»Forever young. Dylan« – so hatte ich vor gut sechs Jahren meine Würdigung überschrieben, nachdem in Stockholm das Nobelpreiskomitee die Verleihung des Literaturnobelpreises 2016 an den US-amerikanischen Lyriker und Sänger Bob Dylan bekanntgegeben hatte. Und wie um die Zeile »May you stay forever young» aus dem schon 1974 veröffentlichten Song zu bestätigen, hat der inzwischen fast 82-Jährige nach 20 Jahren wieder ein Buch vorgelegt, in dem er die Essenz seiner Gedankenwelt als Poet und Sänger zurückführt auf ihre Ursprünge und dabei auf die Vorbilder verweist, die ihn beeinflussten und die seine poetische Kraft mitprägten – oder die ihm einfach nur gefallen haben.
»Die Philosophie des modernen Songs« heißt dieses opulente Werk, prachtvoll ediert, reichhaltig mit rund 150 Fotos bestückt, vorzüglich aus dem amerikanischen Englisch ins Deutsche übertragen von der in Berlin lebenden freien Übersetzerin Connie Lösch, vormals Literaturredakteurin bei der Tageszeitung junge Welt. 66 Songs hat Dylan ausgewählt, und die Playlist umfasst die Crème de la Crème des American Songbook: Detroit City, Tutti Frutti, Money Honey, My Generation, You don’t know me, On the Road again, I got a Woman, On the Street where you live, Volare, London calling, Blue Bayou, Blue Moon, Long tall Sally, Black Magic Woman, Strangers in the Night, um nur einen Teil der bekanntesten Songs zu nennen.
Ihren Auftritt haben – nebst vielen anderen – Bobby Bare, Perry Como, Little Richard, Elvis Presley, The Who, Ricky Nelson, Bobby Darin, Bing Crosby, The Temptations, Willie Nelson, Marty Robbins, Ray Charles, The Grateful Dead, Roy Orbison, Carl Perkins, Warren Zevon, Dean Martin, Waylon Jennings, die Eagles, The Clash, Jimmy Reed, Santana, Judy Garland, Nina Simone, Frank Sinatra und selbstverständlich Johnny Cash, der Man in Black, und ebenso selbstverständlich der Folk-Musiker und politische Aktivist Pete Seeger.
Dylans Rückblick auf Country-, Folk-, Pop- und Rock’n’Roll-Songs grundiert in den 1940er bis 1960er Jahren, aus dem 1970er Dezennium sind nur wenige Stücke dabei. Das »modern« im Buchtitel ist daher weiter zu fassen und meint eher Songs, die durch die Jahrzehnte bis in die Gegenwart ihre Lebendigkeit und Wirkungskraft behalten haben.
Das Rüstzeug zu diesem Buch erarbeitete sich Dylan auch bei seiner Beschäftigung mit einem anderen Medium. Vom Mai 2006 bis zum April 2009 moderierte er wöchentlich die einstündige Satellitenradiosendung »Theme Time Radio Hour«, deren Musik- und Wortbeiträge in der Regel nur einem einzigen Sujet galten. Hier übte er sich in die Einordnung von Songwritern und Songs, hier sprach »der Sänger und Dichter mit der Stimme des weisen Mittlers historischer populärer Musikkulturen, welche diese Sendung zu einem durchaus hörenswerten Ereignis gemacht haben« (so Sascha Seiler, seit Anfang 2020 Mitherausgeber von literaturkritik.de, im Sommer 2017 in einem Kommentar aus Anlass der Nobelpreisrede Dylans).
Die 66 Essays sind zweigeteilt: Der Vorstellung des Inhalts in Dylan-typischer Art folgt die historische Einordnung von Lyrics und Interpreten in den jeweiligen zeitlich-gesellschaftlichen Bezugsrahmen, bringt die Geschichten hinter der Geschichte. »Dabei legt der Meister oft auch sehr witzig die Substanz jedes Songs frei und meditiert dabei in unnachahmlicher dylanesker Diktion über das menschliche Leben und den fragwürdigen Zustand unserer Welt. Mysteriös und magisch, präzise und profund«, heißt es dazu im Klappentext des Buches.
Nehmen wir als Beispiel »El Paso«, die von Marty Robbins geschriebene und gesungene sentimentale Country-Ballade aus dem Jahre 1959, die als Single-Vinylscheibe mit 45 Umdrehungen pro Minute in den 1960er Jahren auf meinem Schallplattenspieler rotierte.
Nachdenkend über den Text notiert Dylan: »Das ist eine Ballade über die gemarterte Seele, den ketzerischen Cowboy, den Fürsten der Protestanten, der sich einfach so im Handumdrehen in ein tanzendes Mädchen mit seidenweicher Haut verliebt. (…) Gewehrfeuer, Blut und plötzlicher Tod sehen nach einer typischen Western-Ballade aus, sind hier aber alles andere als das. Das hier ist der Moloch, die Pyramide der Sphinx, die dunkle Kehrseite der Schönheit; zieht man ihr den Sockel weg, stürzt alles ein. (…) Der Song haut dich um, und noch bevor du wieder aufstehen kannst, haut er dir noch mal eine rein.«
Das ist der typische Dylan-Sound. Manchmal etwas vernuschelt und kryptisch wie seine Songs, manchmal purer aphoristischer Geistesblitz.
Der 1931 mit 84 Jahren gestorbene Großvater des Sängers Marty Robbins – dieser war kurz zuvor gerade sechs Jahre alt geworden – hatte im amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865) als Soldat auf der Seite der Konföderierten gekämpft, zog später als Wunderheiler durchs Land und wurde ein gefeierter Wildwest-Dichter: »Ein ungehobelter Mann, der aus eigenen Erfahrungen über das Leben in der Prärie schrieb und dessen Bücher die Geschichten von Männern und Frauen erzählen, die die Grenzen der Vereinigten Staaten erweiterten.« Enkel Marty misstraute zwar »den unglaublichen Geschichten seines Großvaters« – er fand, dieser »könne besser fabulieren als die Wahrheit berichten«. Dennoch schrieb er irgendwann Melodien zu den Geschichten. Und so kam »El Paso« in die Welt, für Dylan der »ultimative Message-Song (…), eine düstere Geschichte über unbeschreibliche Schönheit und den Tod«.
Aber es gibt auch andere Seiten des facettenreichen Künstlers Bob Dylan. Das soll das zweite Beispiel zeigen, seine Reflexionen zu »War«, einem 1969 aus Protest gegen den Vietnamkrieg geschriebenem Antikriegssong. Dylan stellt die von Edwin Starr gesungene Version vor. Zwar hatte die damals erfolgreiche Gesangsgruppe der Temptations (»Papa Was A Rollin’ Stone«) kurz zuvor den Song auf einer LP veröffentlicht. Die Auskopplung auf eine verkaufsträchtige Single-Scheibe wollte ihre Plattenfirma jedoch nicht den konservativen Fans der Gruppe zumuten.
Starr »aus der zweiten Reihe« hatte noch »keine Fan-Base, die er verschrecken könnte«. Und so kam seine Version »aggressiver« daher als die der Temptations. Dem lauten Ruf »War« folgte der Sprechgesang »What is it good for? Absolutely nothing!«, der zu einem Slogan der Antikriegsbewegung wurde. »War« kam als Single auf den Markt und landete prompt auf dem ersten Platz der Billboard Hot 100.
Fünf Seiten widmet Dylan »philosophierend« diesem Song: »Kriege brauchen eine klare Botschaft, ein auffälliges Bild auf dem Rekrutierungsplakat, einen Slogan, eine mitreißende Hymne, die sich zum Marschieren eignet. Vietnam dagegen war ein kleiner Krieg, angefacht von der Überheblichkeit und für die Bevölkerung undurchsichtig, niemand wusste so genau, wofür eigentlich gekämpft wurde.« »Und so wie die Geschichte von den Siegern geschrieben wird, so verhält es sich auch mit dem Krieg. Das Siegerland erklärt, was gewonnen wurde. Um die Gräueltaten zu finden, muss man sich schon die Verlierer anschauen. Oder den Andersdenkenden zuhören.«
Und: »Als Volk neigen wir dazu, sehr stolz auf uns und unsere Demokratie zu sein. Wir stellen uns in eine Kabine, geben unsere Stimme ab. (…) Aber die Wahrheit ist komplexer. Nach Verlassen der Kabine haben wir genauso viel Verantwortung wie beim Betreten. Wenn die Leute, die wir wählen, andere in den Tod oder Schlimmeres schicken – Menschen auf der anderen Seite der Erdkugel, an die wir keinen Gedanken verschwenden, weil sie nicht so aussehen und nicht klingen wie wir –, und wir nichts tun, um es zu verhindern, sind wir dann nicht ebenso schuldig?«
Dylan hätte seine Sammlung mit Sängern und Sängerinnen, die ihn früh beindruckt haben, mühelos erweitern können, ohne enzyklopädisch zu werden. In seiner Nobelpreisrede, die, spät eingereicht, am 5. Juni 2017 vom Nobelpreiskomitee veröffentlicht wurde, hob er beispielsweise Buddy Holly (»Peggy Sue«) hervor, der 22-jährig bei einem Flugzeugabsturz tödlich verunglückt ist, als Dylan ungefähr 18 war: »Buddy spielte die Musik, die ich liebte – die Musik, mit der ich aufgewachsen bin. (…) Und Buddy schrieb Songs – Songs mit wunderschönen Melodien und fantasievollen Strophen. Und er sang großartig – sang mehr als ein paar Stimmen. Er war der Archetyp.«
In seinem Nobelvortrag sinnierte der Literaturpreisträger auch darüber, in welchem Zusammenhang seine Lieder mit der Literatur stehen. Nach diversen Exkursen zu »Moby Dick« von Melville, zu »Im Westen nichts Neues« von Remarque und der »Odyssee« von Homer – mit denen er sich, am Rande bemerkt, Plagiatsvorwürfe einer amerikanischen Journalistin einhandelte, weil er sich bei der Wiedergabe der Handlung von »Moby Dick« einer Online-Interpretationshilfe bedient haben soll – schloss er seine Rede mit Worten, die auch am Ende seines neuen Buches stehen könnten:
»Unsere Songs sind lebendig im Land der Lebenden. Aber sie sind etwas anderes als Literatur. Sie sollen gesungen, nicht gelesen werden. So wie die Worte in den Dramen Shakespeares auf der Bühne gesprochen werden sollen, so sollen die Texte von Songs gesungen werden und nicht auf einer Buchseite gelesen. (…) Noch einmal kehre ich zurück zu Homer: ›Singe in mir, oh Muse, und durch mich erzähl die Geschichte‹.«
Chapeau, Bob Dylan. A-WOP-BOP-A-LOO-BOP-A-WOP-BAM-BOOM.
Bob Dylan: Die Philosophie des modernen Songs, Verlag C.H. Beck, München 2022, 352 S., 35 €. – »Forever Young. Bob Dylan« ist in Ossietzky 25/2016 erschienen. »El Paso« ist kostenlos bei YouTube abrufbar, auch in der Long-Version von 4:44 Minuten, ebenso »War« von Edwin Starr, jeweils auch mit Lyrics. Bei den Zitaten aus der Nobelpreisrede folge ich der bei Hoffmann und Campe erschienenen Übersetzung von Heinrich Detering.