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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Singe in mir, oh Muse

»Fore­ver young. Dylan« – so hat­te ich vor gut sechs Jah­ren mei­ne Wür­di­gung über­schrie­ben, nach­dem in Stock­holm das Nobel­preis­ko­mi­tee die Ver­lei­hung des Lite­ra­tur­no­bel­prei­ses 2016 an den US-ame­ri­ka­ni­schen Lyri­ker und Sän­ger Bob Dylan bekannt­ge­ge­ben hat­te. Und wie um die Zei­le »May you stay fore­ver young» aus dem schon 1974 ver­öf­fent­lich­ten Song zu bestä­ti­gen, hat der inzwi­schen fast 82-Jäh­ri­ge nach 20 Jah­ren wie­der ein Buch vor­ge­legt, in dem er die Essenz sei­ner Gedan­ken­welt als Poet und Sän­ger zurück­führt auf ihre Ursprün­ge und dabei auf die Vor­bil­der ver­weist, die ihn beein­fluss­ten und die sei­ne poe­ti­sche Kraft mit­präg­ten – oder die ihm ein­fach nur gefal­len haben.

»Die Phi­lo­so­phie des moder­nen Songs« heißt die­ses opu­len­te Werk, pracht­voll ediert, reich­hal­tig mit rund 150 Fotos bestückt, vor­züg­lich aus dem ame­ri­ka­ni­schen Eng­lisch ins Deut­sche über­tra­gen von der in Ber­lin leben­den frei­en Über­set­ze­rin Con­nie Lösch, vor­mals Lite­ra­tur­re­dak­teu­rin bei der Tages­zei­tung jun­ge Welt. 66 Songs hat Dylan aus­ge­wählt, und die Play­list umfasst die Crè­me de la Crè­me des Ame­ri­can Song­book: Detroit City, Tut­ti Frut­ti, Money Honey, My Gene­ra­ti­on, You don’t know me, On the Road again, I got a Woman, On the Street whe­re you live, Vola­re, Lon­don cal­ling, Blue Bayou, Blue Moon, Long tall Sal­ly, Black Magic Woman, Stran­gers in the Night, um nur einen Teil der bekann­te­sten Songs zu nennen.

Ihren Auf­tritt haben – nebst vie­len ande­ren – Bob­by Bare, Per­ry Como, Litt­le Richard, Elvis Pres­ley, The Who, Ricky Nel­son, Bob­by Dar­in, Bing Crosby, The Temp­t­ati­ons, Wil­lie Nel­son, Mar­ty Rob­bins, Ray Charles, The Gra­teful Dead, Roy Orbi­son, Carl Per­kins, War­ren Zevon, Dean Mar­tin, Way­lon Jen­nings, die Eagles, The Clash, Jim­my Reed, San­ta­na, Judy Gar­land, Nina Simo­ne, Frank Sina­tra und selbst­ver­ständ­lich John­ny Cash, der Man in Black, und eben­so selbst­ver­ständ­lich der Folk-Musi­ker und poli­ti­sche Akti­vist Pete Seeger.

Dylans Rück­blick auf Coun­try-, Folk-, Pop- und Rock’n’Roll-Songs grun­diert in den 1940er bis 1960er Jah­ren, aus dem 1970er Dez­en­ni­um sind nur weni­ge Stücke dabei. Das »modern« im Buch­ti­tel ist daher wei­ter zu fas­sen und meint eher Songs, die durch die Jahr­zehn­te bis in die Gegen­wart ihre Leben­dig­keit und Wir­kungs­kraft behal­ten haben.

Das Rüst­zeug zu die­sem Buch erar­bei­te­te sich Dylan auch bei sei­ner Beschäf­ti­gung mit einem ande­ren Medi­um. Vom Mai 2006 bis zum April 2009 mode­rier­te er wöchent­lich die ein­stün­di­ge Satel­li­ten­ra­dio­sen­dung »The­me Time Radio Hour«, deren Musik- und Wort­bei­trä­ge in der Regel nur einem ein­zi­gen Sujet gal­ten. Hier übte er sich in die Ein­ord­nung von Song­wri­tern und Songs, hier sprach »der Sän­ger und Dich­ter mit der Stim­me des wei­sen Mitt­lers histo­ri­scher popu­lä­rer Musik­kul­tu­ren, wel­che die­se Sen­dung zu einem durch­aus hörens­wer­ten Ereig­nis gemacht haben« (so Sascha Sei­ler, seit Anfang 2020 Mit­her­aus­ge­ber von literaturkritik.de, im Som­mer 2017 in einem Kom­men­tar aus Anlass der Nobel­preis­re­de Dylans).

Die 66 Essays sind zwei­ge­teilt: Der Vor­stel­lung des Inhalts in Dylan-typi­scher Art folgt die histo­ri­sche Ein­ord­nung von Lyrics und Inter­pre­ten in den jewei­li­gen zeit­lich-gesell­schaft­li­chen Bezugs­rah­men, bringt die Geschich­ten hin­ter der Geschich­te. »Dabei legt der Mei­ster oft auch sehr wit­zig die Sub­stanz jedes Songs frei und medi­tiert dabei in unnach­ahm­li­cher dylan­es­ker Dik­ti­on über das mensch­li­che Leben und den frag­wür­di­gen Zustand unse­rer Welt. Myste­ri­ös und magisch, prä­zi­se und pro­fund«, heißt es dazu im Klap­pen­text des Buches.

Neh­men wir als Bei­spiel »El Paso«, die von Mar­ty Rob­bins geschrie­be­ne und gesun­ge­ne sen­ti­men­ta­le Coun­try-Bal­la­de aus dem Jah­re 1959, die als Sin­gle-Vinyl­schei­be mit 45 Umdre­hun­gen pro Minu­te in den 1960er Jah­ren auf mei­nem Schall­plat­ten­spie­ler rotierte.

Nach­den­kend über den Text notiert Dylan: »Das ist eine Bal­la­de über die gemar­ter­te See­le, den ket­ze­ri­schen Cow­boy, den Für­sten der Pro­te­stan­ten, der sich ein­fach so im Hand­um­dre­hen in ein tan­zen­des Mäd­chen mit sei­den­wei­cher Haut ver­liebt. (…) Gewehr­feu­er, Blut und plötz­li­cher Tod sehen nach einer typi­schen Western-Bal­la­de aus, sind hier aber alles ande­re als das. Das hier ist der Moloch, die Pyra­mi­de der Sphinx, die dunk­le Kehr­sei­te der Schön­heit; zieht man ihr den Sockel weg, stürzt alles ein. (…) Der Song haut dich um, und noch bevor du wie­der auf­ste­hen kannst, haut er dir noch mal eine rein.«

Das ist der typi­sche Dylan-Sound. Manch­mal etwas ver­nu­schelt und kryp­tisch wie sei­ne Songs, manch­mal purer apho­ri­sti­scher Geistesblitz.

Der 1931 mit 84 Jah­ren gestor­be­ne Groß­va­ter des Sän­gers Mar­ty Rob­bins – die­ser war kurz zuvor gera­de sechs Jah­re alt gewor­den – hat­te im ame­ri­ka­ni­schen Bür­ger­krieg (1861-1865) als Sol­dat auf der Sei­te der Kon­fö­de­rier­ten gekämpft, zog spä­ter als Wun­der­hei­ler durchs Land und wur­de ein gefei­er­ter Wild­west-Dich­ter: »Ein unge­ho­bel­ter Mann, der aus eige­nen Erfah­run­gen über das Leben in der Prä­rie schrieb und des­sen Bücher die Geschich­ten von Män­nern und Frau­en erzäh­len, die die Gren­zen der Ver­ei­nig­ten Staa­ten erwei­ter­ten.« Enkel Mar­ty miss­trau­te zwar »den unglaub­li­chen Geschich­ten sei­nes Groß­va­ters« – er fand, die­ser »kön­ne bes­ser fabu­lie­ren als die Wahr­heit berich­ten«. Den­noch schrieb er irgend­wann Melo­dien zu den Geschich­ten. Und so kam »El Paso« in die Welt, für Dylan der »ulti­ma­ti­ve Mes­sa­ge-Song (…), eine düste­re Geschich­te über unbe­schreib­li­che Schön­heit und den Tod«.

Aber es gibt auch ande­re Sei­ten des facet­ten­rei­chen Künst­lers Bob Dylan. Das soll das zwei­te Bei­spiel zei­gen, sei­ne Refle­xio­nen zu »War«, einem 1969 aus Pro­test gegen den Viet­nam­krieg geschrie­be­nem Anti­kriegs­song. Dylan stellt die von Edwin Starr gesun­ge­ne Ver­si­on vor. Zwar hat­te die damals erfolg­rei­che Gesangs­grup­pe der Temp­t­ati­ons (»Papa Was A Rol­lin’ Stone«) kurz zuvor den Song auf einer LP ver­öf­fent­licht. Die Aus­kopp­lung auf eine ver­kaufs­träch­ti­ge Sin­gle-Schei­be woll­te ihre Plat­ten­fir­ma jedoch nicht den kon­ser­va­ti­ven Fans der Grup­pe zumuten.

Starr »aus der zwei­ten Rei­he« hat­te noch »kei­ne Fan-Base, die er ver­schrecken könn­te«. Und so kam sei­ne Ver­si­on »aggres­si­ver« daher als die der Temp­t­ati­ons. Dem lau­ten Ruf »War« folg­te der Sprech­ge­sang »What is it good for? Abso­lut­e­ly not­hing!«, der zu einem Slo­gan der Anti­kriegs­be­we­gung wur­de. »War« kam als Sin­gle auf den Markt und lan­de­te prompt auf dem ersten Platz der Bill­board Hot 100.

Fünf Sei­ten wid­met Dylan »phi­lo­so­phie­rend« die­sem Song: »Krie­ge brau­chen eine kla­re Bot­schaft, ein auf­fäl­li­ges Bild auf dem Rekru­tie­rungs­pla­kat, einen Slo­gan, eine mit­rei­ßen­de Hym­ne, die sich zum Mar­schie­ren eig­net. Viet­nam dage­gen war ein klei­ner Krieg, ange­facht von der Über­heb­lich­keit und für die Bevöl­ke­rung undurch­sich­tig, nie­mand wuss­te so genau, wofür eigent­lich gekämpft wur­de.« »Und so wie die Geschich­te von den Sie­gern geschrie­ben wird, so ver­hält es sich auch mit dem Krieg. Das Sie­ger­land erklärt, was gewon­nen wur­de. Um die Gräu­el­ta­ten zu fin­den, muss man sich schon die Ver­lie­rer anschau­en. Oder den Anders­den­ken­den zuhören.«

Und: »Als Volk nei­gen wir dazu, sehr stolz auf uns und unse­re Demo­kra­tie zu sein. Wir stel­len uns in eine Kabi­ne, geben unse­re Stim­me ab. (…) Aber die Wahr­heit ist kom­ple­xer. Nach Ver­las­sen der Kabi­ne haben wir genau­so viel Ver­ant­wor­tung wie beim Betre­ten. Wenn die Leu­te, die wir wäh­len, ande­re in den Tod oder Schlim­me­res schicken – Men­schen auf der ande­ren Sei­te der Erd­ku­gel, an die wir kei­nen Gedan­ken ver­schwen­den, weil sie nicht so aus­se­hen und nicht klin­gen wie wir –, und wir nichts tun, um es zu ver­hin­dern, sind wir dann nicht eben­so schuldig?«

Dylan hät­te sei­ne Samm­lung mit Sän­gern und Sän­ge­rin­nen, die ihn früh bein­druckt haben, mühe­los erwei­tern kön­nen, ohne enzy­klo­pä­disch zu wer­den. In sei­ner Nobel­preis­re­de, die, spät ein­ge­reicht, am 5. Juni 2017 vom Nobel­preis­ko­mi­tee ver­öf­fent­licht wur­de, hob er bei­spiels­wei­se Bud­dy Hol­ly (»Peg­gy Sue«) her­vor, der 22-jäh­rig bei einem Flug­zeug­ab­sturz töd­lich ver­un­glückt ist, als Dylan unge­fähr 18 war: »Bud­dy spiel­te die Musik, die ich lieb­te – die Musik, mit der ich auf­ge­wach­sen bin. (…) Und Bud­dy schrieb Songs – Songs mit wun­der­schö­nen Melo­dien und fan­ta­sie­vol­len Stro­phen. Und er sang groß­ar­tig – sang mehr als ein paar Stim­men. Er war der Archetyp.«

In sei­nem Nobel­vor­trag sin­nier­te der Lite­ra­tur­preis­trä­ger auch dar­über, in wel­chem Zusam­men­hang sei­ne Lie­der mit der Lite­ra­tur ste­hen. Nach diver­sen Exkur­sen zu »Moby Dick« von Mel­ville, zu »Im Westen nichts Neu­es« von Remar­que und der »Odys­see« von Homer – mit denen er sich, am Ran­de bemerkt, Pla­gi­ats­vor­wür­fe einer ame­ri­ka­ni­schen Jour­na­li­stin ein­han­del­te, weil er sich bei der Wie­der­ga­be der Hand­lung von »Moby Dick« einer Online-Inter­pre­ta­ti­ons­hil­fe bedient haben soll – schloss er sei­ne Rede mit Wor­ten, die auch am Ende sei­nes neu­en Buches ste­hen könnten:

»Unse­re Songs sind leben­dig im Land der Leben­den. Aber sie sind etwas ande­res als Lite­ra­tur. Sie sol­len gesun­gen, nicht gele­sen wer­den. So wie die Wor­te in den Dra­men Shake­speares auf der Büh­ne gespro­chen wer­den sol­len, so sol­len die Tex­te von Songs gesun­gen wer­den und nicht auf einer Buch­sei­te gele­sen. (…) Noch ein­mal keh­re ich zurück zu Homer: ›Sin­ge in mir, oh Muse, und durch mich erzähl die Geschichte‹.«

Cha­peau, Bob Dylan. A-WOP-BOP-A-LOO-BOP-A-WOP-BAM-BOOM.

 Bob Dylan: Die Phi­lo­so­phie des moder­nen Songs, Ver­lag C.H. Beck, Mün­chen 2022, 352 S., 35 €. – »Fore­ver Young. Bob Dylan« ist in Ossietzky 25/​2016 erschie­nen. »El Paso« ist kosten­los bei You­Tube abruf­bar, auch in der Long-Ver­si­on von 4:44 Minu­ten, eben­so »War« von Edwin Starr, jeweils auch mit Lyrics. Bei den Zita­ten aus der Nobel­preis­re­de fol­ge ich der bei Hoff­mann und Cam­pe erschie­ne­nen Über­set­zung von Hein­rich Detering.