Im berühmten englischen Seebad Brighton gehen seit dem späten 18. Jahrhundert namhafte Schriftsteller ein und aus. 1775 etwa staunte der deutsche Dichter Georg Christoph Lichtenberg über den im Sommer viel frequentierten seeluftigen Ort am Ärmelkanal, und Theodor Fontane befand 1844: »Brighton ist die schönste Stadt, die ich jemals kennenlernte.« Politikerinnen und Politiker kennen die Stadt mit dem einzigen Wahlkreis, der durch die Grünen (Green Party) im Parlament vertreten ist, seit Jahrzehnten auch als Anziehungspunkt für Parteitage. Die Labour Party hält seit 1921 in größeren und kleineren Abständen ihre alljährliche Konferenz in Brighton ab – seit gut 40 Jahren häufig alternierend mit Blackpool und Liverpool.
Auf dem Ende September in Brighton abgehaltenen Parteitag ging es zwar auch um den Brexit und die damit verbundenen, von den deutschen Leitmedien eifrig kommentierten und hochstilisierten Meinungsverschiedenheiten. Fakt ist, dass sich Labour anders als die Liberaldemokraten nicht auf den EU-Verbleib festgelegt hat und die Entscheidung über das weitere Vorgehen auf einer späteren Konferenz treffen will. Festgelegt hat die nach wie vor von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern geprägte alte Arbeiterpartei beim Parteitag in Brighton dafür wahrlich Historisches, was bezeichnenderweise kaum berichtet wurde. Sollte Labour bei den wohl schon bald anstehenden Neuwahlen allein oder in einer Koalition an die Macht kommen, wird das Vereinigte Königreich als erstes großes Austeritätsland dem Neoliberalismus mehr oder weniger heftig an die Gurgel gehen. Schon der Beschluss, das Verbot von Privatschulen ins Parteiprogramm aufzunehmen, spricht Bände. In ihnen werden zwar nur sieben Prozent der Schülerinnen und Schüler unterrichtet und erzogen, aber diese kleine Gruppe stellte bisher immerhin gut 65 Prozent der höheren Richter, 52 Prozent der Staatssekretäre und mehr als 40 Prozent der Zeitungskolumnisten. Allein die legendäre Eliteschule Eton hat bislang zwanzig Premierminister hervorgebracht – sämtlich Tories übrigens, und einer von ihnen ist der auch als Kolumnist auffällig gewordene Boris Johnson …
Mit großer Mehrheit haben die Delegierten im Rahmen von »Labour’s Socialist Green New Deal« das Ziel von Netto-Null-CO2-Emissionen ab dem Jahr 2030 beschlossen. Einschließlich einer Industriestrategie, die grüne Energieerzeugung und den Ausbau hochqualifizierter Arbeitsplätze im privaten Sektor priorisiert. Beschlossen wurde darüber hinaus ein – aus der Sicht der hiesigen SPD zweifellos unglaublich radikales – Wirtschaftsprogramm. Es beinhaltet nichts Geringeres als die Wiederverstaatlichung der Postdienste, Eisenbahnen, Energie- und Wasserversorger sowie die Wiedereingliederung von Regierungsaufgaben und Bereichen des nationalen Gesundheitssystems, die in wachsendem Maße an Fremdanbieter vergeben worden sind.
Da ein postneoliberales Wirtschaftsumbauprogramm nicht zum Nulltarif verwirklicht werden kann, beschlossen die Delegierten eine durch die Kreditaufnahme von bis zu 250 Milliarden Pfund hohe Haushaltsexpansion, die langfristige Investitionen über eine staatliche Investitionsbank ermöglichen soll. Sie beschlossen, die Bank of England zu verpflichten, durch eine Mischung von Kreditzielen, Zinspolitik und anderen Maßnahmen ein jährliches Produktivitätswachstum von drei Prozent zu ermöglichen. Das Kapital dürfte sich nicht zuletzt durch den Beschluss herausgefordert fühlen, die immer größere Ungleichheit bei den Einkommen durch die Erhöhung von Einkommen- und Vermögensteuern zu stoppen und zugleich die Lohn- und Gehaltsverhandlungsmacht durch eine Veränderung der Regulierung der Arbeitsmärkte zu stärken.
Die Labour Party, soviel ist sicher, hat für die Zeiten nach dem Brexit-Geschachere bemerkenswerte Pläne im Köcher. Wenn in Parlament und Regierung der »Jahrmarkt der Eitelkeiten« endlich ein Ende hat – den Fortsetzungsroman schrieb William Makepeace Thackeray 1847/48 übrigens in Brighton – rückt der sozialistisch-ökologische Neustart der Labour Party hoffentlich auch hierzulande nachhaltig ins Debattengeschehen.