Annalena Baerbocks im Juni vorgelegte und von der Bundesregierung beschlossene Sicherheitsstrategie unter dem Motto »Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig.« verkauft die Militärstrategie der Bundeswehr und der Nato als mit der Nachhaltigkeit vereinbar. Im ersten Kapitel heißt es unter der Überschrift »In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen«: »Deutschlands sicherheitspolitisches Umfeld ist im Umbruch, wir erleben eine Zeitenwende. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ist ein Bruch des Völkerrechts und der europäischen Sicherheitsordnung.« Das Papier nennt auch China als Rivalen.
Die Aussage, Russland habe die Friedensordnung zerstört, stellt die Realität auf den Kopf. Zwar ist die Invasion Russlands in die Ukraine durch nichts zu legitimieren, sie bricht internationales Recht und stellt in vielerlei Hinsicht einen Bruch der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« der Vereinten Nationen dar. Doch die Europäische Friedensordnung hatte lange zuvor die Nato mit ihrer Osterweiterung gebrochen. Diese Tatsache versuchen die Nato und mit ihr die Meinungsmacher in den Staaten des Militärbündnisses sowie die führenden Politiker aus der Wahrnehmung der Öffentlichkeit auszublenden. Niemand wird ernsthaft erklären können, inwiefern die Nato-Expansion mit Formulierungen im 2+4-Vertrag zum Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes oder mit der OSZE-Sicherheitscharta von 1999 in Einklang zu bringen ist. Die Sicherheitscharta definiert sich als »Plattform für kooperative Sicherheit«, und sie beschreibt die europäische Friedensordnung wie folgt: »Wir werden unsere Beziehungen im Einklang mit dem Konzept der gemeinsamen und umfassenden Sicherheit gestalten, im Sinne von gleichberechtigter Partnerschaft, Solidarität und Transparenz. Die Sicherheit jedes Teilnehmerstaats ist untrennbar mit der Sicherheit aller anderen verbunden. Wir werden uns mit der menschlichen, wirtschaftlichen, politischen und militärischen Dimension der Sicherheit als einem unteilbaren Ganzen befassen.« In diesen Zusammenhang ist das Recht aller Staaten eingerahmt, ihre »Sicherheitsvereinbarungen einschließlich von Bündnisverträgen frei zu wählen«. Sofort im Anschluss an diese Sätze heißt es im gleichen Artikel der Charta: »Jeder Teilnehmerstaat wird diesbezüglich die Rechte aller anderen achten. Sie werden ihre Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten festigen. Innerhalb der OSZE kommt keinem Staat, keiner Staatengruppe oder Organisation mehr Verantwortung für die Erhaltung von Frieden und Stabilität im OSZE-Gebiet zu als anderen.“
Das »Sicherheitsstrategie« genannte Papier der Bundesregierung baut seine Konzeption auf einer Täuschung auf, es verletzt damit die Sicherheitsinteressen dieses Landes im Ansatz, da es Sicherheit nur gemeinsam und in Wahrhaftigkeit gibt. Unter »Was wir tun« legt das Papier fest: »Unser Bekenntnis zu Nato und EU ist unverrückbar. Wir stehen unverbrüchlich zum Versprechen auf gegenseitigen Beistand nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrags. Die Bundeswehr stärken wir als einen Grundpfeiler der Verteidigung in Europa. Landes- und Bündnisverteidigung ist Kernauftrag der Bundeswehr; dieser umfasst auch unseren Beitrag zur Abschreckungsfähigkeit der Allianz.« Abschreckung gilt hier vor allem gegen Russland, womit der Anspruch der kollektiven gemeinsamen Sicherheit endet.
Eine Friedens- und Sicherheitsordnung, wie die Menschen sie in der ökologisch, militärisch und ökonomisch destabilisierten internationalen Ordnung brauchen, respektiert die internationalen Verträge und verfälscht ihre Aussagen nicht im Sinne eigener Interessen, die andere Staaten zu Gegnern machen. Nur ein Sicherheits-Konzept, das auf die Bewahrung der Lebensgrundlagen der Menschheit gerichtet ist, wird seinem Anspruch gerecht.
Die Meinungsmache in großen Teilen der Öffentlichkeit lenkt die Wahrnehmung und das Denken vieler Menschen mit einem selektiven Blick und mit doppelten Standards auf eine Bedrohungslage, die vorrangig oder gar ausschließlich von China und Russland ausgeht, um dem Nato-Ziel Nachdruck zu verleihen, die Militärausgaben auf mindestens 2 Prozent der gesamtwirtschaftlichen (!) Leistung eines jeden Mitgliedsstaates hochzuschrauben. Jetzt schon geben die Nato-Staaten im Minutentakt fast 2,5 Millionen US-Dollar für den Militärsektor aus. Damit verbunden sind eine Ressourcenvernichtung und eine Zerstörung des Sozialstaates, Einsparungen auf Kosten der Gesundheit, der Bildung und der Infrastruktur und Umwelt. Und die weltweit ca. 440 Atomreaktoren bedeuten ein nicht zu verantwortendes Sicherheitsrisiko. Die Vermeidung einer Havarie ist unter Kriegsbedingungen nicht zu garantieren.
Das Primat von Diplomatie muss zentraler Eckpfeiler einer Sicherheitskonzeption sein. Zur Abwendung ökologischer Kipp-Punkte und zur Erreichung der Milleniumsziele der UNO müssen alle Staaten Europas und weltweit zusammenarbeiten. Das wäre eine Sicherheitsstrategie, die die Menschen nicht nur in unserem Land auf der existenziell kranken Erde dringend benötigen. Ohne umfassende Abrüstung und ohne ein Verbot nuklearer Arsenale wird es für das Leben auf der Erde keine Sicherheit geben.