Es ist eine kleinteilige, eine miniaturhafte Welt, die der Grafiker, Zeichner, Buchgrafiker, aber auch Schriftsteller und Herausgeber Horst Hussel auf das Papier und andere Materialien brachte. »Ich verfüge nicht über so große Themen, es ist immer eine kleine Besetzung. Ich brauche kein Orchester, die könnte ich gar nicht alle beschäftigen«, sagte der Künstler, der vor mehr als vier Jahren – im November 2017 – verstarb. Aber geblieben sind seine skurrilen Figurationen und Metamorphosen, seine ironisch-hintergründigen Darstellungen. Man könnte sie mit dem Titel eines Grabbe-Dramas benennen: Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Das Logische wird bei ihm oft bis zum Paradoxon gesteigert. Linie und Farbe spielen nebeneinander ihre selbständige bedeutsame Rolle, die sich in der Fantasie des Betrachters zu gemeinsamer Wirkung ergänzen. Die Linie trägt die eigentliche Erzählung vor und schmückt sie mit wenigen, aber sprechenden Details aus; in ihrem arabeskenhaften, ja, verschnörkelten Verlauf wird sie selbst zum Element dieser Erzählung. Die Farbe hat daneben eine ganz andere Aufgabe: Sie berichtet nicht in bunten Lokalfarben, sondern taucht die Zeichnung in das Nuancenspiel einer monochromen Farbigkeit, die alle zeichnerischen Details in einer Gesamtstimmung zusammenfasst.
Aus einer Privatsammlung zeigt jetzt die Berliner Galerie Anke Zeisler mehr als 60 Radierungen, Aquarelle und Collagen Hussels zu den Themen Literatur, Musik und Tanz, mecklenburgische und brandenburgische Landschaften, vor allem aber Figuren wie Köpfe, die gleichsam absichtslos aus dem Amorphen entstehen, ohne erdrückende Dämonie, doch mit dem leichten Schauer des Gruselnden. Mitunter ist die ganze Fläche des Bildfeldes mit farbigen Mustern bedeckt, schmuckhaften Kleinstrukturen, scheinbar ohne Plan aneinandergereiht, aus denen skurrile Gesichter, beunruhigend und bedrängend, Vexierbildern gleich, hervorgehen, die sich das Auge des Betrachters erst zusammensuchen muss. Alles scheint richtungslos, ein Herauswachsen eines Elementes aus dem anderen, eine unendliche Kette von Assoziationen. Eine skurrile Gesellschaft kommt hier zusammen, zu der man gern die Story kennen möchte. Zwischen abstrahierter Menschendarstellung und gegenstandsloser Malerei sind also Zwischenstufen möglich, wie sie Hussel gezeichnet und gemalt hat. Das Bild des Menschen ist als objet trouvé der Fläche eingebunden. Das geht auf die Collagetechnik der Dadaisten zurück, Hussel hat aber auch Ideen aus der Décollage mit einbezogen, indem er sozusagen aus »Altpapier« neue Collagen erschuf.
Er übermalte Kanzleipapiere mit fantastischen Gestalten und zarten Aquarelltönen, schuf nach der Wende eine eigene Währung für eine »Räterepublik Mekelenburg«, womit er mit Witz und Verstand die Illusionen vieler Ostdeutscher attackierte, die ihre ganze Hoffnung auf die D-Mark setzten. Dann wieder – 2002 – erfand er den Komponisten Albrecht Kasimir Bölckow aus dem mecklenburgischen Gägelow, sodass manche sogar an die Wiederentdeckung eines vergessenen Zeitgenossen von Richard Wagner und Verdi glaubten.
Hussel hat Bücher anderer Autoren und eigene Bücher illustriert, er hat unzählige Bucheinbände, Vorsatzpapiere, Vignetten und Signets entworfen. Dabei hielt er nicht viel davon, dass eine Illustration unbedingt den Text interpretieren muss. Sie hat sich als »selbständige Zeichnung« zu erweisen, die »für sich spricht«. Andererseits kam ihm das Illustrieren auch insofern entgegen, weil ja auch seine freie Grafik ein – wenn auch sparsames – erzählerisches Element enthält. In der Tradition eines Paul Scheerbart, Kurt Schwitters oder Daniil Iwanowitsch Charms schrieb er Texte, die sich durch abgründig kühne Umkehrungen der Logik, parodistisch beziehungsreiche Spiele mit der Sprache und logisch-semantische Paradoxien auszeichnen.
Seit 1994 hatte er die Dronte-Presse geführt, einen »Verlag für Sammler und Liebhaber«, und hier vergessene Texte, Erstdrucke zeitgenössischer Autoren, aber auch Eigenes, so sein Singspiel »Landaufenthalt« (mit der Musik von Georg Katzer), herausgebracht, alle mit seinen Radierungen versehen. Dronte, ein im 17. Jahrhunderts ausgestorbener, flugunfähiger Kranichvogel, der auf eine friedliche Umgebung angewiesen war, die ihm die Menschen nicht mehr boten, war ihm ein gutes Omen für seine kostbar ausgestatteten Hommagen an Geistesverwandte, Freundschaftsgaben, Erstdrucke wie Wiederentdeckungen vergangener Literatur. Hussel hat Radierungen auf alten Papieren gedruckt und sie koloriert, aber auch farbenfrohe Aquarelle und Gouachen sind auf Papieren aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert entstanden – eine Begegnung von Jahrhundert zu Jahrhundert fand statt, denn er hat der alten Beschriftung einfach seine Schrift entgegengesetzt –, und 2011 hat er auf den herausgelösten Seiten eines Tokyoter Geschäftsbuchs mit abgestempelten Rechnungen die japanischen Schriftzeichen mit der archetypischen Zeichenhaftigkeit seiner farbigen Übermalung verbunden.
Von der Offenheit des Unbestimmten ist er zu erreichbarer Klarheit und Bestimmtheit fortgeschritten. Alles Gemachte blieb sichtbar, nichts ging verloren. »Man erfindet beim Zeichnen, und Korrekturen gibt es nicht«, sagte er. Das Thema trat erst in der Endphase der Zeichnung im Zustand der Verdichtung und Verbindung aller Ebenen in Erscheinung. Was er zunächst lange im Verborgenen gehalten hatte, seine Figuren und Köpfe, waren aus der psychischen Verletzung heraufströmende Bilder einer leidvollen Existenz, eines schmerzhaft unerlösten Verwundetseins, auch des Zornes und der Wut über den Zustand der Welt, der qualvollen Sorge um die Zukunft. Das Aufdecken der verborgenen Wunden der Welt schien diese unruhigen Kurvaturen, dieses suchende Strichwerk in Bewegung zu halten und dafür Bildzeichen zu setzen. Die wilde Ausdrucksgeste, das Ekstatische, Spontane, die Provokation des Zufälligen, das sind die Verfahren, die ihm Dada, Surrealismus, Art Brut, die »rohe« von Kultur und Zivilisation freie Kunst gesellschaftlicher Außenseiter und die Gruppe COBRA vermittelt haben.
Dass dem in Mecklenburg gebürtigen, seit 1954 in Berlin lebenden Hussel eine norddeutsche Kauzigkeit eigen sei, hat er nicht abgestritten. Berlin würde nicht den Zwang zur Identifikation ausüben wie andere Orte.
Horst Hussel – Radierungen, Aquarelle, Collagen aus einer Privatsammlung. Galerie Anke Zeisler, Gethsemanestr. 9, 10437 Berlin. Geöffnet nach Vereinbarung, 2G mit Maske (Telefon 030 44793 511 oder 0172 830 89 28) bis 9. Februar 2022 sowie in der ESPRESSoBAR, Keithstraße 5, 10787 Berlin, Mo-Fr, 8.00-15.00 Uhr. online http://www.galerie-zeisler.de/aktuell.php.