen zu Peterchens Mondfahrt aus dem Jahr 1919 vertraut, mit denen sich Baluschek in die Gedankenwelt der Kinder hineindachte und eine phantasievolle Bilderwelt schuf. 1919 erweiterte er in Malerei und Illustrationen für die sozialdemokratische Presse seine soziale Thematik durch Motive wie Kriegsopfer, Arbeitslosigkeit und Klassenkampf.
Die Nationalsozialisten setzten Baluschek 1933 als »marxistischen Künstler« von seinen Ämtern ab und schlossen ihn später von allen Arbeits- und Ausstellungsmöglichkeiten aus. 1935 starb er, seine Werke waren als »Entartete Kunst« im Gegensatz zur sogenannten Deutschen Kunst gebrandmarkt worden.
»›Zu wenig Parfüm, zu viel Pfütze.‹ Hans Baluschek zum 150. Geburtstag«. Bröhan-Museum, Berliner Landesmuseum für Jugendstil, Art déco und Funktionalismus, 14059 Berlin, Schloßstraße 1a, bis 27. September, Katalog 34 €