In ihrem Beitrag »Wann wird man je verstehn?« (Ossietzky 5/2021) stellen die Autoren Manfred Lotze und Ekkehard Basten das Vorhandensein einer Seuche oder Pandemie im Zusammenhang mit Corona und COVID19 in Abrede. Sie kritisieren die Corona-Schutzmaßnahmen als »seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht dagewesene Einschränkungen der verfassungsmäßigen Rechte« als unverhältnismäßig und fordern die »sofortige Aufhebung der ›epidemischen Lage von nationaler Tragweite‹«. Zudem suggerieren die Autoren, die Corona-Eindämmungsmaßnahmen von Bund und Ländern folgten in Wahrheit »überzuordnenden Plänen« der Gates-Stiftung, des Weltwirtschaftsforums und anderer. Diese Behauptungen sollten nicht unwidersprochen bleiben.
Mit der Leugnung einer Pandemie oder Seuche begeben sich Lotze und Basten nicht nur in Widerspruch zu den Analysen der Weltgesundheitsorganisation, der großen Mehrheit der Virologen weltweit und der Regierungen so unterschiedlicher Länder wie der EU-Staaten, Russlands, Chinas und Kubas. Sie scheinen zudem auch nicht die Definitionen von Seuche und Pandemie zu kennen. Denn als Seuche wird eine sich schnell ausbreitende ansteckende und gefährliche Infektionskrankheit bezeichnet – der Begriff an sich besagt noch nichts darüber, wie tödlich diese Krankheit ist. Und eine Pandemie ist per Definition schlicht eine weltweite Epidemie, deren Vorhandensein oder Nichtvorhandensein nicht mit Zahlen aus Deutschland widerlegt werden kann. Selbst ein Ende der »epidemischen Lage von nationaler Tragweite« in Deutschland würde nicht das Ende der Pandemie bedeuten, da das Virus ja nicht an der Nationalstaatsgrenze stehen bleibt.
»Müssten also die Schäden durch das Virus nicht viel größer sein als die negativen Folgen der Maßnahmen zur Eindämmung?«, fragen Lotze/Basten. »Sie müssten real so groß sein, dass man die massiven Eingriffe als notwendigen Schutz in Kauf nimmt. Zu wessen Schutz? Um die von Covid fast ausschließlich betroffenen sehr alten Menschen (überwiegend mit Vorerkrankungen) zu schützen.« Ein solches Aufrechnen des Lebensrechts von Senioren gegenüber Einschränkungen für andere Altersgruppen sollte sich aus einer humanistischen Perspektive verbieten. Vielmehr sollte es die Pflicht einer solidarischen Gesellschaft sein, alles zum Schutze dieser Menschen zu unternehmen. Darüber hinaus ist die Behauptung, die »Gefährdeten sind weit überwiegend über 80 Jahre alt«, schlicht falsch. Vielmehr zählen 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung in Deutschland aufgrund von Alter und/oder Vorerkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes, Herz-Rhythmus-Störungen oder auch Fettleibigkeit zur Corona-Risikogruppe. Es ist zwar richtig, dass Corona bei Älteren häufiger zum Tode führt. Daraus abzuleiten, Corona sei für andere Altersgruppen weniger oder gar nicht gefährlich, ignoriert, dass es in allen Altersgruppen zu Todesfällen kam und gerade bei der zweiten Welle vornehmlich jüngere Menschen betroffen waren. Zum anderen werden mit dieser Argumentation die häufigen langfristigen gesundheitlichen Folgen einer Corona-Infektion bis hin zu Berufsunfähigkeit durch ständige massive Erschöpfung gerade auch bei Jüngeren ausgeblendet.
Lotze/Basten behaupten, dass 99 Prozent der untersuchten Covid-Sterbefälle an Vorerkrankungen litten und daher nicht »an«, sondern allenfalls »mit« Corona gestorben seien. Dabei wird unterschlagen, dass viele der Toten ohne die zusätzliche Corona-Infektion nicht ihren Vorerkrankungen erlegen wären. Zudem gibt es auch andere Untersuchungen wie zuletzt am Institut für Pathologie am Universitätsklinikum Kiel, wonach in 85 Prozent der Sterbefälle mit Corona infizierte Menschen tatsächlich an COVID-19 gestorben sind.
Die Linksfraktion im Bundestag und andere kritisieren zu Recht, dass die Entscheidungen über die Lockdown-Maßnahmen unter weitgehender Umgehung der Parlamente auf einer in der verfassungsmäßigen Ordnung der BRD nicht vorgesehenen Kungelrunde der Kanzlerin mit den Länderchefs erfolgen. Von Unkenntnis der politischen Verhältnisse geprägt erscheint allerdings die von Lotze/Basten intendierte Unterstellung, die Kanzlerinnen-Ministerpräsidenten-Runde handele gar nicht »so planlos, chaotisch«, sondern folge vielmehr Plänen der Gates-Stiftung und anderer. Diese Anti-Pandemie-Strategie der Gates-Stiftung, des Weltwirtschaftsforums und des Johns-Hopkins Centers for Health Security namens »Event 201« sei bereits vor 20 Jahren entwickelt worden, behaupten Lotze/Basten. Tatsächlich aber war Event 201 eine von den genannten Institutionen erst am 18. Oktober 2019 durchgeführte virtuelle Pandemie-Übung. Wie deutsche Regierungsstellen in der Kürze der Zeit bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie im folgenden Jahr die Ergebnisse dieser zwar nicht geheimen, aber wohl nur von einem Fachpublikum verfolgten Übung so verinnerlicht haben sollen, dass sie diese in praktische Politik überführen, bleibt das Geheimnis der Autoren. Die politischen Entscheidungsträger in Deutschland handeln doch nicht deswegen »so planlos, chaotisch«, um davon abzulenken, dass sie einem übergeordneten Masterplan folgen. Sie handeln vielmehr planlos, gerade weil sie keinen solchen Plan haben. Denn das kapitalistische System mit seinen vielen partikularen Profitinteressen läuft einem planmäßigen Agieren in der Krise zuwider. Die Kanzlerin muss als ideelle Gesamtkapitalistin das Weiterfunktionieren der gesamten deutschen Ökonomie im Blick haben und versucht daher den Spagat, einerseits den Gesundheitsschutz der Bevölkerung zu gewährleisten und andererseits die Profite der Wirtschaft nicht zu schmälern. Die Ministerpräsidenten der Länder wiederum stehen – auch mit Blick auf die nächsten Wahlen – unter Druck der unter Existenzängsten leidenden Mittel- und Kleinunternehmer, die lieber heute als morgen wieder öffnen würden. So kommt es zu dem Widerspruch, dass zwar Aktivitäten im privaten und Freizeitbereich sowie einzelne Branchen wie Gastronomie und Kultur massiv reglementiert werden, aber gleichzeitig ein wirklicher, auch die Produktion einbeziehender Lockdown ausbleibt. Die Folge ist, dass sich die Zahl der Neuinfektionen nicht auf ein beherrschbares Niveau drücken lässt, ohne bei kleinen Lockerungen erneut steil anzusteigen, während gleichzeitig in der Tat viele Unternehmen und Selbstständige wirtschaftlich ruiniert werden. Die von vielen Wissenschaftlern, aber auch linken Aktivisten und Beschäftigten im Gesundheitswesen getragene Kampagne »Zero Covid« (https://zero-covid.org/) kritisiert dies zu Recht und fordert stattdessen einen zeitlich begrenzten echten, alle Bereiche einschließlich der Wirtschaft umfassenden Voll-Lockdown, wie er etwa in zahlreichen asiatischen Staaten oder Australien erfolgreich war.
Dass in der Corona-Krise sich die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft, ist leider wahr. Dahinter steckt allerdings kein von Gates oder dem Weltwirtschaftsforum ausgearbeiteter Masterplan, sondern schlicht die Realität, dass der Klassenkampf von oben in der Krise nicht pausiert. Es liegt in der Logik des Kapitalismus, dass jede Krise – egal ob Krieg, Inflation, das Platzen von Finanzspekulationsblasen oder eben Corona – zu einer neuen Runde der Kapitalakkumulation führt, in der die Großen die Kleinen fressen.
Vergleiche mit Ländern, die ohne Lockdown-Politik besser leben als wir, würden nicht unabhängig diskutiert, beklagen Lotze und Basten, ohne zu benennen, welche Länder das denn sein sollen. Meinen sie Schweden, das lange auf freiwillige Rücksichtnahme seiner Bürger setzte, bis die Todesrate dort im Vergleich zu den Nachbarländern so steil in die Höhe geschnellt ist, dass das schwedische Modell als gescheitert gelten muss? Oder meinen sie manche asiatischen Staaten, wo längst wieder Normalität ohne Lockdown herrscht – allerdings nur, weil dort bereits zu Beginn der Pandemie ein harter und umfassender Lockdown vollzogen wurde und bei kleinsten Neuinfektionsherden wieder örtlich begrenzte Lockdown-Maßnahmen ergriffen werden?
Im ersten Lockdown im vergangenen Frühjahr wurde das Versammlungsrecht in der Tat weitestgehend ausgehebelt. Das wurde von vielen zu Recht scharf kritisiert. Mittlerweile findet längst wieder eine Vielzahl von Demonstrationen statt, teilweise, wie die Gedenkdemonstration für das Massaker von Hanau, in Berlin mit Zehntausenden Teilnehmern. Die Veranstalter und die Mehrheit der Teilnehmer achten, zumindest bei den fortschrittlichen Demonstrationen, anders als die sogenannten Querdenker, von sich aus auf die als sinnvoll angesehenen Masken- und Abstandsregeln. Natürlich müssen wir immer wachsam bleiben gegenüber Versuchen der Regierenden, das Versammlungsrecht einzuschränken – solche Versuche gibt es ja regelmäßig und nicht nur in der Corona-Krise. Die diesjährigen Polizeiangriffe auf die Liebknecht-Luxemburg-Demonstration wurden ja nicht mit dem Infektionsschutzgesetz begründet, sondern mit vermeintlich verbotenen FDJ-Fahnen.
Eine Art der Pandemie kennen Lotze/Basten dann doch: die angebliche Angst-Pandemie. Gemeint sind all diejenigen Bürgerinnen und Bürger, die nicht nur zu ihrem eigenen Schutz, sondern insbesondere zum Schutze der Gesundheit anderer aus Überzeugung heraus und eben nicht aus bloßem Untertanengeist die vielfach unbequemen und einschränkenden Hygiene-Regeln im Alltag einhalten. Das Motiv dafür ist allerdings weniger Angst, sondern Solidarität.
Lotze und Basten fordern die sofortige Aufhebung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite, Schutzmaßnahmen sollen nur auf freiwilliger Basis weiterhin empfohlen werden. Es darf bezweifelt werden, dass die Hygiene-Maßnahmen dann in ausreichendem Maße von der großen Mehrheit der Bevölkerung noch befolgt würden – insbesondere, da dann auch die (völlig unzureichenden) finanziellen Hilfen von staatlicher Seite für geschlossene Unternehmen und Betriebe wegfielen. Übersehen wird, dass gerade abhängig Beschäftigte sich für einen Großteil ihrer Tageszeit eben nicht freiwillig zum Befolgen oder Nichtbefolgen von Maßnahmen entscheiden können. Vielmehr fielen dann selbst die heute geltenden, vielfach unzureichenden Schutzmaßnahmen für die Beschäftigten in der Wirtschaft, in Schulen und im Gesundheitswesen weg oder wären vom guten Willen der Unternehmer und Schulleitungen abhängig. Als Angst-Pandemie ließe sich allerdings mit Fug und Recht die auch von Lotze und Basten geschürte Furcht vor Impfungen gegen Covid19 bezeichnen.
Uneingeschränkt zuzustimmen ist Lotze/Basten lediglich bei ihrer Feststellung: »Die Länder mit den größten Corona-Schadenmeldungen sind jene, in denen ein Sozialabbau mit fehlender Gesundheitsversorgung für alle am radikalsten erfolgte« und ihrer daraus abgeleiteten Forderung, die Gesundheitssysteme sollten nicht profitorientiert sein, sondern allein dem Gemeinwohl dienen.