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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Sechzehn außergewöhnliche Berliner Porträts

Für den Ber­li­ner Jour­na­li­sten Bernd Oert­wig »wach­sen aus den Stei­nen der Stadt Geschich­ten«. Sie erzäh­len von mensch­li­chen Schick­sa­len. Wenn Oert­wig die Neu­gier­de durch die Stadt treibt, stol­pert er bei sei­nen Spa­zier­gän­gen gera­de­zu über Gedenk- oder Grab­stei­ne, die ihm eine Geschich­te erzäh­len. Oft gehen die­se Geschich­ten dann lan­ge mit ihm spa­zie­ren, bis ihre Zeit gekom­men ist, sie niederzuschreiben.

In sei­nem Buch »Berühm­te Tote leben ewig« por­trä­tiert Oert­wig sech­zehn Frau­en und Män­ner, die in Ber­lin leb­ten und auf nicht ganz gewöhn­li­che Wei­se star­ben. Den Auf­takt macht Ani­ta Ber­ger, die wohl »wil­de­ste Frau der Wei­ma­rer Repu­blik«. Die Tän­ze­rin, die in Bars und Nacht­lo­ka­len auf­tritt, ist Sinn­bild des weib­li­chen Bohe­mi­ens der 1920er Jah­re. Mit­un­ter springt sie wütend ins Publi­kum, das nur auf ihre Nackt­heit glotzt, wäh­rend sie mit ihrem Tanz ern­ste The­men anspre­chen will. 1927 unter­nimmt sie mit ihrem Ehe­mann eine Tour­nee durch den Nahen Osten, die sie nach einem Jahr abbre­chen muss. Vier schlim­me Mona­te quält sich Ani­ta zurück und stirbt am 10. Novem­ber 1928 in Berlin.

Die zwei­te Geschich­te, »Lie­be über den Tod hin­aus«, erzählt von einer außer­ge­wöhn­li­chen Ver­bun­den­heit. Als der Kunst­händ­ler Gaspa­re Weiß 1805 sei­ne heiß­ge­lieb­te Frau Antoi­net­te nach sechs Ehe­jah­ren ver­liert, kauft er ihre Grab­stel­le auf dem klei­nen katho­li­schen Fried­hof an der Chaus­see­stra­ße für hun­dert Jah­re. Eine klei­ne Ewig­keit. Doch Ber­lin wächst im 19. Jahr­hun­dert unauf­hör­lich, Bau­land ist gefragt. Auf dem Fried­hofs­ge­län­de sie­delt sich unter ande­rem ein Drosch­ken­un­ter­neh­men an. Doch Ver­trag ist Ver­trag. So ent­steht buch­stäb­lich um das Grab her­um eine Musi­ka­li­en­hand­lung, mit­ten in der Lese­hal­le der Grab­stein, der täg­lich von einer grei­sen Enke­lin auf­ge­sucht wird. Nach der Lie­ge­frist wird der Grab­stein nach Rei­nicken­dorf umge­setzt, doch seit Sep­tem­ber 2007 steht er fast wie­der dort, wo er frü­her stand.

August 1889: Ber­lin erwar­tet »aller­höch­sten Besuch«. Kai­ser Wil­helm II. hat den öster­rei­chi­schen Kai­ser Franz Joseph I. für vier Tage ein­ge­la­den. Als die bei­den Mon­ar­chen eine Trup­pen­übung besu­chen, zieht ein Gewit­ter auf, und der 20-jäh­ri­ge Gefrei­te Fritz Will wird vom Blitz erschla­gen. Ob die kai­ser­li­chen Hohei­ten von dem Unglück Notiz genom­men haben, ist nicht über­lie­fert. Noch heu­te erin­nert ein Gedenk­stein in der John-Foster-Dul­les-Allee im Ber­li­ner Tier­gar­ten an den jun­gen Sol­da­ten. Dage­gen berich­tet ein Kreuz direkt neben einer Ber­li­ner Auto­bahn (frü­her Kurt-Schu­ma­cher-Damm) von dem ehe­ma­li­gen Gene­ral­po­li­zei­di­rek­tor Karl Lud­wig von Hin­ckel­dey (1805-1856). Fried­rich Wil­helm IV. ver­traut dem ehr­gei­zi­gen und rück­sichts­lo­sen Hin­ckel­dey; doch als die­ser sei­nen König drin­gend braucht, hat der Regent tau­be Ohren. Nach einer Raz­zia in einer der edel­sten Ber­li­ner Spiel­hal­len wird Hin­ckel­dey von dem Club-Besit­zer Hans von Rochow als Lüg­ner beschimpft – es kommt zum Duell. Ein Wort des Königs hät­te genügt, den gesetz­wid­ri­gen Zwei­kampf zu ver­bie­ten. Aber Ihre Maje­stät schweigt. Am 10. März 1856 wird Hin­ckel­dey, der »uff zwölf Schrit­te keen Scheu­nen­tor« tref­fen kann, töd­lich getrof­fen. Dar­auf­hin macht in Ber­lin das Gerücht vom poli­ti­schen Mord die Runde.

Neben die­sen eher unbe­kann­ten Ber­li­nern ist Oert­wig auch auf den Spu­ren von Ber­li­nern, deren Name noch heu­te in aller Mun­de ist. Wie Bubi Scholz, der in den 1950er und 1960er Jah­ren unbe­strit­ten die Num­mer eins im deut­schen Box-Geschäft ist. Nach einer Tuber­ku­lo­se­er­kran­kung scheint sei­ne Kar­rie­re been­det zu sein, aber nach zwei Jah­ren steht er wie­der im Ring. Doch Alko­hol und die Dro­ge Popu­la­ri­tät hin­ter­las­sen ihre Spu­ren. Alko­hol ist auch im Spiel, als er im Juli 1984 sei­ne Frau Hel­ga erschießt. Wegen fahr­läs­si­ger Tötung wird er zu drei Jah­ren Gefäng­nis ver­ur­teilt. Obwohl er 1993 noch ein­mal hei­ra­tet, er ist ein geschla­ge­ner Mann. Meh­re­re Schlag­an­fäl­le, Alters­de­menz – Bubi Scholz stirbt am 21. August 2000.

Der welt­be­rühm­te Foto­graf Hel­mut New­ton ein Ber­li­ner? Natür­lich: als Hel­mut Neu­städ­ter 1920 in Ber­lin gebo­ren. Eine Gedenk­ta­fel am Geburts­haus in Ber­lin-Schö­ne­berg erin­nert dar­an. Ende 1938 flüch­tet er vor den Nazis nach Sin­ga­pur, spä­ter nach Austra­li­en. In den 1970er Jah­ren wird New­ton einer der begehr­te­sten und höchst­do­tier­ten Mode-, Wer­be-, Por­trät- und Akt­fo­to­gra­fen der Welt. Er stirbt 2004 bei einem Auto­un­fall in Los Ange­les, doch bei­gesetzt wird er in sei­ner Geburts­stadt auf dem Fried­hof Stubenrauchstraße.

Dann wird es mit Mel­li Bee­se und Rena­te Mül­ler noch ein­mal weib­lich. Eigent­lich will Ame­lie Hed­wig Bee­se Bild­haue­rin wer­den, bis sie der Traum vom Flie­gen packt. Wenig spä­ter wird sie als erste Frau in Deutsch­land den Pri­vat­pi­lo­ten­schein erwer­ben. In den fol­gen­den Jah­ren stellt sie eini­ge Frau­en­flug­re­kor­de auf und grün­det die Flug­schu­le Mel­li Bee­se GmbH. Nach dem Kriegs­en­de der schwie­ri­ge Neu­an­fang, und der Lor­beer ist ver­blasst. Als sie ihre Flug­li­zenz erneu­ern muss, endet das mit einer Bruch­lan­dung. Am 21. Dezem­ber 1925 erschießt sich Mel­li Bee­se in ihrer Woh­nung. Neben ihr fin­det man einen Zet­tel: »Flie­gen ist not­wen­dig. Leben nicht.«

An einem Sep­tem­ber­tag im Jahr 1937 wird eine Frau bewusst­los auf ihrer Gar­ten­ter­ras­se gefun­den. Es ist Rena­te Mül­ler, der Star des deut­schen Films in den 1930er Jah­ren. Sie stirbt zwei Wochen spä­ter an ihren schwe­ren Ver­let­zun­gen. Unfall oder Selbst­mord? Was folgt, sind Mut­ma­ßun­gen. Wur­de sie von der Gesta­po ver­folgt, schließ­lich hat­te sie eine Bezie­hung zu einem jüdi­schen Ban­kiers­sohn. Alle geplan­ten Fil­me wer­den mit ande­ren Schau­spie­lern besetzt. Blieb ihr nur der eine Ausweg?

Über den sech­zehn unter­halt­sa­men Por­träts schwebt das Mot­to: Ein auf­se­hen­er­re­gen­der Tod oder skur­ri­le Vor­fäl­le mit den sterb­li­chen Über­re­sten oder dem Grab­stein sind die hal­be Mie­te für die Ewigkeit.

Bernd Oert­wig: »Berühm­te Tote leben ewig – Ber­li­ner Schick­sa­le«, Ver­lag für Ber­lin-Bran­den­burg, 304 Sei­ten, 19,90 €