Wie gründlich die Austilgung, ja Auslöschung russischer Literatur (genauer: Exilliteratur) hierzulande funktioniert hat, erweist sich auch am Werk Mark Aldanows (1896 bis 1957), dessen fast seherische Qualitäten entwickelnder Roman »Der Anfang vom Ende« jetzt in deutscher Sprache vorliegt. Und dafür gebührt dem Rowohlt Verlag Dank!
Denn Aldanow dürfte zu den wirklich unbekannten Autoren gehören – obwohl er ein eminent wichtiges Werk schuf. In den von mir seit Studententagen benutzten Literaturgeschichten und Nachschlagewerken zur russischen und sowjetischen Literatur kommt er überhaupt nicht vor. Immerhin wird dort Iwan Bunins, der Mark Aldanow mehrfach für den Nobelpreis vorschlug, wenigstens kurz und trocken Erwähnung getan: «Die letzten Jahrzehnte seines Lebens verbrachte er im Ausland«, heißt es in der »Geschichte der klassischen russischen Literatur«, einst im Aufbau-Verlag Berlin und Weimar erschienen. Dass Bunin als erster russischer Schriftsteller 1933 den Literaturnobelpreis erhalten hatte, wird nicht einmal erwähnt.
Der Hauptschauplatz von Aldanows Roman ist zwar Paris in den 1930er Jahren, aber es werden darin russisch-sowjetische Verhältnisse, Bedingungen, Fragen und Probleme auf eine Weise verhandelt, die wie eine Vorausspiegelung heutiger Verhältnisse wirken. Es ist die Zeit, da jeder in der Sowjetunion Angst hat – und wenn er sich außerhalb seines Landes befindet, erst recht. In Spanien tobt der Bürgerkrieg, sozusagen die Probeinszenierung für den kommenden Weltkrieg.
Die faszinierende Geschichte hebt an in einem Zug, der von Moskau Richtung Westen fährt. An Bord der Botschafter Kangarow-Moskowski, seine Frau, jeder vom anderen angeödet. Ferner der Armeekommandeur Tamarin, Offizier bereits unter dem Zaren, Nadeschda Iwanowna, eine folgsame Stenografin mit literarischen Ambitionen, und ein Mann, in dem die Furcht, die Stalin jedem »Sowjetbürger« verursachte, inkarniert: Wislicenus, der natürlich nicht so heißt, er ist Berufsrevolutionär und Geheimdienstler. Allerdings fürchtet sich er sich auch: vor Krankheit, vor Geheimdiensten wie der sowjetischen GPU, aber auch vor der deutschen GESTAPO, vielleicht sogar vor sich selbst. Sein schmähliches Ende übertrifft dann gar noch seine Ahnungen.
Verwoben wird das Schicksal dieser Menschen, von denen einzig Nadeschda Iwanowna fast ungerupft davonkommt, mit einer großen Erzählung über den berühmten französischen Schriftsteller Vermandois, Kommunist natürlich. Vermandois kämpft mit dem Stoff und der Gestaltung eines neuen Romans, mit seinem Alter, seiner bösartigen Haushälterin, der drohenden Geldknappheit, den Banausen und Schwätzern in seiner Umgebung. Besonders viel Nervenkraft kostet ihn die kunstsinnige Gräfin Bellancombre, die er freilich auch nicht entbehren kann. Am meisten jedoch setzt ihm eine Mordgeschichte zu, die ihm gefährlich nahekommt und seinen Arbeitsfrieden stört: Sein von ihm nicht eben üppig bezahlter Sekretär Alvera ist auf die Idee gekommen, einen Mord wie in Dostojewskis Roman »Verbrechen und Strafe« à la Raskolnikow zu begehen. Wie er ausgeführt wird, wie der intellektuelle Mörder mit seinen Klügeleien scheitert, von der Polizei ergriffen und nach einer Art Schauprozess guillotiniert wird, diese Schilderungen gehören in ihrer abgründigen, bitteren Ironie zu den Höhenpunkten des meisterhaft erzählten Romans.
Doch auch die Schicksale der anderen Figuren schlagen den Leser in den Bann, denn sie leben alle am Anfang ihres Endes. Botschafter Kangarows Karriere- und Gesundheitskurve zeigt nach unten, Schreibfräulein Nadeschda Iwanowna, die ihn zumindest erotisch »erlösen« könnte, weist ihn ab. Des Botschafters Frau ist nichts ohne ihren Mann. Der undurchsichtige Wislicenus leidet an Angina pectoris, die er zwar kleinredet, aber die immer körperlicher werdende Furcht lässt sein Leben erlahmen – eine wirkliche oder vielleicht auch nur vermeintliche Verfolgungsjagd hält er nicht aus. Der feinsinnige Armeekommandeur Tamarin wird urplötzlich aus seinen militärhistorischen Studien gerissen, die er in Paris treiben darf. Er wird nach Spanien befohlen und soll über den Stand des Bürgerkriegs berichten.
Über allen schwebt die Angst, die aus Moskau bis nach Frankreich und Spanien weht. Sie wirkt auf alle Lebensentscheidungen ein, sie lässt den Botschafter, den Kommandeur, den Berufsrevolutionär und Geheimdienstmann zu kleinen Kindern werden, die sich dauernd fragen, was wohl der furchtbare Mann im Kreml von ihnen weiß und wie er über sie denkt. Und die, weil sie eben keine »große Rolle« spielt, freier agierende und freier wirkende Nadeschda Iwanowna gerät in die Fänge des stalinistischen Systems und Regimes, denn sie hat vor, Schriftstellerin zu werden. Ihre erste Erzählung wird in Moskau tatsächlich zum Druck angenommen, denn »der ideologische Gehalt« ist aktuell, und Nadeschda kommt, als sie darüber nachsinnt, nun Berufsschriftstellerin zu werden, der Terminus »professionelle Prostitution« in den Kopf. Mit ihrer kleinen Freiheit wird es vorbei sein, auch wenn der Karrieresprung sie in Euphorie versetzt.
Die aktuelle, fast prophetische Wirkkraft des Romans entsteht aus der überzeugenden Darstellung der politischen und sittlichen Katastrophe Russlands, die sich Ende der Dreißigerjahre zum europäischen Verhängnis ausgewachsen hat. In Deutschland herrschen dem stalinistischen System nicht unähnliche Verhältnisse, in Italien ist Mussolini an der Macht, in Spanien greift General Franco danach. Es ist nichts mehr zu hoffen: Die sowjetischen Ängste weiten sich zum europäischen Schrecken aus.
Sehr eindringlich hat Mark Aldanow die Ohnmacht der Demokratie beschrieben – und es gehört zu den großen Vorzügen seines Werkes, dass man die mitunter recht ausführlichen politischen und philosophischen Debatten der Figuren mit Interesse und Gewinn liest. Der Schriftsteller Vermandois erkennt die Maskeraden: »Unglücklicherweise sind von den gesellschaftspolitischen Programmen, die es heute in der Welt gibt, die grandiosen widerwärtig und idiotisch, während die einigermaßen vernünftigen auf abstoßende Weise armselig und kleinkariert sind.« Er begreift, wie sehr – und da ist es fast, als spräche er zu uns – die Mystik das politische Tagesgeschäft bestimmt. Und er begreift, dass er absolut nichts ausrichten kann. Jedoch: Als Botschafter Kangarow ihm die Veröffentlichung seiner gesammelten Werke in der Sowjetunion in Aussicht stellt, fragt er in einem Wutanfall: »Sie wollen also meine Werke kaufen, wenn ich ein Telegramm an diesen … Stalin schicke?« Und dann wird in einer großen Schlussrede aus Vermandois Aldanow, der konstatiert, dass aus dem Kreml das Böse kommt, der Terror, die Grausamkeit, alles das, was über das nachahmende und ganz nahe Hitlerdeutschland auch nach ihm greifen wird. Und darum kann er nur schreiend mit einem Wort antworten: »Merde …«
Das Wort, deplatziert, vulgär, hilflos, es zeigt den Anfang vom Ende der Kultur. Und dieses Ende ist die Quintessenz des Romans und seine ganz gegenwärtige Botschaft. Er führt uns vor, vor welchen Entwicklungen wir stehen könnten. Selten erreicht ein gut achtzig Jahre alter Roman eine derart scharfe Aktualität.
Mark Aldanow: Der Anfang vom Ende. Roman, Rowohlt Verlag 2023, 688 S., 38 €.