In dem Film »Io Capitano« vom italienischen Regisseur Matteo Garrone aus dem Jahr 2023 verfolgen die Zuschauer die Geschichte von zwei senegalesischen Jugendlichen, Seydou und Moussa, die aus ihrer Heimat fliehen und versuchen, nach Europa zu kommen. Fast am Ende ihrer verzweifelten Reise kommen sie nach Libyen. Nach der Befreiung aus einem Lager steht vor ihnen die letzte Herausforderung, die Reise über das Mittelmeer. Sie haben allerdings kein Geld für die Fahrt, und wenn sie mitfahren wollen, muss einer der beiden das Boot steuern.
Die Reise und der Film enden an der Küste Italiens. Was danach kommt, bleibt offen. Sicher ist allerdings, dass etliche Migranten, die in ähnlicher Weise wie Seydou und Moussa nach Italien gekommen sind, jetzt wegen Menschenschmuggel vor Gericht stehen.
Eine ähnliche Anklage wurde 2017 gegen zehn Besatzungsmitglieder des Seenotrettungsschiffs Iuventa und ihre Betreiber-Organisationen (Jugend rettet, Ärzte ohne Grenzen und Save the Children) erhoben. Sieben Jahre hat der Prozess gedauert. Die Verteidigung der Angeklagten hat um die 800.000 Euro gekostet; der italienische Staat hat um die drei Millionen Euro in den Prozess investiert. Den Besatzungsmitgliedern drohten 20 Jahre Haft. Jetzt, endlich, endete das Verfahren mit einem Freispruch.
Die Freude nach dem Urteil ist durchaus getrübt. Das Schiff liegt verrottet im Hafen von Neapel. Wie viele Menschen hätten in den sieben Jahren damit gerettet werden können? Wie viele sind seitdem im Meer gestorben?
Alles beginnt 2017. Der Wind weht schon von rechts, Salvini und Meloni warnen lauthals vor der Invasion aus Afrika und schüren die Ängste der Italiener. Die Nationalwahlen 2018 stehen bevor, und die damalige linke Regierung von Gentiloni entscheidet sich für einen härteren Kurs in Sachen Migrationspolitik. Der ehemalige Innenminister Minniti verabschiedet also einen Verhaltenskodex für die in Seenotrettung involvierten NGOs, der ihre Arbeit stark einschränken würde. Iuventa weigert sich, den Kodex zu unterzeichnen, und das Schiff wird beschlagnahmt.
Drei ehemalige Polizisten, die für eine private Sicherheitsfirma auf dem Schiff arbeiten, berichten der Polizei von verdächtigen Seenotrettungsaktionen der Besatzungsmitglieder. Die Polizei geht dem Verdacht nach und wirft der Besatzung in ihrem Ermittlungsbericht vor, mit Schleppern kooperiert und wenige Kilometer vor der nordafrikanischen Küste gezielt Migranten aus Schlepperbooten übernommen zu haben – ohne, dass Seenot vorlag.
Der Iuventa-Prozess beginnt – ein medialer Prozess, der von einer Verleumdungskampagne gegen NGOs begleitet wird, an denen sich fast alle wichtigen Medien beteiligen. Gleichzeitig wird vom Innenministerium ein Deal mit Libyen vereinbart, der das Land verpflichtet, Migranten und Asylsuchende von der Überfahrt abzuhalten. Die libysche Küstenwache wird mit EU-Geldern aufgerüstet und mit Seenotrettungsaufgaben beauftragt. Die Arbeit der NGOs wird mehrfach erschwert. Schiffe werden beschlagnahmt, aus Verwaltungsgründen in den Häfen festgehalten und vom Mittelmeer ferngehalten, sie werden mit Geldbußen bestraft, es wird sogar auf sie geschossen, wie es vor kurzem dem Schiff Mare Jonio passiert ist.
Nach nunmehr sieben Jahren musste die Staatsanwaltschaft jetzt einräumen, dass die Aktionen der NGO-Aktivisten kein Verbrechen darstellen. Das entsprechende Urteil des Richters: Freispruch wegen Fehlens eines Tatbestandes. Es brauchte also sieben Jahre, um festzustellen, dass die Anklage auf einer Ansammlung an Lügen bestand.
Die Nachricht ging kurz durch alle Medien, sorgte aber für keine große Aufregung. Dieselben liberalen Medien, die 2017 Iuventa und die anderen Menschenrechtsorganisationen noch gekreuzigt hatten, jubeln nun über den Freispruch der Aktivisten. Politiker und Journalisten, die dem rechten Lager zuzurechnen sind, schrecken allerdings weiterhin nicht davor zurück, die Seenotrettungsaktionen der NGOs als Menschenschmuggel zu besudeln. Sie rechnen wohl damit, dass der Iuventa-Prozess und sein Ausgang bald vergessen sein werden.