Uns kamen die westbesoffnen Ostberliner entgegen, die zum Reichstag drängten. Dort wollten sie zu Füßen der neuen Potentaten und unterm verbalen und pyrotechnischen Feuerwerk den Untergang der DDR feiern, während wir zum Kollwitzplatz in Prenzlauer Berg strebten. Dort sollte »zurückgefeiert« und die »Autonome Republik Utopia« ausgerufen werden. Etwa dreitausend zumeist junge Menschen versammelten sich um das Kollwitz-Denkmal von Gustav Seitz, das dort seit 1961 stand, und jubelten sich gleichermaßen sarkastisch wie höhnisch in den »Tag der deutschen Gemeinheit«. Wir lagen uns am Ende heulend in den Armen, als kurz vor Mitternacht letztmalig die DDR-Hymne intoniert wurde und eine »singende Säge« ziemlich schräg das Deutschlandlied präsentierte. Pfiffe begleiteten jede platzende Rakete des Höhenfeuerwerks im Westen, das zu uns herüberleuchtete. Irgendwann gingen wir müde und traurig nach Hause mit dem Wort des PDS-Chefs im Ohr – tatsächlich, Gregor Gysi war kurz nach der Proklamation der »Autonomen Republik Utopia« auf dem Platz erschienen –, dass seine Sympathie der ARU gehöre und er künftig im Bundestag die Interessen ihrer Bewohner vertreten werde.
Daran erinnerte ich mich, wenn ich in letzter Zeit auf der B 1 Richtung Polen oder nach Neuhardenberg (vormals Marxwalde) unterwegs war. Denn in Trebnitz wies seit kurzem ein braunes Schild auf ein Gustav Seitz Museum hin, was mich insofern verwunderte, als der Bildhauer meines Wissens nie in dieser Gemeinde am Rande des Oderbruchs gewesen war. Im Gegenteil: Der Nationalpreisträger der DDR war Ende der fünfziger Jahre nach Hamburg gezogen, nachdem ihm Jahre zuvor die Hochschule für bildende Künste und die Technische Universität – beide in Westberlin gelegen – Haus- und Lehrverbot erteilt hatten, weil Seitz 1950 zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Akademie der Künste gehörte, die sich im Ostteil Berlins befand. Und er besaß auch eine Wohnung dort. Sie wie auch sein Meisteratelier für Bildhauerei aufzugeben, kam ihm nicht in den Sinn. Deshalb war ihm auch die 1953 vorgesehene Berufung an die Werkakademie Kassel verweigert worden.
Seitz lebte und arbeitete noch etwa ein Jahrzehnt in Hamburg, wo er 1969 starb. Ende der achtziger Jahre, als es die beiden Deutschländer noch gab, war auf Verfügung der Witwe der künstlerische Nachlass in eine Stiftung gegangen, die ihren Sitz in Hamburg-Blankenese hatte. Die suchte vor Jahren nach einer neuen Bleibe, zwangsweise, und irgendwie landete man tief im Osten, im Kreis Märkisch Oderland, wo der Gutshof derer von Ziethen und von Brünneck in den neunziger Jahren zu einer internationalen Bildungs- und Begegnungsstätte für Kinder und Jugendliche um- und ausgebaut worden war. International heißt: deutsch-polnisch.
Zu dem inzwischen »Campus Schloss Trebnitz« genannten weitläufigen Anwesen mit Park, Teichen und diversen Wirtschaftsgebäuden gehört auch das Alte Waschhaus, einst Jugendklub des Ortes. Im vorzüglich restaurierten Ambiente ist seit 2017 nun Kunst von Gustav Seitz zu sehen. Es ist zwar ein wenig eng auf den zwei Etagen, die Bronze- und Terracotta-Köpfe ruhen in Regalen wie früher das Eingeweckte im Keller meiner Großmutter, auch seinen voluminösen Figuren fehlt ein wenig der Raum zum Atmen und zum Betrachten, aber den haben die vielen Plastiken draußen rings um das Haus. Die mannshohen Frauenstandbilder stehen zwischen vielen lockeren Sitzgruppen auf frischem Gras. Und wenn die Sonne scheint wie bei unserem Besuch, ist es ein wunderbares Schauen und sinnliches Erleben. Es könnte kaum schöner sein.
Im Unterschied zu früheren Wanderungsbewegungen zog also die Stiftung von West nach Ost und brachte ins Gustav Seitz Museum ein, was sich im künstlerischen Nachlass fand: etwa viertausend Zeichnungen und über hundert plastische Werke sowie fast alle originalen Gipsmodelle, so dass das Haus auf Wunsch auch Repliken anfertigen lassen kann. Eine liegende Nackte, keine dreißig Zentimeter lang, kostet so um die sechstausend Euro …
Gustav Seitz saß zwischen den Stühlen im Kalten Krieg, und der Hauch des Kalten Krieges, der bekanntlich vornehmlich ein ideologischer war, zieht sich auch durch die aktuelle Ausstellung, wegen der wir uns nach Müncheberg, Ortsteil Trebnitz, aufgemacht hatten.
Das Recht auf eine eigene Meinung wird nur dem gewährt, dessen Meinung sich mit der vorgegebenen deckt. Daran hat sich augenscheinlich nichts geändert. »Soeben erfuhren wir, dass die Amis unserem Thomas Mann das Visum nach Weimar verweigert haben. Wo man hinschaut, wird nur Hass und Zwietracht gesät«, beklagte sich Seitz einmal in einem Brief über solchen Gesinnungsterror. Und erfuhr ein Berufsverbot im Westen, als er nach Pankow zog. »Hier im Osten werde ich als Bürger angesehen, als ein politisch uninteressierter Bildhauer, dem man allenfalls etwas Narrenfreiheit zugesteht, im Westen aber als Kommunist.« Und 1951 – auf dieses Jahr komme ich gleich – notierte er: »Im Osten bemühe ich mich, die Moderne durchzusetzen, im Westen bekomme ich stets eine auf den Kopf geschlagen.« Später hieß es bei ihm, man möchte im Westen, dass er mit einem politischen Knall den Osten verlasse, dann erst erhielte er die Professur – »man möchte aus mir einen Gauner machen«. Und dann, als er in den Westen ohne Aplomb gegangen war, also ohne Gauner geworden zu sein, wurde er dort von Kollegen und Kritikern ausgegrenzt, geschmäht, belächelt. Seine Kunst sei »unzeitgemäß«, die nackten, kräftigen, vorwiegend weiblichen Figuren verkörperten ein überholtes Menschenbild. Wobei es seinen Kritikern weniger um die Fleischeslust ging, die ihnen antiquiert erschien. Modern war in ihren Augen einzig das Abstrakte. Nicht etwa das Konkret-Gegenständliche. Einer von Seitz’ Meisterschülern war übrigens der 2010 verstorbene Werner Stötzer, der unweit von hier, im ehemaligen Pfarrhaus von Altlangsow, seine letzten dreißig Lebensjahre verbrachte. Dort ist er auch bestattet. (Inzwischen ist auch Stötzers Marmor-Relief »Alte Welt« an seinen ursprünglichen Platz im Berliner Marx-Engels-Forum zurückgekehrt.)
Seit Anfang April sind im Alten Waschhaus »Gustav Seitz: Studienblätter aus China (1953)« zu sehen. Die Unterzeile »Es ist die merkwürdigste Reise, die ich je gemacht habe«, weckt Neugier, sät Spannung, ist aber letztlich Tendenz, wie sich bei der Lektüre der Begleittexte bald zeigt. Oder beim Schritt in ein dunkles Separee, einer Black Box. Dort wird Seitz’ Mao-Kopf von 1951 konfrontiert mit einem Video in Endlosschleife mit den bekannten Bildern vom Platz des Himmlischen Friedens von 1989.
Im September 1951 war Gustav Seitz für sechs Wochen in die Volksrepublik China gereist. Er gehörte einer Delegation von etwa einem knappen halben Dutzend ostdeutscher Staatsbürger an – unter ihnen die international bekannte Schriftstellerin Anna Seghers, eine studierte Sinologin, und der Dichter Kurt Barthel (KuBa), beide – wie Seitz – Mitglieder der Deutschen Akademie der Künste. Die Reise hatte insofern symbolische und politische Bedeutung, als sich in der ersten Oktoberwoche die Gründung der DDR und die der Volksrepublik zum zweiten Male jährten. Beide Staaten hatten sich diplomatisch anerkannt (bekanntlich rang sich die Bundesrepublik dazu erst reichlich zwanzig Jahre später durch, nachdem die USA diesen Schritt getan und Präsident Nixon mit Mao in Beijing gesprochen hatte). Und es war ein Versuch zu ergründen, was sich hinter der Chinesischen Mauer tat. China blickte nicht nur auf eine einzigartige Kulturgeschichte von fast fünftausend Jahren zurück, sondern auch auf zweihundert Jahre kolonialer Ausbeutung und Unterdrückung. Das chinesische Volk hatte von 1931 bis 1945 gegen den faschistischen Aggressor Japan gekämpft und dabei etwa 35 Millionen Menschen verloren. Danach gab es einen vierjährigen Bürgerkrieg mit den von den USA unterstützten Kuomintang, welcher mit dem Rückzug der Truppen von Tschiang Kai-schek nach Taiwan endete. (Beim Nixon-Besuch 1972 sollte entschieden werden, dass es nur ein China gibt. Die Separatisten in Taipeh verloren ihren Platz im UN-Sicherheitsrat, gegenwärtig wird Taiwan nur noch von weniger als zwei Dutzend Staaten als eigenständiger Staat anerkannt.)
Vor diesem Hintergrund reisten also Seitz und Kollegen neugierig ins Reich der Mitte, bestaunten Kulturgüter, sprachen mit Menschen, erlebten das postkoloniale Elend, wozu auch die Tatsache gehörte, dass 80 Prozent der Chinesen weder lesen noch schreiben konnten und der Hunger allgegenwärtig war. Aber die unvoreingenommen Reisenden spürten auch den unbändigen Willen der Chinesen, sich aus dieser Not zu befreien, die Gesellschaft umzukrempeln, sich eine Zukunft zu erarbeiten. Sie sahen den Enthusiasmus, den Ehrgeiz, das Joch der Vergangenheit für immer abzuwerfen. Seitz nahm an Zusammenkünften unter freiem Himmel teil und war insbesondere von den selbstbewussten, optimistischen Frauen begeistert. Diese Eindrücke würden seine künstlerische Arbeit befruchten, war er überzeugt. Der Ertrag: Notizen und Skizzen, Fotografien, drei Tagebücher, siebzig Tuschezeichnungen auf Papier aus Reisstroh – Einiges davon ist in der Ausstellung zu sehen.
Von diesem historischen Background erfährt man wenig, wohl aber, dass mit heute gängigen Narrativen damalige Aussagen und Vorgänge überzogen werden. So mutiert die internationale Künstlertagung in Beijing zum »Geistertreffen«. Zitat aus dem Katalog: »Im Rückblick wirkt das Gruppenfoto vom 6. Oktober (1951) in Peking, auf dem neben Seitz auch Yi T’aejun, Ding Ling, Ilja Ehrenburg, Ai Qing und Pablo Neruda zu sehen sind, wie ein Geistertreffen, eine Séance, deren Medien bald in die Abgründe der Zeitgeschichte hinabgezogen werden sollten. Noch lebte Stalin, über die Verbrechen des Stalinismus zu sprechen war lebensgefährlich in der östlichen Hemisphäre …« Was für ein eurozentristischer, westlicher Quatsch! Darüber sprach man aus ganz anderen Gründen nicht. Millionen Menschen hungerten in China, da gab es gewiss andere Gesprächsthemen.
Übrigens, die Namen der erwähnten chinesischen Künstler kennen auch Sie gewiss nicht. Aber den Unwissenden wird Bescheid gegeben: Ai Qing ist der Vater von Ai Weiwei, der 1958 in den Nordwesten des Landes verbannt wurde. (In dem Kontext nicht erwähnt, weil ebenso überflüssig: Verbannt wurde auch die Familie von Xi Jinping sowie Deng Xiaoping und andere heute maßgebende Politiker.)
Seitz fügte seine Studienblätter aus China zu einem Buch zusammen, Anna Seghers steuerte das Vorwort bei. Im Dezember 1952 war das Buch durchgedruckt, aber nicht aufgebunden worden. Warum das so war: Niemand weiß es. »Es gibt die Vermutung, dass die Makulierung des Zeichnungenbuches auf Weisung der Stakuko erfolgte«, orakelte der Kurator Lutz Dittrich, womit er auf die zwischen 1951 bis 1953 bestehende Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten anspielte. »Allerdings finden sich in den Archiven diesbezüglich keine Hinweise.« Dennoch nennt das der Autor in der Ausstellung und im Katalog »Verbot«. Akademiemitglied Seitz selber monierte beim Akademiepräsidenten Johannes R. Becher, dass der Aufbau-Verlag – das war Walter Janka – die Veröffentlichung mit der Begründung abgelehnt habe, »die Zeichnungen drücken eine bestimmte Verachtung dem chinesischen Menschen gegenüber aus«. Unabhängig davon waren etliche Exemplare trotzdem aufgebunden worden, wie Seitz Ende Juni von einer Ausstellungseröffnung in Mannheim an seine Frau schrieb: »Das Chinabuch hat hier einen großen Erfolg. Jeder ist begeistert davon. Am liebsten würde ich jedem ein Exemplar schenken. Aber Du weißt, dass ich zu wenig Bücher davon habe.«
Am 10. November 1953 wurde im Aufbau-Verlag protokolliert (vielleicht auch entschieden), vier (von 35) Bildern aus dem Buch zu entfernen, bei zweien sollten »die chinesischen Signaturen entfallen«. Das Vorwort sollte so bleiben, wie es Anna Seghers abgegeben hatte, Druckauflage: 3.000 Exemplare. Bereits vier Wochen später waren die Studienblätter aus China gedruckt und gebunden und standen zur Auslieferung bereit … Zeichnungen, Fotografien und Plastiken sind in dieser wirklich sehr interessanten, viel Zeitkolorit vermittelnden Ausstellung gegenwärtig zu sehen. Allenfalls das krampfige Bemühen, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen, liefert einen faden Beigeschmack. Da ist von einem »präzedenzlosen Vorgang« und dem »letzten derartigen Zensureingriff vor dem 17. Juni 1953« die Rede – wenn diese Chiffren nicht dem Marketing dienen sollen, weisen sie zumindest auf ein sehr eingeschränktes Geschichtsverständnis hin. Auch in Trebnitz sollte man die – übrigens sehr schöne – Kirche im Dorf lassen.
»Gustav Seitz: Studienblätter aus China (1953)« im Gustav Seitz Museum in Trebnitz, bis zum 27. August, geöffnet von Mittwoch bis Sonntag zwischen 11 und 17 Uhr, Eintritt 5 €, Katalog der Gustav Seitz Stiftung 15 €.