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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Sowjetängste, europäischer Schrecken

Wie gründ­lich die Aus­til­gung, ja Aus­lö­schung rus­si­scher Lite­ra­tur (genau­er: Exil­li­te­ra­tur) hier­zu­lan­de funk­tio­niert hat, erweist sich auch am Werk Mark Ald­anows (1896 bis 1957), des­sen fast sehe­ri­sche Qua­li­tä­ten ent­wickeln­der Roman »Der Anfang vom Ende« jetzt in deut­scher Spra­che vor­liegt. Und dafür gebührt dem Rowohlt Ver­lag Dank!

Denn Ald­anow dürf­te zu den wirk­lich unbe­kann­ten Autoren gehö­ren – obwohl er ein emi­nent wich­ti­ges Werk schuf. In den von mir seit Stu­den­ten­ta­gen benutz­ten Lite­ra­tur­ge­schich­ten und Nach­schla­ge­wer­ken zur rus­si­schen und sowje­ti­schen Lite­ra­tur kommt er über­haupt nicht vor. Immer­hin wird dort Iwan Bunins, der Mark Ald­anow mehr­fach für den Nobel­preis vor­schlug, wenig­stens kurz und trocken Erwäh­nung getan: «Die letz­ten Jahr­zehn­te sei­nes Lebens ver­brach­te er im Aus­land«, heißt es in der »Geschich­te der klas­si­schen rus­si­schen Lite­ra­tur«, einst im Auf­bau-Ver­lag Ber­lin und Wei­mar erschie­nen. Dass Bunin als erster rus­si­scher Schrift­stel­ler 1933 den Lite­ra­tur­no­bel­preis erhal­ten hat­te, wird nicht ein­mal erwähnt.

Der Haupt­schau­platz von Ald­anows Roman ist zwar Paris in den 1930er Jah­ren, aber es wer­den dar­in rus­sisch-sowje­ti­sche Ver­hält­nis­se, Bedin­gun­gen, Fra­gen und Pro­ble­me auf eine Wei­se ver­han­delt, die wie eine Vor­aus­spie­ge­lung heu­ti­ger Ver­hält­nis­se wir­ken. Es ist die Zeit, da jeder in der Sowjet­uni­on Angst hat – und wenn er sich außer­halb sei­nes Lan­des befin­det, erst recht. In Spa­ni­en tobt der Bür­ger­krieg, sozu­sa­gen die Pro­b­e­insze­nie­rung für den kom­men­den Weltkrieg.

Die fas­zi­nie­ren­de Geschich­te hebt an in einem Zug, der von Mos­kau Rich­tung Westen fährt. An Bord der Bot­schaf­ter Kan­ga­row-Mos­kow­ski, sei­ne Frau, jeder vom ande­ren ange­ödet. Fer­ner der Armee­kom­man­deur Tama­rin, Offi­zier bereits unter dem Zaren, Nadesch­da Iwa­now­na, eine folg­sa­me Ste­no­gra­fin mit lite­ra­ri­schen Ambi­tio­nen, und ein Mann, in dem die Furcht, die Sta­lin jedem »Sowjet­bür­ger« ver­ur­sach­te, inkar­niert: Wis­li­ce­nus, der natür­lich nicht so heißt, er ist Berufs­re­vo­lu­tio­när und Geheim­dienst­ler. Aller­dings fürch­tet sich er sich auch: vor Krank­heit, vor Geheim­dien­sten wie der sowje­ti­schen GPU, aber auch vor der deut­schen GESTAPO, viel­leicht sogar vor sich selbst. Sein schmäh­li­ches Ende über­trifft dann gar noch sei­ne Ahnungen.

Ver­wo­ben wird das Schick­sal die­ser Men­schen, von denen ein­zig Nadesch­da Iwa­now­na fast unge­rupft davon­kommt, mit einer gro­ßen Erzäh­lung über den berühm­ten fran­zö­si­schen Schrift­stel­ler Ver­man­dois, Kom­mu­nist natür­lich. Ver­man­dois kämpft mit dem Stoff und der Gestal­tung eines neu­en Romans, mit sei­nem Alter, sei­ner bös­ar­ti­gen Haus­häl­te­rin, der dro­hen­den Geld­knapp­heit, den Banau­sen und Schwät­zern in sei­ner Umge­bung. Beson­ders viel Ner­ven­kraft kostet ihn die kunst­sin­ni­ge Grä­fin Bel­lan­combre, die er frei­lich auch nicht ent­beh­ren kann. Am mei­sten jedoch setzt ihm eine Mord­ge­schich­te zu, die ihm gefähr­lich nahe­kommt und sei­nen Arbeits­frie­den stört: Sein von ihm nicht eben üppig bezahl­ter Sekre­tär Alve­ra ist auf die Idee gekom­men, einen Mord wie in Dosto­jew­skis Roman »Ver­bre­chen und Stra­fe« à la Ras­kol­ni­kow zu bege­hen. Wie er aus­ge­führt wird, wie der intel­lek­tu­el­le Mör­der mit sei­nen Klü­ge­l­ei­en schei­tert, von der Poli­zei ergrif­fen und nach einer Art Schau­pro­zess guil­lo­ti­niert wird, die­se Schil­de­run­gen gehö­ren in ihrer abgrün­di­gen, bit­te­ren Iro­nie zu den Höhen­punk­ten des mei­ster­haft erzähl­ten Romans.

Doch auch die Schick­sa­le der ande­ren Figu­ren schla­gen den Leser in den Bann, denn sie leben alle am Anfang ihres Endes. Bot­schaf­ter Kan­ga­rows Kar­rie­re- und Gesund­heits­kur­ve zeigt nach unten, Schreib­fräu­lein Nadesch­da Iwa­now­na, die ihn zumin­dest ero­tisch »erlö­sen« könn­te, weist ihn ab. Des Bot­schaf­ters Frau ist nichts ohne ihren Mann. Der undurch­sich­ti­ge Wis­li­ce­nus lei­det an Angi­na pec­to­ris, die er zwar klein­re­det, aber die immer kör­per­li­cher wer­den­de Furcht lässt sein Leben erlah­men – eine wirk­li­che oder viel­leicht auch nur ver­meint­li­che Ver­fol­gungs­jagd hält er nicht aus. Der fein­sin­ni­ge Armee­kom­man­deur Tama­rin wird urplötz­lich aus sei­nen mili­tär­hi­sto­ri­schen Stu­di­en geris­sen, die er in Paris trei­ben darf. Er wird nach Spa­ni­en befoh­len und soll über den Stand des Bür­ger­kriegs berichten.

Über allen schwebt die Angst, die aus Mos­kau bis nach Frank­reich und Spa­ni­en weht. Sie wirkt auf alle Lebens­ent­schei­dun­gen ein, sie lässt den Bot­schaf­ter, den Kom­man­deur, den Berufs­re­vo­lu­tio­när und Geheim­dienst­mann zu klei­nen Kin­dern wer­den, die sich dau­ernd fra­gen, was wohl der furcht­ba­re Mann im Kreml von ihnen weiß und wie er über sie denkt. Und die, weil sie eben kei­ne »gro­ße Rol­le« spielt, frei­er agie­ren­de und frei­er wir­ken­de Nadesch­da Iwa­now­na gerät in die Fän­ge des sta­li­ni­sti­schen Systems und Regimes, denn sie hat vor, Schrift­stel­le­rin zu wer­den. Ihre erste Erzäh­lung wird in Mos­kau tat­säch­lich zum Druck ange­nom­men, denn »der ideo­lo­gi­sche Gehalt« ist aktu­ell, und Nadesch­da kommt, als sie dar­über nach­sinnt, nun Berufs­schrift­stel­le­rin zu wer­den, der Ter­mi­nus »pro­fes­sio­nel­le Pro­sti­tu­ti­on« in den Kopf. Mit ihrer klei­nen Frei­heit wird es vor­bei sein, auch wenn der Kar­rie­re­sprung sie in Eupho­rie versetzt.

Die aktu­el­le, fast pro­phe­ti­sche Wirk­kraft des Romans ent­steht aus der über­zeu­gen­den Dar­stel­lung der poli­ti­schen und sitt­li­chen Kata­stro­phe Russ­lands, die sich Ende der Drei­ßi­ger­jah­re zum euro­päi­schen Ver­häng­nis aus­ge­wach­sen hat. In Deutsch­land herr­schen dem sta­li­ni­sti­schen System nicht unähn­li­che Ver­hält­nis­se, in Ita­li­en ist Mus­so­li­ni an der Macht, in Spa­ni­en greift Gene­ral Fran­co danach. Es ist nichts mehr zu hof­fen: Die sowje­ti­schen Äng­ste wei­ten sich zum euro­päi­schen Schrecken aus.

Sehr ein­dring­lich hat Mark Ald­anow die Ohn­macht der Demo­kra­tie beschrie­ben – und es gehört zu den gro­ßen Vor­zü­gen sei­nes Wer­kes, dass man die mit­un­ter recht aus­führ­li­chen poli­ti­schen und phi­lo­so­phi­schen Debat­ten der Figu­ren mit Inter­es­se und Gewinn liest. Der Schrift­stel­ler Ver­man­dois erkennt die Mas­ke­ra­den: »Unglück­li­cher­wei­se sind von den gesell­schafts­po­li­ti­schen Pro­gram­men, die es heu­te in der Welt gibt, die gran­dio­sen wider­wär­tig und idio­tisch, wäh­rend die eini­ger­ma­ßen ver­nünf­ti­gen auf absto­ßen­de Wei­se arm­se­lig und klein­ka­riert sind.« Er begreift, wie sehr – und da ist es fast, als sprä­che er zu uns – die Mystik das poli­ti­sche Tages­ge­schäft bestimmt. Und er begreift, dass er abso­lut nichts aus­rich­ten kann. Jedoch: Als Bot­schaf­ter Kan­ga­row ihm die Ver­öf­fent­li­chung sei­ner gesam­mel­ten Wer­ke in der Sowjet­uni­on in Aus­sicht stellt, fragt er in einem Wut­an­fall: »Sie wol­len also mei­ne Wer­ke kau­fen, wenn ich ein Tele­gramm an die­sen … Sta­lin schicke?« Und dann wird in einer gro­ßen Schluss­re­de aus Ver­man­dois Ald­anow, der kon­sta­tiert, dass aus dem Kreml das Böse kommt, der Ter­ror, die Grau­sam­keit, alles das, was über das nach­ah­men­de und ganz nahe Hit­ler­deutsch­land auch nach ihm grei­fen wird. Und dar­um kann er nur schrei­end mit einem Wort ant­wor­ten: »Mer­de …«

Das Wort, deplat­ziert, vul­gär, hilf­los, es zeigt den Anfang vom Ende der Kul­tur. Und die­ses Ende ist die Quint­essenz des Romans und sei­ne ganz gegen­wär­ti­ge Bot­schaft. Er führt uns vor, vor wel­chen Ent­wick­lun­gen wir ste­hen könn­ten. Sel­ten erreicht ein gut acht­zig Jah­re alter Roman eine der­art schar­fe Aktualität.

 Mark Ald­anow: Der Anfang vom Ende. Roman, Rowohlt Ver­lag 2023, 688 S., 38 €.